Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Trinitatis, 22.05.2016

Predigt zu Römer 11:33-36, verfasst von Ulrich Wiesjahn

Liebe Gemeinde!

 

Am Sonntag der Heiligen Dreifaltigkeit haben wir es mit einem göttlichen Geheimnis zu tun, nämlich mit der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Wer sich damit genauer beschäftigt, dem erschließt es sich als durchaus natürlich. Goethe sprach gern von einem „offenbaren Geheimnis“ und meinte damit, dass wir umgeben sind von lauter Tatsachen, die zugleich ganz verständlich und doch ganz geheimnisvoll sind. Und dazu gehört nun auch die Dreifaltigkeit des Lebens überhaupt.

Nun beschert uns der Predigtabschnitt für den heutigen Gottesdienst ein anderes Geheimnis, nämlich die Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum, zweier verschiedener Religionsweisen, deren Wege immer wieder auseinanderlaufen. Und da sehen wir jetzt dem Apostel Paulus zu, der in beide Welten gehört, sich aber losgerissen hat aus der alten und der neuen hinterherläuft. Drei riesig lange und hoch komplizierte Kapitel widmet er diesem Thema in seinem Brief an die römische Gemeinde, ehe er in einen aufseufzenden Jubelruf ausbricht: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“

Ehe ich mich diesem Stoßseufzer noch einmal zuwende, will ich nach Beispielen suchen, die mir die Kompliziertheit des Lebens und des Glaubens vor Augen führen. Wie ist das mit der Abstammung, ist sie eine Freude oder eine Last? Waren meine Vorfahren Demokraten oder Kaisertreue oder gar Nazis? Was verbindet mich mit ihnen, wenn ich doch ganz anders denke? Wie auch immer – ich gehöre schicksalhaft zu ihnen. Doch zugleich muss ich ein eigenes Profil gewinnen und zu mir selbst hin leben.

Ein noch näheres Beispiel ist das Verhältnis von Vater und Sohn oder von Mutter und Tochter. Was ist darin gleich oder bloß ähnlich oder ganz gegensätzlich? Da ist alles miteinander verquickt – und dann doch hoffentlich für jeden eigenständig. Das ist dann übrigens die große Aufgabe der Pubertät, die oft so quälend und zugleich so notwendig ist.

Was nun für unseren persönlichen Erfahrungsbereich gilt, das gilt ja auch für den religiösen, den gottbezogenen Bereich. Und dafür ist Paulus das Paradebeispiel. Der einst überfromme Jude wurde durch ein Erlebnis zu einem, so muss man schon sagen, überfrommen Christen. In der Apostelgeschichte (Kapitel 9) wird beschrieben, wie eine Lichtblendung und die sanfte Stimme Jesu vom Himmel den Wüterich zu Boden warf, innehalten ließ und bekehrte.

Und nun war sie da, die brisante und bis heute ungeklärte Frage: Was hat das Christentum mit dem Judentum zu tun? Für manche ist das bloß eine äußerliche Frage, die dann die Historiker beantworten. Doch für Paulus war es natürlich eine ganz innerliche Frage, eine nach der Erkenntnis Gottes und seiner Wahrheit und Autorität. Für die meisten von uns, die wir aus Tradition Christen sind, könnte diese Frage nicht so drängend sein, wenn wir Deutschen uns nicht so höllisch tief am Judentum versündigt hätten. Und darüber haben wir, so muss man laut weinend sagen, das eigene Christentum verleugnet und verloren. Wir sind durch unsere Schuld an Israel gebunden. Das ist eine sehr eigenartige Erkenntnis.

Bei Paulus war das noch nicht so. Damals litten ja eher die Christen unter den Juden. Für die meisten gab es diese unmittelbare Nähe und Verwandtschaft zweier Religionsweisen, die sich sowohl trennten als auch irgendwie zusammengehörten. Alle ersten Christen waren geborene Juden. Und alle haben sich mehr oder weniger stark davon losgerissen, Paulus vielleicht am vehementesten, weil er persönlich die Stimme Jesu gehört hatte. Alle haben das Neue für höher gehalten als das Alte. Und das Neue trug für sie die Namen Gnade, Hoffnung und Liebe. Darin war für sie die Auferstehung von den Toten sichtbar, fühlbar, erkennbar. Das war die Erlösung, die Befreiung von einem eisernen Gesetz. Es war die Entdeckung, dass der Buchstabe tötet, aber der Heilige Geist lebendig macht. Im Philipperbrief (3,8) schreibt Paulus sehr drastisch: „Ich erachte noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“

Und doch wird man seinen Stammbaum niemals los. Und es gehört zur geistigen Größe des Apostels Paulus, dass er seine Gedanken nun doch der Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum widmet. Zugegeben, er muss sich winden und quälen, stöhnen und seufzen, denn die Zerreißprobe findet ganz in ihm selbst statt. Und nun erfindet er ein Beispiel, in welchem er das Judentum mit einem uralten edlen Olivenbaum vergleicht, in den die Zweige eines Wildlings eingepfropft worden sind. Die götzenreichen Heiden bekommen nun vom alten Ölbaum den edlen Saft.

Doch dann schlägt dieser Gedanke wieder um, weil ja auch der alte Ölbaum Jesus, den Herrn und Heiland, abstößt. Und so äußert Paulus den Römern (11,13-14) gegenüber folgende Hoffnung: „Weil ich Apostel der Heiden bin, preise ich mein Amt, ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten könnte.“ Und so kommt er in seinen theologischen Gedanken in eine fast unentwirrbare Situation. Da gilt einmal Entweder-Oder und dann Sowohl-als-Auch. Das Leben ist ein großer Zusammenhang und dann notwendigerweise eine persönliche Entscheidung. Man muss immer das Ganze sehen und zugleich immer das Einzelne. Jedes Leben ist in solche Zerreißproben hineingestellt. Das sind, im Jargon gesagt, die berühmt-berüchtigten „Beziehungskisten“, die jeder in seiner nächsten Umgebung manchmal schaudernd erlebt. Denken Sie nur an die Scheidungsgeschichten der Ihnen lieb gewordenen Personen.

Gibt es nun auch für uns im geistlichen und religiösen Bereich solche Zerreißproben? Für manche Menschen entstehen sie über dem Unheil in der Welt, über der Bestialität von Menschen und der ungerechten Verhältnisse. „Wo bleibt Gott?“, seufzen sie. Andere geraten in die Krise bei eigenen Verlusten, bei Treulosigkeit oder bei schwerem Sterben. „Ist nicht alles sinnlos?“, rufen sie aus.

Glaube, so müssen wir wohl alle lernen, ist die Anerkennung, dass die Lösung nicht bei uns liegt. Glaube ist das Annehmen von Licht und Schatten. Glaube ist die Hoffnung, dass hinter unserem Horizont noch eine Welt existiert, die wir das Reich Gottes nennen. Glaube ist die Erfahrung, dass die Unruhe unseres Herzens ein Weg zu Gott ist und nicht einer von ihm fort.

Wer das so sehen kann, der kann dann auch in den aufseufzenden Jubel des Apostels Paulus am Ende seiner schwierigen und schmerzlichen Gedanken einstimmen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!

A m e n.“

 

 



Ulrich Wiesjahn

E-Mail: ulrich.wiesjahn@web.de

(zurück zum Seitenanfang)