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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Trinitatis, 22.05.2016

Eine neue Zeit
Predigt zu Römer 11:(32) 3-36 , verfasst von Reiner Kalmbach

Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

Nun liegen sie hinter uns, die grossen Feiertage: Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Pfingsten. Einst hatten mich diese „Feste“ aus der Kirche getrieben, damals, als ich noch jung war, mein Geist kämpferisch und von einer gerechteren Welt träumend. In der Kirche, in den Gottesdiensten, anstatt den Nazarener Jesus und seiner Lehre von der bedingungslosen Liebe, fand ich Traditionen, Gewohnheiten, wirklichkeitsfremde Predigten und oft genug trafen mich vernichtende Blicke einiger Gemeindeglieder, wenn ich am Sonntagmorgen mit meinem Motorrad, Lederjacke und langen Haaren auf dem Hof unserer kleinen Dorfkirche einfuhr. All das liegt lange zurück. Und jedes mal wenn ich in Deutschland bin, stehe ich mit Freude und Dankbarkeit auf der Kanzel dieser uralten Kirche, um den Menschen die Botschaft jenes Gottes nahe zu bringen, der für mein Leben so wichtig geworden ist. Und ja, gerade die grossen Feiertage bedeuten mir heute sehr viel und es ist schon merkwürdig, dass ich, nach vielen Jahren, an einem Pfingstsonntag den Weg zurück zu „meiner“ Kirche fand. Schuld daran hat eine alte Frau: sie stand neben mir, an der „Front“, gegenüber eine lange Kette berittener Polizisten. Die Stimmung war aufgeheizt, ein Funke hätte genügt, um eine Panik auszulösen. Die Pferde waren kaum im Zaum zu halten. Ich sehe sie noch in meinen Gedanken, diese kleine Frau, mit den schneeweissen Haaren und dem freundlichen Gesicht. In der einen Hand hielt sie ein altes und schönes Holzkreuz, in der anderen, einen Blumenstrauss. Plötzlich löste sie sich aus unserer Reihe und ging langsam auf einen der Polizisten zu. Sie lächelte ihn an und reichte ihm den Blumenstrauss und sagte: „du könntest mein Sohn sein, aber der liegt irgendwo in der Steppe Sibiriens...“ Und andere, fast alles ältere Menschen, taten es ihr nach, Blumen wurden überreicht und die Spannung war weg, sie hatte sich in Luft aufgelöst.

Meine Angst (ich bin alles andere als mutig) wich einer grossen Erleichterung und ich ertappte mich dabei, wie ich ein Dankgebet gen Himmel schickte. Damals erkannte ich, dass der Friede Gottes in dieser Welt tatsächlich Wirklichkeit ist.

Und wenn dieser Friede möglich ist, dann heisst das doch, dass Gott in der Welt wirkt, in den Menschen, durch sie, mit ihnen. Meine „Demoerfahrung“ war für mich eine Art „Aha-Erlebnis“, um es etwas feiner auszudrücken: ich konnte, angesichts des Mutes der Frau, der Liebe die sie ausstrahlte, nur staunen.

Und darum soll es heute gehen: der Apostel Paulus, wohl einer der grössten Theologen aller Zeiten, der unermüdlich versucht den ersten Christen in ihren Gemeinden die Essenz des Evangeliums nahezubringen, hält plötzlich inne..., es ist, als ob er, völlig erschöpft und nach langem Aufstieg auf dem Berggipfel ankommt, sich aufrichtet und endlich mit einem Blick all das schauen darf, was er die ganze Zeit predigt: die Herrlichkeit der Werke Gottes.

 

Textlesung: Römer 11, 32 – 36

Eine neue Zeit

„Ich glaube“... an die Präsenz Gottes in dieser Welt und ihrer Geschichte, in unserer Geschichte, in meiner persönlichen Geschichte. Daran hege ich keinerlei Zweifel mehr, jetzt, nach den „Feiertagen“. Sie geben Zeugnis von der Begegnung Gottes mit den Menschen, von seinem „sich hineingeben“ in unsere Wirklichkeit. Was bedeutet diese Gewissheit für mich?, welche Auswirkungen hat dies auf mein Leben?, finde ich eine Antwort darauf im Handeln der alten Frau, ihrem Mut?

Aus der Bibel kennen wir viele Begegnungsgeschichten. Begegnungen des Menschen mit Gott. Da ist die Geschichte des Jakob und der Himmelsleiter, die Berufung des Propheten Jesaia ( die wir in der Lesung hörten), Moses und der brennende Dornbusch, Paulus auf dem Weg nach Damaskus, die vielen Menschen die Jesus begegneten..., arme, reiche, kranke Leute, Kinder, Frauen, Alte. Eines haben diese Erzählungen alle gemeinsam: diese Menschen erfahren ein vorher und ein nachher in ihrem Leben. Die Begegnung mit Gott ist ein tiefer Einschnitt.  Die einen erschrecken angesichts dieser Erfahrung, die anderen schäumen über vor Glück und Freude. Und dann gibt es diejenigen die einfach nur staunen, denen die Worte fehlen. Und dann beginnt eine neue Zeit, etwas hat sich verändert im Leben eines Menschen.

„Ich glaube...“, dass Gott der Schöpfer dieser Welt ist. Es gibt nichts das nicht seinen Ursprung in seinem Willen hätte, also auch ich und mein bescheidenes Leben. Alles was ich sehe, berühre, höre, das Sichtbare und Unsichtbare, das Endliche und das Unendliche, hat mit ihm zu tun. „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge...“

„Ich glaube...“, dass Gott mich nicht nur geschaffen hat, sondern auch weiterhin, an mir und in mir, am „Werk“ ist. Er setzt mich nicht in die kalte und dunkle Welt, um mich dann alleine zu lassen, so nach dem Motto „friss, Vogel, oder stirb!“, sondern ich bin sein Geschöpf, oder um es verständlicher auszudrücken: ich bin sein Kind und er ist mein Vater.

Mit dieser Gewissheit komme ich von Pfingsten her, und von Ostern, und von Karfreitag..., und habe es zum ersten Mal gespürt als das Weihnachtsevangelium mein Herz erwärmte. Das alles steckt in meinem Wanderrucksack, er ist damit reichlich gefüllt, Proviant für einen langen Weg.

 

...in und für mein Leben

eigentlich bin ich ein „Reisepfarrer“, wie sie früher, vor vielen Jahrzehnten durch dieses riesige Argentinien reisten, ihre Schäfchen auf den weit abgelegenen Höfen und Ortschaften besuchten. Manche sahen ihren Pfarrer nur ein Mal im Jahr. Aber stets wurde daraus ein Fest für Leib und Seele. Natürlich darf ich mich nicht mit diesen Pionieren vergleichen, die meist auf dem Rücken eines Pferdes, zu Fuss, oder auf der Ladefläche eines LKW unterwegs waren. Aber mein Gemeindegebiet umfasst immerhin die Fläche mehrerer Bundesländer.

Viele Stunden fahre ich durch die wunderschöne Bergwelt der patagonischen Anden. Obwohl ich dieselbe Strecke immer und immer wieder befahre, muss ich doch ab und zu anhalten und die Landschaft, den Ausblick auf herrliche Seen, das Tosen eines Wasserfalls geniessen. Gerade jetzt im Herbst, nebelverhangen, hier und dort durchbrochen von der Sonne, glaube ich mich in eine fremde Welt versetzt. All die Farben, keines Künstlers Hand wäre dazu in der Lage, die absolute Stille, bin ich alleine auf der Welt?

Dann fahre ich weiter, mit einem Gefühl der Dankbarkeit, einer Freude die mich, wenigstens für eine Weile, entrückt, die dunklen Gedanken und Sorgen vergessend. Die nächste Kurve, ich weiss es ja schon!, ich kenne die Strasse..., und trotzdem spüre ich immer wieder eine Art Überraschung. Nach der Kurve beginnt eine lange Gerade, die sich weit in der Ferne am Horizont verliert: vor mir liegt die patagonische Steppe. Mit Trinitatis schaue ich auf eine Ebene, mein Auge kann sie nicht erfassen, so weit ist sie: herrlich!

Erst einmal rechts anhalten, aussteigen, denken und sagen geschehen in einem Augenaufschlag: „Gott, ist das schön!“

Schon manch eine Predigt entstand während solcher Fahrten.

Ja, heute beginnt diese lange Gerade. Sie ist eine Zeit die uns einlädt, über all das nachzudenken, was wir in unserem Rucksack dabei haben. Was heisst das, den Glauben leben, im täglichen Leben?

Was mir einst in der Jugend passiert ist, die Ausgrenzung „...du gehörst nicht dazu..!“, schwingt auch bei Paulus mit. Da geht es um die Frage, ob die Juden etwa aus der Erwählung Gottes herausgefallen sind, oder ob sie noch „dazu“ gehören (schliesslich wollen diese Dickköpfe unseren Jesus nicht anerkennen...). Ausgrenzen, abgrenzen, unterscheiden, das sind alles menschliche Reaktionen. In anderen Worten, wir wollen entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Das ist so in der Kirche und so handeln wir auch in der Gesellschaft. Wir spielen halt gerne Richter. Die Folgen sind überall sichtbar, spürbar: Diskriminierung, Hass, Gewalt, Armut..., und was in unserem eigenen Umfeld geschieht, können wir auf die ganze Welt übertragen. Der grösste Teil der Menschheit muss „draussen“ bleiben, damit eine Minderheit ihre Privilegien nicht verliert. Dabei fehlt es uns natürlich nicht an „guten“ Argumenten, die dieses System rechtfertigen.

Wie befreiend ist dagegen das Wort des Apostels, sein Lobpreis auf die allumfassende Herrlichkeit Gottes! Gott stellt uns alle auf die gleiche Ebene, da ist niemand der sich seiner Taten, seines Glaubens rühmen könnte. Wie banal, wie verlogen, wie grausam erscheinen dagegen unsere Argumente, unsere Rechtfertigungen! Paulus steckt den Finger in die Wunde und bringt uns alle zum schweigen...

Wir sind alle auf die Gnade Gottes angewiesen.

Trinitatis beginnt mit dem ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube...“ an den Schöpfergott, den Vater aller Menschen, ich glaube, dass seine Liebe alle Menschen einschliesst, nicht einen einzigen Menschen ausschliesst. Ich glaube, dass dieser Gott, unser aller Vater, mir und uns diese Liebe schenkt, damit wir es ihm gleichtun. Die alte Frau auf der Friedensdemo 1981 hatte es verstanden.

Amen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Pfarrer Reiner Kalmbach
8370 San Martin de los Andes, Patagonien –Argentinien-
E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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