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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Trinitatis, 05.06.2016

Wer nicht mein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.
Predigt zu Lukas 14:25-35(dänische Perikopenordnung), verfasst von Rasmus Nøjgaard

Die Worte Jesu, dass man nicht nur seine Kinder, seinen Ehepartner, seine Eltern und Geschwister verlassen soll, sondern sie geradezu hassen soll, muss den meisten auffallen. Zudem wenn Jesus auch den großen Scharen, die ihm folgen, gebietet, auch sich selbst zu hassen. Aber wie immer muss man die Worte Jesu in ihrem Zusammenhang lesen. Da geht es vor allem darum, zu hören und sich nicht durch Bequemlichkeit und Suche nach Geborgenheit ablenken zu lassen. Das ist ein radikaler Ruf an Erwachsene und Junge, an alle Menschen, das alte Gesetz zu verlassen und dem neuen Gesetz zu folgen. Das Neue besteht hier darin, das Kreuz Jesu auf sich zu nehmen, und es kann sehr wohl sein, dass sich für einen die Lage ändern wird. Wie ein König, der einen Kompromiss eingehen muss, wenn er sich einer Übermacht gegenüber sieht. Für uns ist die Übermacht Gott allein, und mit seinem Gebot müssen wir uns arrangieren, so dass sich unsere Lage ändert, wenn wir uns dem neuen Gesetz unterwerfen. Was dieses neue Gesetz besagt, sagt dieser Abschnitt des Evangeliums nicht, aber das tun dafür die unmittelbar folgenden Abschnitte im Lukasevangelium. Hier wir die Botschaft der Nachfolge durch drei zentrale Erzählungen darüber konkretisiert, wie sich das neue Gesetz in dem Leben realisiert, das wir mit einander zu leben haben: Das verlorene Schaf, wo der Hirte alles verlässt, um allein das eine verlorene Schaf zu finden. Der verlorene Groschen, wo alle alles liegen lassen, um diese eine Münze zu finden, da sie für alle da ist. Und der verlorene Sohn, der fremd und verloren nach Hause kommt, aber mit Vergebung und freudig aufgenommen wird - ohne irgendeine Form von Gesinnungskontrolle. Der Imperativ ist ungewöhnlich stark hier bei Lukas zusammengestellt: Erst die Radikalität, die darin liegt, die eigene Sicherheit und Geborgenheit aufzugeben, unsere Selbstsucht, um dann den Verlorenen, den Verschwundenen und den Fremden, aber Heimgekehrten als unseren Nächsten zu sehen.

Es geht mit anderen Worten auch darum, sich von dem freizumachen, was uns daran hindert, diese Botschaft zu hören, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, die uns gefangen hält. Als Francis Fukuyama sein epochales Essay ‚The End of History‘ 1989 veröffentlichte, wurde der Verfall der großen ideologischen Bauwerke fast prophetisch durch den Fall der Mauer kurz danach bestätigt. Dieser Verfall, der zunächst die totalitären Ideologien traf, hat sich seit dem fortgesetzt auch in den demokratischen Ideologien mit der europäischen Union als einem schlagenden Beispiel. Auch wenn viele versucht haben, die Aussagen von Fukuyama zu relativieren und von der Wiederkehr der Geschichte reden, so bestätigt der weitere Verfall Europas die Aussage. Die demokratische Ideologie mit der Vorstellung eines europäischen Humanismus mit einem dauerhaften politischen Druck auf die kommunistischen Länder, ist nun selbst in Auflösung begriffen. Die ideologische Auflösung eines vereinigten Europa ist im vollen Gange.

Auch 1989 konnte Fukuyama dafür kritisiert werden, dass er den Zusammenbruch der großen Erzählungen zugunsten einer spätmodernen fragmentierten individualistischen Perspektive aufgegeben habe. Es gibt keine Autoritäten mehr, denn ich bestimme selbst, was ich will, und die Informationstechnologie begünstigt den Eindruck, dass alles gleich gültig ist, denn alle Aussagen finden sich im Netz. Auch wenn die Kritik an den Quellen so notwendig ist wie nie zuvor, so ist sie in der dänischen Geschichte so angefochten wie nie zuvor. Das kann man deutlich daran sehen, dass in allen klassischen geisteswissenschaftlichen Institutionen in Dänemark gespart wird, noch nie gab es so wenige und kleine Institutionen und so wenige wissenschaftliche Mitarbeiter für die Forschung. Ein Theologe braucht nicht mehr die sprachlichen Voraussetzungen der theologischen Wissenschaften in Hebräisch, Griechisch und Lateinisch zu beherrschen, um quellenkritisch zu arbeiten, er bedarf nur einer kleinen Einführung, und er braucht auch nicht mehr die modernen Grundsprachen Deutsch, Französisch und Englisch zu beherrschen. 2015 wurde vorgeschlagen, einige der antiken Sprachen ganz zu streichen. Die Abwicklung geschah schrittweise, aber überraschenderweise seit 1989 in einem schnelleren Tempo. Es ist mit anderen Worten leichter, sein historisches Recht zu behaupten, sei es die Vorstellung einer einst gut funktionierenden nationalen und sprachlichen Gemeinschaft, so als hätte der Holocaust nie stattgefunden. Für beide Aussagen und ihr Gegenteil wird vielerorts im Netz argumentiert. Sichere Autoritäten sind kaum in Sicht, und das resultiert in der allgemeinen Skepsis, ob nun Politiker und Autoren die Wahrheit sagen, wenn sie auf Daten und historische Ereignisse verweisen.

Ehe wir uns allzu sehr in Rührseligkeit ergehen: Schon Cicero warf seiner Zeit moralischen Verfall vor und warnte davor, dass die Regierungsform des Volkes dem Verfall preisgegeben werde, wenn man nicht die Kräfte energisch bekämpfe, die das römische Gesetz umgehen wollten, personifiziert in Catilina, dann exemplarisch vertreten durch Cicero selbst, als er von seinen Gegnern hingerichtet wurde, und seine Hände und sein Kopf abgehauen wurden und auf der Rednertribüne der Rostra auf dem Forum Romanum zur Mahnung und Abschreckung aufgestellt wurde: O tempora, o mores – was für Zeiten, was für Sitten! (Cicero, In Catelinam).

Und ehe wir glauben, dass alles Schuld der Jugend und des spätmodernen Individualismus ist, sollte man an die Worte denken, die fälschlicherweise Sokrates zugeschrieben werden, die aber von Philologen eher dem ebenso bekannten Dichter Aristophanes zugeschrieben werden, vielleicht in der Komödie Die Wolken: Die heutige Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Menschen und redet, wenn sie arbeiten soll. Die Jungen erheben sich nicht mehr, wenn Ältere den Raum betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, sie schreien in Gelagen, verschlingen den Nachtisch, legen die Beine über Kreuz und tyrannisieren die Lehrer.

Man könnte glauben, dies sei ein Zitat aus dem satirischen Roman von Leif Panduro aus dem Jahre 1958: Rend mig i Traditionerne (deutsch etwa: Scheiß auf die Traditionen), über den jungen Gymnasiasten, der sich nicht den Autoritäten, Normen und Regeln der Zeit anpassen kann und will. Aber das Zitat stammt aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Jede Generation ist zu jeder Zeit begrenzt durch die Arena, die die Eltern und die Gesellschaft etabliert haben und die natürlich der Kritik ausgesetzt ist. Für die Älteren werden ihre Zeit und ihre Anliegen stets richtig und gut sein, während der Verfall der Jugend eklatant ist. Und die Jugend wird stets über die alte Generation lachen und meinen, sie lebe selbst wahrer und hellsichtiger.

Wir leben in einer Welt, die noch nie so offen war und wo sich die Menschen noch nie so ähnlich waren, ganz gleich in welchem Kontinent wir uns befinden. Wir sind dabei, die europäische Gemeinschaft abzuwickeln, die einen großen Teil unserer Welten vor großen Konflikten bewahrt hat, und stattdessen bevorzugen wir kleine ethnisch geschlossene Nationalstaaten. In meinen Augen wendet sich das Evangelium dieses Sonntags direkt gegen solche geschlossenen nationalen Gesellschaften. Nicht weil kleine Staaten nicht funktionieren können, sondern weil sie die Tendenz haben, sich abzuschotten, die eigenen Möglichkeiten als selbstverständliche Rechte zu beschützen. Die Alternative tut weh: Teilen, Souveränität und wirtschaftliche Privilegien abgeben, das ist wie das Kreuz Christi für die Vernunft eine Torheit. Vielleicht bedient sich Jesus deshalb einer so heftigen Rhetorik, dass er uns sogar gebietet, Mutter und Vater und die eigenen Kinder zu verlassen, wenn dies die Ursache ist für fehlende Opferbereitschaft. Denn handelt es sich hier nicht um ein Opfer? Bittet Jesus uns nicht darum, das Gebot der Nächstenliebe zu befolgen, wie unangenehm und radikal es auch sein möge? Zwingt er uns nicht heraus aus der Selbstgerechtigkeit, die in letzter Konsequenz von den alten moralischen Tugenden verteidigt wird: Dass wir vor allem unsere Frauen und Kinder, Familie, König und Vaterland schätzen sollen.

Die Doppelmoral scheint sich noch einmal zu verdoppeln: Wir machen unsere Grenzen zu für alles, was uns fremd ist, und zugleich lassen wir gewissenlos zu, dass das Evangelium hier zuhause nicht allen und jedem zugemutet werden muss – der Kulturrelativismus ist zu einem religiösen Relativismus geworden, ja zu einer zufälligen Verwaltung der Wahrheit, als wäre sie ein Opfertier auf dem Tempelplatz. Beides scheint eben der große Verfall in der Erzählung der christlichen Geschichte zu sein. Vielleicht dadurch veranschaulicht, dass das Christentum in großen Teilen des alten Ostdeutschland einen leisen Tod stirbt, ohne dass wir, die großen evangelischen Kirchen, uns dazu aufgerufen fühlen, lebensrettende erste Hilfe zu leisten. Die Brutstätte der lutherischen Kirchen erlebt keine christliche Aufrüstung, stattdessen sind wir ein Jahr vor dem Reformationsjubiläum zu historischen Touristen geworden. Wir lassen nicht nur geschichtslos sondern auch unevangelisch zu, dass jeder geistlich seinen eigenen Weg geht. Die Passivität, die kurzsichtig als das Sicherste erscheint, die aber im Lichte des Evangeliums die allergrößte Gefahr darstellt, dass man nämlich weder hört noch sieht, ist auch in Pastorenkreisen in Dänemark weit verbreitet. Auch wenn die Mitgliederzahlen ständig zurückgehen, besonders in Kopenhagen, wo weniger als 60% Mitglieder der Volkskirche sind – im übrigen Teil des Landes sind es 80%mn - so wird dies als ein notwendiger, ja geradezu begrüßenswerter Pluralismus beschrieben.

In der Perspektive des Glaubens darf es keinen Zwang geben, es ist eine freiwillige Sache, ob man das Kreuz auf sich nehmen oder liegenlassen will, aber es ist nicht gleichgültig, was du sagst und tust. In erster Linie geht es um die freie Verkündigung des Wortes, dass das Evangelium jeden erreicht. Für die, die schon gerecht sind, ist es ein Glück, aber es geht nicht um die, die schon Mitglied der Familie sind, sondern um alle die, die draußen sind. Unsere Fürsorge soll nicht denen gelten, die die Wahrheit schon haben und sich sicher fühlen, sondern denen, die sie nicht haben.

Wie in aller Welt sollen wir jemals andere als ins selbst erreichen, wenn wir uns um uns selbst verschießen? Wenn wir verblendet glauben, dass wir schon den Weg gefunden haben und ein heiliges Volk hier auf Erden geschaffen haben, wo wir doch vom Evangelium wissen, dass die Wahrheit erst im Himmel offenbar wird, wenn wir von Angesicht zu Angesicht vor Gott stehen? Bis dahin müssen wir versuchen, das Kreuz auf uns zu nehmen und den Weg zu gehen, den uns Jesus anweist, auch wenn uns das noch so schwer fällt. Amen.

 



Pastor Rasmus Nøjgaard
DK-2100 København Ø
E-Mail: rn@km.dk

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