Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 12.06.2016

Predigt zu Lukas 15:11-32 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Marianne Frank Larsen


Auf einer Bank an einer Bushaltestelle in einer kleinen Stadt in Iowa sitzen zwei Männer, der eine in den dreißiger Jahren, hager, mit müden Augen, der andere ein alter Pastor. Der jüngere Mann ist Sohn seines besten Freundes, und er sitzt an der Bushaltestelle, weil er weg will – wieder. Auch wenn sein alter Vater im Sterben liegt und alle die anderen netten und wohlerzogenen Geschwister auf dem Weg nach Hause sind. Oder vielleicht gerade deswegen. Der alte Pastor in Marilynne Robinsons Buch „Gilead“ gibt ihm die vierzig Dollar, die er bei sich hat. Und dann überwindet er sich zu sagen, dass er ihn gerne – segnen will. Jack fragt, was das bedeutet. Ja, das bedeutet, dass ich meine Hand auf deinen Kopf lege und Gott bitte, mit dir zu sein, antwortet der Pastor. Aber wenn es dir peinlich ist … es sind ja Leute auf der Straße. Nein, nein, sagt Jack, nimmt den Hut ab, schließt die Augen und beugt den Kopf, stützt ihn geradezu auf die Hand des Pastors, während der ihn segnet: Der Herr lasse sein Angesicht leuchtet über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. Aber da Jack weder die Augen öffnet noch seinen Kopf hebt, fährt der alte Freund seines Vater so fort: „Herr, segne Jack Ames Boughton, diesen hochgeliebten Sohn und Bruder und Ehemann und Vater“. Da richtet sich Jack auf und sieht ihn an, als erwache er aus einem Traum. Er bedankt sich, und dann kommt der Bus. Er stellt sich auf das Trittbrett und hebt den Hut, und dann ist er weg.

Das Überraschende an diesem Segen ist, dass Jack nicht mehr das ist, wovon da geredet wird. Seit er von zuhause weggereist ist, hat er nur sporadisch von sich hören lassen und sich jahrelang zuhause nicht sehen lassen, nicht bei der Beerdigung seiner Mutter und auch nicht im Alter seines Vaters. Aber sie haben stattdessen von ihm in der Zeitung gelesen, wenn er wiederholt in Probleme geraten ist. Und jetzt reist er nun wieder weg und überlässt es seinen Geschwistern, dem Vater am Sterbebett beizustehen ohne den Sohn, nach dem sich der alte Mann immer gesehnt hat. Er lässt sie im Stich; er tut nicht, was ein Sohn oder ein Bruder tun soll. Er hat Frau und Kind, er liebt sie, aber er kann nicht einer Arbeit nachgehen und sie versorgen, kann das Trinken nicht lassen, kann nicht seinlassen, zurückzuschlagen, muss sie immer wieder zu ihrer Familie zurückschicken, weil nichts funktioniert. Er ist zu ihnen nicht so wie ein Ehemann und Vater für seine Frau und sein Kind sein soll. Und deshalb ist es beeindruckend und tief bewegend, dass der alte Freud seines Vater, der Pastor, eben diese Worte findet: Segne diesen hochgeliebten Sohn und Bruder und Ehemann und Vater. Genau die vier Namen, denen Jack nicht hat entsprechen können, all das, was er nicht mehr ist – das nennt ihn der Pastor.

Genau diese Überraschung erfährt der verlorene Sohn in dem Evangelium dieses Sonntags. Als er endlich heimkehrt, ist er sich völlig darüber im Klaren, dass er nicht wie der Sohn seines Vaters gelebt und gehandelt hat. Das Vermögen, das sein Vater in einem langen Leben erworben und ihm als Erbe vermacht hat, vermöbelt er in kurzer Zeit, während er in Saus und Braus lebt, ohne an seinen Vater und seine Arbeit zu denken, ohne an die Zukunft zu denken, in der das Erbe hätte Frucht bringen können, ohne an etwas anderes zu denken als sich selbst und den eigenen Genuss in diesem Augenblick. Es mag ja sein, dass er der Sohn seines Vaters ist, aber in den Monaten und Jahren, die vergangen sind, seit er fortgegangen ist, hat er den Namen nicht ausgefüllt, im Gegenteil. Greife den Tag, sagen wir, und lebe im Jetzt, und das klingt schön, aber es kann bedeuten, dass man aus den Beziehungen heraustritt, in denen man steht, sich nicht darum schert, dass man für jemanden Sohn ist oder Vater oder Bruder ist, und seinen eigenen Eingebungen folgt – als gehöre man nur sich selbst. Das ist es, was der verlorene Sohn getan hat, und er weiß es. Ich verdiene es nicht länger, dein Sohn genannt zu werden. Das will er seinem Vater sagen, und darin hat er Recht. Lass mich einer deiner Tagelöhner sein.

Die Überraschung im diesem Evangelium ist, dass sein Vater anfängt zu laufen, als er ihn von weitem sieht, ihm entgegenläuft und ihn umarmt. Dass er seine Diener anweist, den Sohn mit den feinsten Kleidern zu bekleiden, ihm Schuhe an die Füße zu geben und einen Ring an den Finger, ein Kalb zu schlachten und ein Fest vorzubereiten. Der Sohn sagt das, was er zu sagen vorhatte, dass er es nicht mehr verdient, Sohn zu sein. Aber es ist, als nehme der Vater seine Entschuldigung gar nicht wahr. Ehe er etwas sagt, haben wir schon gemerkt, was er tut. Dass er läuft, dass er ihn umarmt, dass er ihn einkleidet und ihm einen Ring an den Finger gibt und ihn an seinen eigenen Tisch bittet – das alles bedeutet eines: Dass er ihn wieder zum Sohn macht. Das wird durch die Tat gezeigt, ehe es in Worten ausgedrückt wird: Mein Sohn hier war tot, aber er ist wieder lebendig geworden, sagt der Vater, er war verloren und ist gefunden worden. Mein Sohn hier. Der Heimgekehrte rechnete damit, dass er Tagelöhner sein würde. Aber er wurde Sohn. Weil der Vater ihn trotz allem als diesen ansah und ihn wieder dazu machte.

Vergebung wird in diesem Evangelium mit keinem Wort erwähnt. Dennoch ist es natürlich die selbstverständliche Vergebung, von der die ganze Geschichte handelt, sie handelt von dem, was Vergebung zwischen uns untereinander und zwischen uns und Gott ist. Vergebung, die sich im Handeln ausdrückt und in anderen Worten. Oder Namen. Denn das ist ja der Sinn der Vergebung, an der Bushaltestelle in Iowa wie auch auf der Landstraße im Gleichnis: Dass man der werden darf, der zu sein man das Recht verspielt hat. Dass man wieder beim Namen genannt wird und als der gesehen wird, der man war, ehe man versagte, dass man wieder in die Beziehung eingesetzt wird als Tochter oder als Sohn von jemandem, als Vater oder Mutter, als Schwester oder Bruder, als Freund oder Geliebter. Dass die Beziehung wiederhergestellt wird.

Dies kann nur einer tun, und der sind nicht wir selbst. Ich glaube nicht daran, dass man sich selbst vergeben kann, und ich meine auch nicht, dass das Sinn macht. Wenn man versagt hat und die Freude eines anderen Menschen zerstört hat, wie Jack in dem Buch und der Sohn im Evangelium und wie wir in unseren Beziehungen, so kann nur der andere Mensch, den man das angetan hat, einem vergeben. Und darauf hat man keinen Anspruch, und damit kann man auch nicht rechnen. Aber wenn man erkannt hat, was man getan hat, wie Jack in dem Buch und der Sohn auf dem Wege, dann kann es geschehen, dass die Vergebung kommt, dass jemand anderes sich dafür entscheidet, dass du wieder mein Sohn, mein Bruder, mein Mann, mein Vater sein sollst, trotz allem, was du getan oder gesagt hast und was uns getrennt hat. Als eine Überraschung, so groß und voll Freude wie die, die der Sohn im Evangelium erfährt, als sein Vater ihn mit offenen Armen empfängt.

Das ist nur einer, der das tun kann, habe ich gesagt, und das ist der andere Mensch, aber da ist natürlich noch ein anderer. Der Vater, der aus seine Stube mit offenen Armen auf den Hof hinausläuft hin zu dem Weg, um seinen Sohn zu empfangen, ist ein Bild für den Gott, an den wir glauben. Wir sind seine Kinder, geschaffen, um ihm zu gleichen, zu lieben, wie er liebt. Und immer, wenn ich die Freude meiner Kinder oder meines Freundes oder Geliebten zerstöre, vergehe ich mich auch an ihm und dem, wozu er mich bestimmt hat. Aber an Weihnachten lief er zum ersten Mal aus seinem Himmel, um uns zu empfangen. Und dies tut er, wann immer wir ihn bitten: Vergib uns unsere Schuld, und immer, wenn wir in die Kirche kommen und wissen, dass wir versagt haben. Dann kommt er uns entgegen wie der Vater im Gleichnis mit offenen Armen. Kleidet uns ein in der Taufe und setzt uns an seinen Tisch beim Abendmahl und nennt uns seine eigenen geliebten Kinder. Setzt uns wieder ein in die Beziehung trotz allem, was wir verspielt und zerstört haben. Segne diesen hochgeliebten Sohn und Bruder und Ehemann und Vater. So betete der Pastor für Jack an der Bushaltestelle, denn wenn wir Gottes hochgeliebte Söhne und Töchter sind, dann ist nichts endgültig vorbei. Dann besteht immer eine Möglichkeit dafür, dass die Vergebung wie eine Überraschung kommt und uns erlaubt, wieder einander hochgeliebt zu sein. Amen.

 

 



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

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