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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

„Die vermeintlich Schwachen und die vermeintlich Starken“
Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Thomas Bautz

 

Liebe Gemeinde!
     
Im größeren Zusammenhang dieses Abschnitts aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde zu Rom mahnt er zur gegenseitigen Rücksicht zwischen „Starken“ und „Schwachen“. Auffällig ist die Dringlichkeit der Mahnung, Menschen in die Gemeinschaft aufzunehmen, die anders denken, anders glauben oder überhaupt anders sind. Dabei geht es nicht nur darum, sie oder ihn anzunehmen, jemanden zu akzeptieren; Paulus legt seinen Finger auf einen wunden Punkt:
     
Von Anfang an herrscht in christlichen Gemeinden die Schwierigkeit, nicht nur Meinungen derer zu tolerieren, die nicht mit traditionellen Anschauungen konform sind, sondern diese Menschen auch noch in den inneren Kreis der Gemeinschaft aufzunehmen. Für viele ist es offensichtlich schwer, sich mit Ungewohntem oder Fremdem zu konfrontieren, weil sie sich dadurch selbst in Frage gestellt oder darin gar einen Angriff auf ihren Glauben zu erkennen meinen. Wer da als „schwach“ oder „stark“ zu gelten hat, ist eine Frage des Blickwinkels.
     
Wer sich gegenüber denen, deren Glaubensleben von Freiheit und Offenheit geprägt ist, abgrenzt, weil ihm deren Verhalten suspekt ist, wird sich kaum als „schwach“ im Glauben ansehen. Die eigene strikte, solide Glaubenshaltung wird eher als „Stärke“ empfunden, und die Abgrenzung gegenüber den „Schwachen“ als pure Notwendigkeit. Schließlich geht es auch um „religious correctness“ (analog zur „political correctness“). Die Konfliktfähigkeit ist (bis heute) keine selbstverständliche Voraussetzung, wobei freilich zwischen Streitkultur und Streitsucht scharf unterschieden werden muss. Es gibt fruchtbare Streitgespräche, unter der unverzichtbaren Voraussetzung, dass der Konflikt als Dialog zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern ausgetragen wird: Nicht auf Kosten des anderen Recht behalten wollen!
     
Paulus teilt noch die Überzeugung, dass eines Tages jeder Mensch vor seinen Schöpfer treten und sich für seine Taten (und Unterlassungen) verantworten muss. Die Frohbotschaft von der Barmherzigkeit „Gottes“ und der Vergebung aller Zielverfehlungen („Sünden“) beinhaltet keine Generalamnestie. Angesichts des künftigen Richterstuhls des Ewigen solle - so Paulus - sich jeder genau überlegen, bevor er einen anderen Menschen, womöglich in der Gemeinde verurteilt oder auch nur scheel ansieht. Jeder kehre vor seiner eigenen Haustür! 

Die größten Dogmen der Christenheit werden in den ersten fünf Jahrhunderten geschmiedet. Abgesehen von den Verstrickungen mit einzelnen römischen Kaisern, kommt es auf manchen Konzilen zu ernsthaften und z.T. gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Parteien, die Verschiedenheit als Gegensätzlichkeit auffassen. Christologische und trinitarische Dogmen sind besonders anfällig für polares Denken. Insbesondere in der Reformationszeit treten noch die Streitigkeiten zum Thema Herrenmahl (Abendmahl und Eucharistie), zur Frage des freien Willens, zur Rechtfertigungslehre (usw.) hinzu.
     
Die Auswirkungen ziehen sich durch Kirchen- und Geistesgeschichte bis in unsere Tage; man hat neue Streitpunkte gefunden, z.B. die Frage nach der politischen, sozialen Dimension des christlichen Glaubens auf biblischer Basis (Politische Theologie, Theologie der Befreiung). Diese Theorien bleiben natürlich nicht nur in den Köpfen, sondern beeinflussen allemal auch das Leben und Verhalten Einzelner und Gruppen, und schon ist ein Konfliktpotential geboren.
     
In den Gemeinden zu Korinth und Rom gibt es spezifische Ursachen für Streitigkeiten, die uns weitgehend fremd sind: Die Starken im Glauben haben kein Problem, Götzenopferfleisch und überhaupt jegliches Fleisch zu essen. Sie unterscheiden und trennen den ursprünglichen Gebrauch des Fleisches im Rahmen eines heidnischen (paganen) Kultes vom neutralisierten Nutzen. Die Starken sind auch keine Vegetarier. In ihren Augen stellen sich Menschen, die diese Freiheit nicht verkörpern, als glaubensschwach dar.
     
Umgekehrt können die sog. „Schwachen“ das Verhalten der sog. „Starken“ als Schwäche deuten, weil diese sich auf heidnische (pagane) Kulte einlassen oder eine Berührung mit ihnen zulassen. Die Freiheit im Glauben wird dann als Selbstüberschätzung und Glaubensschwäche interpretiert. Wahre Stärke im Glauben bliebe standhaft und konsequent.
     
So kommt man natürlich nicht zusammen; die Halsstarrigkeit beider Gruppen: der Starken wie der Schwachen, das Beharren auf Richtigkeit der eigenen Meinung und Glaubenshaltung führt nicht in eine wirkliche Gemeinschaft. Von den Starken könnte man Rücksichtnahme und Verantwortung gegenüber der gegnerischen Gruppe erwarten, weil sie sich die Schwachen als „kognitiv und psychisch-emotional“ schwach vorstellen (Volker Gäckle: Die Starken und die Schwachen, 415). Ein solches, oft als „seelsorglich“ betrachtetes Verhalten geschieht häufig „von oben herab“ oder hat zumindest unterschwellig ein hierarchisches Gefälle.

Man darf auch nicht verkennen, dass die Starken im Glauben „Anstoß“ erregen oder einen „Skandal“ aus der Perspektive der „Schwachen im Glauben“ heraufbeschwören. „Anstoß“ ist nach antikem Sprachgebrauch eine „reale Bedrohung des Mitmenschen“, der das für einen „Gesinnungsgenossen“ legitime Verhalten wahrnimmt, aber dieses als anstößig empfindet und „an seiner Grundüberzeugung irre wird“ (Gäckle: Die Starken und die Schwachen, 415). Was darf man sich überhaupt unter dem Begriff „Schwäche“ oder „schwach sein“ in der antiken Literatur vorstellen? (vgl. Gäckle: Die Starken und die Schwachen, 51-53)

a) „Schwäche“ im Sinne eines geistigen, kognitiven Defizits, verbunden mit mangelndem Unterscheidungsvermögen (Differenzierung); eine gern von den „Starken“ vorgenommene Charakterisierung oder Kategorisierung der „Schwachen“ („Schubladisierung“; Th.B.).

b) „Schwäche“ im Sinne eines Bildungsdefizits, also Informations- und Wissenslücken, was keineswegs mit kognitiven Defiziten einhergehen muss.

c) „Schwäche“ im Sinne „psychisch-emotional begründeter Skrupel“. Ablehnende Haltungen seitens der Schwachen sind oft durch ihre bisherige Lebens- und Glaubenspraxis begründet. Grob vereinfacht gesagt: „Das haben wir schon immer so gehandhabt!“

d) „Schwäche“ im Sinne eines „geringen Sozialstatus“. Fleisch ist in der Antike Luxusgut und für die breiten Schichten des Volkes „alles andere als alltäglich“. Daraus resultieren soziale Unterschiede, die wiederum einen Nährboden für Konflikte darstellen.

Es gibt ein „Schwachsein“ auf Grund äußerer und innerer Not: ein schwerer Verlust, eine schlimme, womöglich unheilbare Krankheit, Mangel an wirtschaftlicher, sozialer Sicherheit; daraus erwachsen auch Glaubenszweifel. Die Starken begegnen diesen schwachen Menschen häufig, indem sie Trost spenden wollen, aber viele sind selbst hilflos oder noch ohnmächtiger, geben dies aber selten zu. Bestimmte Menschen werden geradezu stigmatisiert.

Ich führe zwei Beispiele an, die ganz gut zeigen, wie man mit Schwachen umgehen kann, zwei Persönlichkeiten, wie sie unterschiedlicher kaum sein können:

Martin Luther: An eine unbekannte Frau (31. Juli 1525)

Meine liebe Frau, ich höre sagen, wie Euer Herz große Anfechtung im Glauben leide. Das ist mir leid, und ich bitte Gott, daß er Euch gnädig stärken wolle, wie mir denn nicht zweifelhaft ist, daß er es mit der Zeit tun wird. Ergebet Euch allein, wie Ihr wisst, in seinen Willen, ob er Euch noch eine Weile wolle so lassen und haben, und bedenket, daß Schwachglaube auch ein Glaube ist, und Christus den Schwachen so nahe ist wie den Starken, wie Paulus Röm 14,4 sagt, daß an Christus selbst gesündigt wird, da man der Schwachen nicht schont.

Und Paulus befiehlt allenthalben, die Schwachen anzunehmen, woraus man wohl merken kann, daß die Schwachen auch Christus im Schoße sitzen. Und danket Gott, daß Ihr doch so weit gekommen seid, daß Ihr Eure Schwachheit fühlt, denn das ist ein gutes Zeichen eines gewissen Glaubens bei Euch. Wehe denjenigen, die ganz verändert sind und nichts fühlen! Darum seid getrost, wie Joel 4,10 sagt: „Der Schwache soll sagen: ich bin stark“, und Paulus 2 Kor. 12,10: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“

Es muß so sein. Ich habe auch oft die Krankheit gelitten, daß ich meinte, es wäre weder Gott noch Christus etwas, daß mich wunderte, wie mir solches widerführe, da ich dessen alles sicherer war als meines eigenen Lebens. Gott versucht uns so, er verläßt uns aber nicht. Das ist besser als Ärgeres, da doch gelitten sein muß. Hiermit befehle ich Euch Christus, der Euch schwach macht in Eurer eigenen Kraft, auf daß er Euch stärke in seiner Kraft. Amen.

Vincent van Gogh an den Bruder Theo (Den Haag, 11. Mai 1882):

„Christien (Sien) ist für mich kein Klotz am Bein, keine Last, sondern eine Hilfe. Wenn sie allein wäre, ginge sie vielleicht zugrunde; eine Frau darf nicht allein sein in einer Gesellschaft und einer Zeit wie der, in der wir leben – einer Zeit, die die Schwachen nicht schont, sondern mit Füßen tritt, und, wenn ein schwaches Geschöpf gefallen ist, mit Rädern drüber hinfährt.

(Van Gogh lernt „Sien Hoornik“ als Näherin, Putzfrau und schwangere Prostituierte kennen und lebt mit ihr im Zeitraum 1881-1883 in Den Haag; Sien steht ihm Modell, und er nimmt sie mit ihrer Tochter in seine Wohnung auf, später auch ihr Neugeborenes; Th.B.)
Darum, weil ich so viele Schwache zertreten sehe, zweifle ich stark an der Richtigkeit von vielem, was man Fortschritt und Bildung nennt. Ich glaube an Bildung, selbst in dieser Zeit, doch nur an die Art Bildung, die auf wirklicher Menschenliebe beruht. Was Menschenleben kostet, finde ich barbarisch, und davor habe ich keine Achtung.“

Sowohl bei Luther wie auch bei van Gogh spüren wir ein starkes (!) Einfühlungsvermögen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Annahme und Aufnahme der „Schwachen“ sind realisiert. Luther praktiziert im guten Sinne empathische Seelsorge und spendet geistlichen Trost. Van Gogh hat persönliche Beweggründe, die Frau aufzunehmen, artikuliert bei dieser Gelegenheit aber auch deutlich seine scharfe Sozialkritik an einer verbreiteten Haltung in der Gesellschaft gegenüber den sozial Schwachen.

Schon die Antike weiß den Wert der Gemeinschaft zu schätzen, wie es z.B. der klassische griechische Dichter Sophokles (497/96 bis 406/05 v.d.Z.) in der Tragödie „Aias“ („Ajax“, 455-450 v.d.Z.) zum Ausdruck bringt:

„Doch ohne die Großen bilden die Kleinen / nur noch ein schwächliches Bollwerk im Kampfe. / Erst eng miteinander im Bunde vermögen / Starke wie Schwache sich fest zu behaupten. / Einsicht in diese Wahrheiten freilich / lassen sich Toren nicht beibringen.“

Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
53119 Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

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