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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

Predigt zu Matthäus 5:43-48 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Jens Torkild Bak


In Anbetracht der starken Ermahnungen dieses Textes könnte man mit einem Lied des dänischen Liederdichters Kingo beginnen, das vom neuen Gehorsam spricht, davon dass man das Wort Gottes nicht nur hören soll, sondern auch danach handeln soll.

Das würde gut die Texte dieses Sonntags unterstreichen. Trotzdem würde ich mich dafür entscheiden, ein anderes Lied von Kingo zu singen, nämlich „Sorrig og glæde de vandre til hobe“, dt. „Kummer und Freude, zusammen sie wandern“ (Nr. 46 im dänischen Gesangbuch). Und das aus dem Grunde, dass es zu bedenken gilt, ob nicht die im Text erwähnte Vollkommenheit („Darum sollst ihr vollkommen sein..“) eine Eigenschaft oder Qualität ist, die am besten Gott und dem Reich Gottes eigen ist, so wie es Kingo vielfach in seinem Lied wiederholt: „Einzig im Himmel wohnt Seligkeit huld“.

Es gibt ja zwei unterschiedliche Seiten bei Kingo – einmal die Seite, die loyal das Bedürfnis der absoluten Königsmacht nach Disziplinierung der Bevölkerung unterstützt, und dann die Seite, die mehr in die lutherische Bußfrömmigkeit gehört, wo man gesteht, dass der Mensch nicht viel zu seiner Verbesserung tun kann, sondern vielmehr von der göttlichen Nachsicht lebt.

Auf diesen Gedanken werde ich zurückkommen.

Es kann geschehen, dass man einem Mitarbeiter begegnet, einem Kollegen, einem Schüler, dessen Arbeitseinsatz sich aus irgendeinem Grunde auf das Allernotwendigste beschränkt. „Das perfekte Minimum“. Was ist daran falsch? Formal ist daran nichts auszusetzen. Es ist jedenfalls schwierig, den Fehler genau zu benennen. Aber man kann sicher sein, dass sich die Umgebung betrogen fühlt. Denn auch wenn es möglicherweise nirgends geschrieben steht, erwarten wir mehr voneinander. Wir erwarten lebendige Anteilnahme, Mitverantwortung für das Ergebnis. Wir erwarten eine Freude, Energie und Willen, die sich darin ausdrücken, dass man mehr tut als streng notwendig ist. Wir hoffen immer, dass hinter dem Mitarbeiter, dem Kollegen, dem Handwerker, dem Studierenden oder wem auch immer ein Mensch ist, der sich engagiert und einen Unterschied macht. Ein Herz, das für die Sache schlägt und nicht nur an das Geld denkt, das man verdient und mit nach Hause nimmt.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen … Was ist daran falsch? Ja, das Problem ist das perfekte Minimum, das man formal nicht beanstanden kann, das aber unendlich freudlos und gleichgültig ist. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Nein, eben das ist es. Nur die lieben, die uns lieben, das überwindet keine Grenzen. Das schafft keine Veränderung. Das ist ein Verhalten, das sich im Rahmen der altklugen Logik hält, die mit sich selbst abgemacht hat, dass es sich nicht lohnt, mehr zu tun. Gut und schön, einwandfrei und gleichgültig. Das ist nicht einmal ein Verhalten, das es verdient, ethisch genannt zu werden. Ethisch handeln heißt über den perfekten Minimalismus hinauszugehen.

Jesus hat eine Pointe, und die ist nicht schwer zu sehen. Wir kennen das vom Arbeitsplatz und unzähligen Zusammenhängen. Wir kennen das vom Leben miteinander: Wir haben Erwartungen zu einander, die sich nicht mit einem Verhalten zufriedengeben, das sich auf die Einhaltung von Regeln und vernünftige Berechnung beschränkt. Menschsein erfordert mehr. Es erfordert Herz und Leidenschaft. Liebe und Begeisterung.

Aber! Dasselbe Phänomen kennen wir leider auch als eine besonders extreme Überforderung des Menschen: Du bist immer dran! Du darfst keine Probleme haben, nur Herausforderungen. Du sollst offen sein und veränderlich, du sollst gesund leben, dich bewegen, du sollst deine Leistungen verbessern, du sollst dein Bestes geben: Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!

Der Traum vom vollkommenen Leben zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte europäische Kultur. Wir kennen ihn vom Mönchtum, von den Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, von den modernen Idealen der Körperpflege und der Organisation, von der Technologiebegeisterung und vielem mehr. Aber ist das auch ein gefährlicher Traum für die Menschen? In der Tat, ja.

Bettina Post, die frühere Vorsitzende des Verbandes der Sozialarbeiter, sagte einmal in einer Podiumsdiskussion im dänischen Fernsehen, dass die größte Bedrohung der Gesellschaft heute als einer menschlichen Gemeinschaft der Traum vom perfekten Leben ist. Man sollte, sagte sie, mehr Zeit dar auf verwenden, darüber zu reden, was es heißt, ein Mensch zu sein, und worum es im Leben eigentlich geht, als darüber zu reden, wie man die die jungen Leute so schnell wie möglich durch die Berufsausbildung schleust und wie man die Raucher aus dem öffentlichen Raum fernhält. Sie war sogar selbst entwöhnt …

Aber darüber besteht kaum Einigkeit. Die Dänen sind bereit zu mehr Regeln über Alkohol, äußerte vielmehr die Forschungsleiterin Charlotte Glümer vom Gesundheitsprofil der Hauptstadt auf der Titelseite eines Magazins, dessen bedauerliche Botschaft war, dass die mittlere Lebenszeit der Dänen seit den 50ger Jahren von einem vierten Platz in der Rangliste der OECD-Länder auf den 17. bzw. 19. Platz für Männer bzw. Frauen abgerutscht war. Ohne dass dabei im Übrigen klar wurde, ob eine höhere mittlere Lebenszeit einen inhaltlichen Gewinn bedeutete, nach dem Bettina Post gefragt hatte.

Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten..!  Das klingt, auch dies, wie eine totale Überforderung des Menschen, jedenfalls seiner Liebesfähigkeit. Wo ein Ziel vorgegeben wird, das ja niemand erreichen kann. Hier werden wir nicht nur aufs Äußerste gefordert, sondern darüber hinaus! Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!

Da ist mit anderen Worten eine Grube auf beiden Seiten des Weges. Die eine heißt das perfekte Minimum. Die andere heißt die maximale Überforderung. An diesem Punkt sollte man überlegen, ob nicht die Vollkommenheit eine Eigenschaft ist, die wir am besten für Gott reservieren. Ich denke ja, wir sollten das tun.

Ich weiß nicht, wie andere zur Bergpredigt stehen, aus der dieser Text stammt. Aber ich kann in dieser Forderung, vollkommen zu sein wie unser himmlischer Vater, einen ironischen Ton hören, eine krasse Ironie. Jesus pflegt nicht menschliche Perfektion zu predigen. Jesus pflegt den Menschen zu lehren, aus Vergebung zu leben, nicht aus dem Vertrauen auf eigene Vollkommenheit. Deshalb ist es höchst ungewöhnlich, dass er Vollkommenheit als ein Ziel angibt – und es kommt einem wie gesagt der Gedanke, dass das ironisch gemeint ist.

Und das wäre nicht ohne Grund:

Jesus spricht in eine Zeit hinein, die ganz verrückt war nach Frömmigkeit und Ideen über Vollkommenheit, nach sozialer Kontrolle und Evaluierung menschlichen Verhaltens nach dem Maßstab eines feinmaschigen Systems von Gesetzen. Das Gesetz des Moses mit Ergänzungen. Das Ergebnis ist die Aufteilung der Menschen in gute und böse, fromme und unfromme, gerechte und ungerechte, Freunde und Feinde, Pharisäer und Zöllner. Das Ergebnis sind tiefe soziale und menschliche Gräben. Das Ergebnis ist eine harte Gesellschaft und eine grenzenlose Heuchelei. Was Jesus mit seiner Bergpredigt sagt, ist folgendes: Es ist ja gut und schön, dass ihr auf Moral setzt. Es ist ja gut und schön, dass ihr Euch für eine Trimmung der Gesellschaft einsetzt. Aber passt auf, dass euch die Aufgabe nicht zu groß wird! Beginnt bei euch selbst! Beginnt im Kleinen! Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden. Was siehst du den Splitter in deines Bruders Augen und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch … Wenn ihr dann damit fertig seid, jeder für sich die Aufgabe zu lösen, dann könnt ihr weiter eure Mitmenschen überwachen und euch mit deren Lebensführung beschäftigen. Die Pointe ist natürlich, dass ein Mensch nie so weit kommt. Und es ist sowohl für ihn selbst als auch seine Umgebung eine Befreiung, das einzusehen.

Der Traum von Vollkommenheit ist sicher eine unverzichtbare Triebkraft im Bereich der Kunst und der Wissenschaft, des Handwerks und des Sports und möglicherweise in vielen anderen Bereichen. Aber als ein moralisches Organisationsideal für die Gesellschaft und das Leben des Einzelnen führt dieser Traum nur Unglück mit sich, ganz gleich wie verlockend er ist. Selbst Luther erlag in seinen alten Tagen diesem Traum, als er von einer christlichen Gesellschaft träumte, die vom Wort der Bibel durchdrungen war und vollkommen rein, d.h. gereinigt von Juden und anderen Leuten mit abweichenden Sitten und Lebenseinstellungen.

Wenn man die Vollkommenheit Gott vorbehält, wird sie nicht zu einer Qualität, die wir leisten sollen, sondern zu einem Glauben, in dem wir ruhen können: Gottes Vollkommenheit reinigt nicht aus, sondern baut auf. Seine Vollkommenheit besteht in der Unerschütterlichkeit und Bedingungslosigkeit seiner Liebe, die sowohl uns selbst und unseren Feinden gilt. Das war wir getan haben, als es Zeit war, und das, was wir nie geschafft haben. Sonst wäre in uns auch keine Ruhe.

Es ist gut und erbaulich zu wissen, dass der Feind, den wir nicht lieben können, und der Mensch, dem wir nicht vergeben können, von Gott geliebt ist und vergeben, so wie wir selbst, und damit einen Platz hat in derselben Gemeinschaft, in der wir stehen.

Es wird so leer um uns, wenn die Vollkommenheit unsere eigene Sache und unser Traum wird. Gott überlassen verstehen wir aber, dass die Vollkommenheit die Gemeinschaft der Liebe ist, in der über all das eine Brücke geschlagen ist, was wir nie in unserer wildesten Phantasie in unserem Leben zusammenhalten und vereinen können. Amen.



Domprovst Jens Torkild Bak
DK-6760 Ribe
E-Mail: jtb(at)km.dk

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