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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Manfred Wussow


Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.

Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.


Zerrissenes Maul

Der Brief ist fast fertig. Wir sehen dem Schreiber über die Schulter. Alles ist fein formuliert, klug ins Reine gebracht und soll mit Elan und Esprit vorgetragen werden. Ein offener Brief! Aber dann, in der Schlussrunde, nimmt der Brief noch einmal Fahrt auf. Das muss jetzt noch gesagt werden! Das darf nicht untergehen! Das kann auch nicht warten!

Aus dem Brief, den Paulus nach Rom schreibt, lese ich einen der letzten Abschnitte vor:

„Du aber, was richtest du deinen Bruder?
Oder du, was verachtest du deinen Bruder?
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23):
»So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“

Entschuldigung, Schwestern! Sie sollten sich nicht ausgeschlossen fühlen, sich auch nicht ausklinken – Paulus wusste es nicht besser.

Neugierig frage ich, was wohl zu diesen – letzten – Fragen Anlass gegeben haben könnte: Was richtest du – was verachtest du? Hat es Klagen gegeben – oder dezente Hinweise? Ist nur ein letztes Aufbäumen zu sehen? Egal: die beiden Worte sind heraus. „Richten“ und „verachten“. Dem Wortsinn nach unterscheiden sie sich zwar, haben aber gemeinsam, einen anderen Menschen zu verurteilen. Den Staub über ihn zu brechen. Sich von ihm abzusetzen.

Da wir hier keinen Instanzenweg mit Anklageschrift, Gerichtsverfahren und Urteil vor uns haben, geraten wir schneller als uns lieb ist an das Geheimnis des zerrissenen Mauls. Wir sagen tatsächlich: sich das Maul zerreißen! Manchmal sind wir Opfer – und tierisch erbost. Wir können uns nicht beruhigen. Von Niedertracht ist die Rede, von übler Nachrede – vielleicht auch von Mobbing. An Arbeitsplätzen gibt es böse Geschichten, die so weit gehen können, dass Menschen krank werden – oder krank gemacht werden. In der öffentlichen Meinung werden Menschen, die anders sind als wir, unter Generalverdacht gestellt. Sie werden attackiert. Es reicht aus, Muslima / Muslim zu sein – oder Flüchtling – oder beides. Worte verletzen nicht nur, Worte können töten. Vermutlich kann jede, jeder von uns das Potpourri der Geschichten ergänzen. Nicht über allen wird je das Gras wachsen.

Allerdings: Wer sich das Maul zerreißt, hat sich auf die andere Seite begeben. Er zieht über andere her, mal offen, mal versteckt. Mal mit dem Mantel der Seriosität bekleidet, mal nackt und brutal. Die Kunst ist, immer auch Gründe anzugeben – oder vorzugeben. In der öffentlichen Diskussion bricht heute vieles auf. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, heißt es dann. Sagen dürfen – die größten Vorurteile, Ängste und Bosheiten backen kleine Brötchen. Wer sich das Maul zerreißt, darf nicht die Fransen zeigen.

Der Brief ist fast fertig. Wir sehen dem Schreiber über die Schulter. Alles ist fein formuliert, klug ins Reine gebracht und soll mit Elan und Esprit vorgetragen werden. Ein offener Brief! Aber dann, in der Schlussrunde, nimmt der Brief noch einmal Fahrt auf. Das muss jetzt noch gesagt werden! Das darf nicht untergehen! Das kann auch nicht warten!

Denn: wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden! Hier wird das letzte Urteil über Menschen, über uns, gesprochen. So gnädig sein Urteil ist – wir haben uns zu verantworten! Wir haben Rechenschaft abzulegen! Wir haben über uns zu reden! Auf einmal ist es nicht mehr egal, was wir immer schon sagen wollten. Unsere Worte bekommen das Gewicht, das wir ihnen geben (und gegeben haben) – jetzt aber vor Gott.

In §186 StGB – unserem Strafgesetzbuch – heißt es:

Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

 

Hier geht es um übliche Nachrede – ein Ehrdelikt. Es ist nicht schlecht, sich in Erinnerung zu rufen, was bei uns gilt – wenn die Schleusen wieder einmal geöffnet werden und die Schwachen keinen Schutz bekommen. In einem christlichen Abendland, das angeblich verteidigt werden muss.

Paulus schreibt nichts von Freiheits- oder Geldstrafen. Unsere Gesetze kennt er auch nicht.

Aber vielleicht ist manches von dem, was ihm wichtig war – zu guter Letzt – in unsere Rechtsvorstellungen eingegangen. Paulus formuliert positiv:

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“

 

Neuer Ton – neues Leben

Eigentlich werden wir nicht aufgescheucht. Eigentlich werden wir auch nicht überrascht.

Dass wir keinen anderen richten oder verachten sollen, versteht sich schon fast von selbst. Als ich den Briefabschnitt las, war mein erster Gedanke: schon wieder. Mein zweiter: Suche die Überraschung!

Die Schlussfolgerung, „dass niemand seinem Bruder, seiner Schwester einen Anstoß oder Ärgernis bereite“, hat es in sich. Vorher aber noch die Frage, wer denn Bruder, wer denn Schwester ist. Der Glaubensgenosse, die Glaubensgenossin? Ein Gemeindemitglied? Ein Vertrauter, ein Verwandter? Auf diese Lösung sind schon viele kluge Leute gekommen. Dann bleibt man sowieso erst einmal unter sich. Vielleicht war das auch einmal der Ausgangspunkt. Irgendwie und irgendwo müssen Menschen auch anfangen. Aber wenn wir nach Gottes Willen fragen – genau das tun wir jetzt -, wird jeder Mensch, vor allem jede, jeder Andere zu meinem Bruder, zu meiner Schwester. Ich habe eine neue Verwandtschaft! Ohne mein Zutun.

Heute kommen viele Menschen in unser Land. Sie werden in unseren Städten und Dörfern sichtbar. Wir sehen ihre Gesichter, hören ihren Sprachen, essen ihre Speisen. Das ist alles sehr bunt – und eben auch ungewohnt. Ich bin Paulus sehr dankbar, dass er uns heute Mut macht, uns ihnen so offen zu zeigen, dass sie keine Angst vor uns haben müssen – und sich über uns auch nicht ärgern müssen. Es ist nicht egal, wie wir mit ihnen reden – schon gar nicht, was wir über sie sagen. Das wir sie nicht verurteilen oder verachten, ist das eine - dass wir ihnen auch keinen Grund geben, sich über uns ärgern zu müssen, das andere. Könnten wir es vielen Menschen, die uns hören oder sehen, wirklich verdenken, dass sie sich ärgern, enttäuscht sind, aber das nicht zeigen dürfen? Paulus mutet uns den Blick der anderen auf uns zu! Worüber ärgern sie sich denn? Dass es diesen Blick gibt, vermuten wir nicht nur – wir können es auch befürchten. Darüber reden wir meistens nicht. Warum nicht? Können wir uns nicht in die Menschen versetzen, die ihre Heimat, ihre Gewohnheiten, ihre Träume bei uns wieder (und neu) finden müssen? Werden wir dann nicht auch unsere Engen, Schwächen und Ängste neu sehen lernen? Unser Funktionieren? Unsere Kälte? Eine große Überraschung – „dass niemand seinem Bruder, seiner Schwester einen Anstoß oder Ärgernis bereite“. Bevor sich die anderen uns anpassen müssen, sollten wir uns selbst neu entdecken. Wer bin ich eigentlich? Wer sind wir? Was heißt, Kirche Jesu zu sein? Vielleicht brauchen wir einen runden (aber gut gedeckten) Tisch, um mit den anderen „Blicke“ auszutauschen.

Blicke auszutauschen fängt damit, einander in die Augen schauen zu können.

Über lange Zeit – Jahrhunderte sind darüber gegangen – haben wir Paulus gelesen. Fromm und erbaulich. Überraschungen waren nicht vorgesehen. Überraschungen stellten sich darum auch nicht ein. Klar doch, wir können auch darüber reden, wie unbarmherzig und eisig die Welt ist, in der wir leben. Wir müssten nicht einmal fragen, warum sie so geworden ist. Vom Himmel gefallen ist sie wohl kaum. So sehr wir den status quo lieben, wir leiden schrecklich an ihm. Zumindest dann, wenn wir unverhofft zu Opfern werden. Doch auf der Täter-Seite geraten Menschen auch immer weiter in die Hamster- oder Mühlräder. Wir müssen immer oben bleiben – auch um den Preis, dass Menschen über Leichen gehen, aber darüber nie reden können. Wir werden Opfer – und wissen es nicht. Am liebsten formen wir die Menschen nach unseren Bildern – und halten sie darin fest. Wir sind zu Tode entsetzt, wenn dann die Rahmen platzen.

Paulus, der auch als Mensch einen überaus spannenden und widersprüchlichen Weg zurückgelegt hat, findet am Ende seines Briefes nach Rom den vielleicht entscheidenden Blick: Wir sind zu einem neuen Leben berufen. Gott hat dafür alles gegeben. Seine Liebe. Sich selbst. Jetzt hören wir auch einen neuen Ton. So überraschend, dass alles andere alt aussieht. Ist Gott für uns – wer kann dann gegen uns sein? Paulus zählt vieles auf. Alle Widerwärtigkeiten, die es nur gibt – und geben kann. Eines leider nicht: Wir können gegen uns sein. Wir können auch alles kaputt machen.

In den sozialen Netzwerken – was für ein Wort: Netzwerk! – toben heftige Verleumdungskampagnen, die auch deswegen so brutal und niederträchtig sein können, weil der andere, die anderen immer schwach sein werden – und schwach gemacht werden. Die Urteile, die in den Netzen gefällt werden, kennen keinen gnädigen Richter, keinen Verteidiger. Wie in archaischen Zeiten bilden sich Meuten, die verwüstete Erde zurück lassen. Ich kenne junge Menschen, die weinen. Die Angst haben vor dem Netz, das sich wie Schlingen um sie legt. Dabei hatten sie ein so großes Vertrauen … Dass die Medienpädagogik gefragt wird, tröstet nicht. Was sie zu leisten vermag, kann nur auf Hoffnungen bauen. In den sozialen Netzwerken wird in großem Stil gerichtet und verachtet. Brüder und Schwestern gibt es nicht mehr – nur noch: die, der. Aber da ich jetzt – bewusst – einseitig bin, halte ich die Einrede aus, ich müsse doch auch die vielen guten Ansätze zu würdigen wissen. Das Kind mit dem Bade ausschütten will ich nicht.

Paulus, der um die Gefährdungen nicht nur des neuen Lebens weiß, gibt uns einen Auftrag:

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“

 

Geheilte Worte

Eigentlich ist der 4. Sonntag nach Trinitatis langweilig. Eigentlich ist der 4. Sonntag nach Trinitatis festlos – wie man so sagt. Aber die Trinitatiszeit ist eine spannende und bewegte Zeit. Sie erzählt in immer neuen Anläufen, von einem Sonntag zum anderen, von den Geheimnissen Gottes.

Im Evangelium, das heute vorgesehen ist, lesen wir:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben
. (Luk. 6,36f.)

Das sind Worte Jesu aus seiner Feldrede – so heißt die Bergpredigt Jesu bei Lukas.

Ein Maß wird uns gegeben:
„wie auch euer Vater barmherzig ist“.

In diesem Wort besteht kein Zweifel daran, dass wir barmherzig sein können wie auch „unser“ Vater barmherzig ist. Einreden und Bedenken sind nicht einmal angedacht. Wenn etwas selbstverständlich ist, dann das: wie auch euer Vater barmherzig ist!

Und von diesem Maß ist dann tatsächlich auch die Rede:
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben“

Voll, gut geschüttelt – und dann noch überfließend: was für ein Maß. Ein Gefäß in meinem Schoß. Gegeben – um diese Fülle zu teilen. Die Pointe: Dieses Maß wird nie leer. Schöpfen wir daraus, wächst in unseren Händen der Inhalt – über uns hinaus.

Ein Staunen breitet sich: Wo Barmherzigkeit ist, wächst das Leben. Die Worte werden wieder heil. Das zerrissene Maul wird gesund. Eine Alternative gibt es nicht:

So werdet ihr auch nicht gerichtet …
So werdet ihr auch nicht verdammt …
So wird euch vergeben …

Es wird im Einzelfall schwer sein, Verletzungen und Verwundungen zu heilen oder zu vergeben, aber wenn es eine Zukunft geben soll, werden wir uns in andere Menschen versetzen – und den Blick auf uns aushalten. Wir haben allen Grund, auch um Vergebung zu bitten. Das gute alte christliche Abendland trieft nur so von Selbstgerechtigkeit und Unbarmherzigkeit.

Der Brief ist fast fertig. Wir sehen dem Schreiber über die Schulter. Alles ist fein formuliert, klug ins Reine gebracht und soll mit Elan und Esprit vorgetragen werden. Ein offener Brief! Aber dann, in der Schlussrunde, nimmt der Brief noch einmal Fahrt auf. Das muss jetzt noch gesagt werden! Das darf nicht untergehen! Das kann auch nicht warten!

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist … Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“

 

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Münder und Worte,
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

 



Manfred Wussow
Aachen
E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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