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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Thomas-Michael Robscheit

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder.

Als ich den Abschnitt aus dem Römerbrief, der unser heutiger Predigttext ist, gelesen habe, kam mir sofort „Toleranz“ in den Sinn. Toleranz ist gefordert. Von meiner Frau und mir seit fast zwei Monaten. Solange wird nämlich an unserem Pfarrhaus gebaut und als Bewohner ist das dauernde Klopfen, Rattern und Hämmern ziemlich nervtötend. Dazu der ganze Baudreck. Muss man als Mieter eben tolerieren – zumindest im Wortsinn: ertragen, erdulden.

Allerdings verstehen und meinen wir Toleranz weiter: Toleranz bedeutet heute das Akzeptieren uns fremder Sitten und Gebräuche und deren Gleichberechtigung neben den eigenen. Nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise gehört die Forderung nach Toleranz zu den politisch korrekten Bekundungen. Nach jeder öffentlich wirksamen rassistischen Äußerung vergeht keine Talkshow ohne dass die Betroffenheitsmaschinerie in Gang gesetzt und damit das Thema erst richtig in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Ich frage mich, ob die dort dann bekundete Toleranz auch im Alltag standhält. Wer würde von den wohl gekleideten Damen und Herren tatsächlich akzeptieren, dass seine Ruhe und eigenen Sitten durch den Ruf des Muezzins 5 mal täglich gestört werden? Wie ist das mit Kindergärten, Spiel-, Bolz- oder Tennisplätzen direkt vor der Haustür? Oder die Frage der Energie: ein Windpark in unmittelbarer Nähe? Das ständige Fauchen der Rotoren? Und bei denen, die sowieso gegen Windkraft sind: wie wäre es mit einem radioaktiven Endlager in ein paar Kilometern Entfernung. Oder einem Tagebau, der ganze Landschaften vernichtet? Eine Straße, Autobahn oder Bahntrasse, die anderen Staus erspart, mir aber Lärm bringt?

Es geht auch kleiner: was ist, wenn der Nachbar Hühner halten möchte und Hähne? Oder seinen Rasen immer sonntags mäht, weil er von Montag bis Freitag Abend keine Zeit hat? Feten oder Proben in der Nachbarschaft, die bis mitten in die Nacht gehen.

Sie merken, liebe Gemeinde, es ist für jeden von uns etwas dabei, das unsere Toleranzgrenze erreicht oder überschreitet; Verhalten anderer, dass wir nicht hinnehmen und ertragen wollen. Im gesellschaftlichen Alltag ebenso wie in unserem Glauben: Wie halte ich es mit der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare? Wie gehe ich mit einer biblizistischen Auslegung des Evangeliums um? Mit verschiedenem Abendmahlsverständnis usw.? Das ist nichts Neues. Auch in den Gemeinden des Paulus gab es das. Aus den Briefen können wir entnehmen, dass es in vielen Belangen des Alltages und des Glaubens Klärungsbedarf gab und dass Fragen unterschiedlich beantwortet wurden: darf man Fleisch aus einer Tempelschlachterei essen? Wie soll man sich kleiden? Offensichtlich sind Probleme im religiösen Zusammenleben so verbreitet, dass Paulus das auch in Rom voraussetzt und an die Gemeinden dort seinen Ratschlag gibt:

 

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Paulus erwartet in der christlichen Gemeinschaft Toleranz im Wortsinn, nämlich dem Erdulden untereinander. Die Begründung ist simpel: Ihr braucht Euch nicht aufregen, letztlich muss jeder vor Gott für sein Tun Rechenschaft ablegen. Doch er geht weiter: „Außerdem achtet darauf, dass Ihr mit Eurem Verhalten nicht andere an ihre Toleranzgrenze bringt!“

Schön und gut, werden Sie jetzt denken, aber was bringt das für uns heute? In unserer Gemeinde haben wir es geschafft, einen sehr weiten Bogen christlicher Ethik und Moralvorstellungen zu spannen. Das ist nicht immer leicht, aber die nötige Toleranz ist offensichtlich vorhanden.

Ist das ein Grund zum selbstgefälligen Zurücklehnen? Sicher nicht. Es wird wohl immer aufs Neue nötig sein, die eigenen Vorstellungen zu überprüfen, ob ich meinem Nächsten damit zum Ärgernis werde. Wenn diese Antwort positiv ausfällt, muss das aber keineswegs heißen, dass ich mein Verhalten deswegen ändern muss! Das Evangelium ist immer auch eine Zumutung, aber ich sollte mir des Wirkens meines Verhaltens bewusst sein.

Und außerhalb unserer Gemeinde? Die anfangs aufzeigten Beispiele betreffen ja in erster Linie nicht unser Miteinander in der Kirchengemeinde, sondern in unserem Alltag. Gilt da Paulus´ Vorschlag auch? Was passiert, wenn ich alles erdulde, weil ich davon ausgehe, dass jeder sich irgendwann für sein Tun und Lassen rechtfertigen muss? Und die Mehrheit um mich herum denkt das nicht! Bin ich da nicht der Dumme? Dann macht doch jeder mit mir was er möchte! Denken Sie nur an solche Projekte wie die Stromtrassen, den Stuttgarter Bahnhof oder die umstrittenen neuen Windparks. Wenn ich mich da an Paulus hielte, gar nicht auszudenken! Wo bliebe meine Lebensqualität? Das wäre das Aus für alle besorgten Wutbürger, nur noch Duckmäuser!

Ja, liebe Gemeinde, wo bliebe ich, wenn ich alles erduldete?

Ich wäre wohl näher an der christlichen Botschaft.

Wenn Dich einer auf die linke Wange schlägt… - Sie erinnern sich an Jesu Worte aus der Bergpredigt?

Uns ist unbehaglich bei diesem Gedanken mit seiner Radikalität. Wir suchen nach einem „Aber“, doch so sehr wir uns auch winden, jedes Aber ist nur eine Ausrede, Ausflucht. Alles erdulden? Demütig sein? Eine solche Haltung passt nicht in unsere Zeit! Aber hat sie in die Zeit eines Martin von Tours oder einer Elisabeth von der Wartburg gepasst? Nein, auch damals war eine solche Haltung unpassend, wurde beargwöhnt und verspottet. Trotzdem ist davon eine Kraft ausgegangen, die die Menschen verändert und die Geschichte beeinflusst hat. Warum also nicht auch heute? Etwas weniger Egozentrik würde unserm Land, unserem Miteinander, uns selber gut tun.

Und doch, liebe Gemeinde, und doch gibt es ein Aber. Es gibt Grenzen der Toleranz; Grenzen dessen, was wir ertragen und hinnehmen dürfen. Diese Grenzen sind dort, wo unsere schwache Schwester oder unser wehrloser Bruder seiner Rechte und Würde beraubt wird! Da schließt sich der Kreis zum Ausgang unserer Gedanken: dort wo Menschen Opfer von Rassismus sind, ist eine solche Grenze. Solche Grenzen gibt es aber ebenso in unseren Sozialsystemen; die niemals in der Lage sein werden, alle Notfälle aufzufangen. Wenn einer durch das Netz fällt -ein Fall dem nicht zu helfen ist-, dann wird er zu unserem Nächsten, für den wir verantwortlich sind!

Das sind alles schöne Gedanken, werden sie vielleicht sagen, die passen gut in die Talkshows, aber nicht in unsere Realität.

Doch dahin passen Sie, dahin gehören sie! Nicht in die schönen Reden, sondern in den Alltag. Das was Paulus von den Christen in Rom einfordert ist nichts anderes als ein Blickwechsel: weg vom ich, hin zum Du! Diese alte, unbequeme und scheinbar realitätsferne Forderung hat die Welt schon oft zum Besseren verändert und das kann heute ebenso geschehen. Das beginnt schon im ganz kleinen, wenn Sie sich darauf einlassen. Natürlich ist es ärgerlich, wenn mich samstags der Rasenmäher 08:00 weckt, weil ich gerne ausschlafen möchte. Doch statt sich darüber aufzuregen oder gar einen Streit vom Zaun zu brechen, kann ein Gespräch mit dem Nachbarn, die Empathie an seinem Leben und etwas Großherzigkeit unsererseits für ein friedlicheres Miteinander sorgen. Und nach meiner Erfahrung färbt Toleranz auch auf andere ab; so sind wir nicht nur die Dummen, sondern die Glücklicheren von denen Segen ausgeht.

Der Segen Gottes, der größer ist als unsere menschliche Vorstellungskraft bewahre unsere herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen

 



Pfarrer Thomas-Michael Robscheit
Apolda & Kapellendorf
E-Mail: thm@robscheit.de

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