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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Reinhard Gaede

Hast du das auch schon einmal erlebt, dass du aufs Korn genommen wurdest? Manchmal macht einem das gar nichts aus. Stirnrunzeln. Scharfe Zwischenfragen. Angebrüllt werden. Aber wenn man das Gefühl hat, es geht nicht nur um Sachfragen, sondern man wird als Partner nicht ernst genommen, können Vorwürfe, Kritik oder tadelnde Urteile verletzen. Zumal, wenn wir uns missverstanden fühlen, wenn wir uns ehrliche Mühe gegeben haben, wie weh tun abfällige Äußerungen! Besonders wenn sie nicht im direkten Gespräch vorgetragen werden. (So hätte man ja noch eine Chance.)  Sondern wenn sie dritte zu hören bekommen. Das sind bittere Erfahrungen, wenn wir andere verächtlich über uns reden hören, womöglich sind sie zuvor zu uns noch recht freundlich gewesen.

Kummer mit den anderen allein? Oder auch Kummer mit uns selber? Sind wir vielleicht selber auch in derselben Gefahr wie unsere Richter? Dass wir selbst gerne zu Gericht sitzen. Dass wir die Fehler der anderen wie im Vergrößerungsglas bemerken und unsere eigenen im Verkleinerungsglas. Dass wir uns die Robe des Richters überwerfen und aus der Position des überlegenen Triumphs uns über einen Mitmenschen entrüsten. Anders gesagt: Sind wir wirklich so stark, wie wir tun, wenn wir über die Schwächen anderer zu Gericht sitzen? Am schlimmsten sind die Gerichtsszenen, in denen der Angeklagte seine Richter nicht erkennen kann. Weil sie sich verstecken in heimlichem Getuschel und übler Nachrede.

Fast verwundert fragt der Apostel: Warum richtest du deinen Bruder, warum verachtest du ihn? Und man könnte weiter fragen: Meinst du, du wärest besser als er?

Vielleicht hilft uns eine kleine heitere Fabel weiter, in der Richtung des Apostels zu denken, wie wir den Kummer überwinden, an den wir da erinnert wurden. Die Fabel handelt von einem kleinen Vogel. Eines Tages –  schwer zu begreifen warum – liegt der Vogel auf dem Rücken, die Beinchen hoch in die Luft gestreckt. Durch seine gespreizten Füßchen beobachtet er die Baumkronen über sich und den weit gespannten Himmel. Doch da erstarrt er plötzlich in einer gewaltigen Anstrengung. "Was soll das eigentlich?" fragt verwundert ein anderer Vogel in der Nähe. "Warum liegst du da und halst die Beine so starr?" Da antwortet der erste Vogel, ganz von sich überzeugt: "Ich trage den Himmel mit meinen Beinen. Wenn ich losließe, würde der Himmel herabstürzen." Kaum hat er's gesagt, löst sich ein Blatt vom nahen Eichenbaum und fällt leise raschelnd zur Erde. Darüber erschrickt unser Vogel so sehr, dass er sich schnell aufrichtet und davonfliegt. Der Himmel aber bleibt an seinem Ort.

Ich mag diese Fabel. In ihr vereint sich Humor und Menschenkenntnis. Als Kinder haben wir alle einmal davon geträumt, im Leben etwas ganz Großes zu vollbringen, vielleicht eine Leistung, von der viele sprechen werden.  Jeder ist von seiner Wichtigkeit, seiner Würde und von seinem Wert überzeugt. Doch dann die ersten Erfahrungen, zurückgestoßen zu werden. Es beginnt das verzweifelte Spiel um die Gunst der andern: Beifall finden. Und plötzlich wird aus dem Kindertraum der Ernst des Lebens. Feste Rollen, die uns einzwängen. Anpassung an die Erwartungen der andern. Alles ein Bedürfnis nach Anerkennung. Der Vogel auf dem Rücken, der den Himmel tragen will. Dieses komische Bild –  lustig als Kindertraum –  ist ein trauriges Bild, wenn es die Welt der

Erwachsenen meint. Vögel sind doch zum Fliegen da. Welchen Vorteil hat der auf dem Rücken

liegende Vogel? Sicher seinen Stolz: Du bist doch ein toller Kerl! Aber doch ist da eine ungestillte Sehnsucht: die Freiheit zum Fliegen fehlt. Vielleicht liegt hinter unseren Lähmungen eine Angst. Die Angst, dass es auch ohne uns gehen könnte. Die Angst, unser Ruhm könne verblassen, wenn ein anderer geehrt wird. Deshalb vielleicht soviel Richten und Verachten. Aus Angst, man könnte selbst zu kurz kommen. Plötzlich aber fliegt der Vogel. Das ganze war ein dummes Spiel, von einem raschelnden Blatt beendet. Plötzlich ist es mit der Pose des anmaßenden Richtens und dem verächtlichen Getue vorbei. Weil ein Gedanke aufblitzt. Du bist doch gar nicht der Richter. Gott ist es.

Und dann wird der Richter-Thron immer kleiner und kleiner, und daraus wird ein Betschemel, und auf dem kniest du, genauso wie der, den du eben noch verurteilt hast und murmelst: Gott sei mir Sünder gnädig. Wir alle, sind ja auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen. Ja, eine neue Wirklichkeit lässt uns den Grund unserer Rivalitäten vergessen. Wir werden davon weggeholt, kleinlich die Fehler anderer in der Vergangenheit zu zählen.

Wir werden ausgerichtet auf Hoffnung hin. Auf das Reich Gottes hin. Und das Reich Gottes ist "Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist" (14, 17) sagt Paulus. Gottes Herrschaft kommt. Wo bisher Hass und Verachtung regierten, kommt Friede. Wo Menschen Böses taten, beginnt Gutes in der Gerechtigkeit Gottes, wo Angst war, beginnt Freude. Das Reich Gottes vereint nicht einander Richtende und Verachtende, sondern gemeinsam Lobende und gemeinsam Hoffende. Weil Gott aufruft zu Gerechtigkeit und Friede und Freude in seinem Reich. 

Jetzt wären wir am Ende und hätten den Apostel verstanden, wenn viele nicht inzwischen wieder eingeschlafen wären und wieder da lägen wie der Vogel auf dem Rücken. Wir sollen nicht richten, deshalb sind wir neutral, sagen sie. Oh, da haben sie alles falsch verstanden!  Der Apostel, der zum Frieden mahnt, ist ein streitbarer Geist. Es gibt keinen Frieden, außer er wird erkämpft. Der Apostel versöhnt, indem er Position bezieht. Aber sein Streit ist nicht Geltungssucht, sondern ist ein Kampf für die Gnade. Er hat die Kirche geeint, indem er Vorstellungen bekämpfte, die die Gnade behinderten.

Denn es gab zwei Gruppen in der Gemeinde, die sich heftig bekämpften. Die einen waren Juden, bevor sie Christen wurden. Die anderen stammen aus dem Umfeld der heidnischen römischen Kulte. Der Streit geht um die Grundsatzfrage: Wie viel Freiheit schenkt der Glaube an Jesus Christus? Darf man als Christ Fleisch essen, das vermutlich aus den heidnischen Tempeln stammt und den Göttern geopfert worden ist? Oder sollte man die Finger davon lassen? Muss man als Christ(in) weiterhin den Sabbat mit all seinen Vorschriften oder die bisherigen Fest-Kalender beachten? Der Apostel hat den einen die Freiheit gebracht: Wenn doch Gott alles geschaffen hat, können wir ohne Angst genießen, was gut schmeckt, dann kann auch Fleisch aus heidnischen Tempeln nicht schädlich sein. Und die Menschen, welche die Freiheit schon hatten, hat er die Liebe gelehrt, auf  Schwächere Rücksicht zu nehmen. Wenn andere so unsicher sind, isst man am besten gemeinsam Gemüse.

Auch heute noch haben in manchen Ländern Christ(inn)en Mühe, Ängste aus der Zeit des Heidentums zu überwinden. Die Angst vor Geistern ist in Sumatra auf Indonesien noch nicht ganz überwunden. Lieber lassen viele nachts das Licht an. 

Christinnen und Christen  hoffen und bekennen und bekennen mit dem Apostel Paulus: "Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude", Röm 14, 7. Das ist das gemeinsame Fundament für Christinnen und Christen, seien sie mutig oder ängstlich, stark oder schwach im Glauben. Unser Glaube hat Hand und Fuß. "Stellt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit", sagt der Apostel (Röm 6, 19). Gottes Gnade macht uns frei, Gutes zu tun. Nicht wir allein, sondern wir zusammen.

Beim Festival „Weite wirkt“ hatte die Evangelische Kirche von Westfalen Tausende evangelische Christinnen und Christen aus aller Welt vom 6.-8. Mai 2016 zu Diskussionen, Konzerten, Begegnungen eingeladen. Mit dabei: über tausend Engagierte aus der Flüchtlingshilfe – stellvertretend für die vielen Tausend, die sich in den letzten Monaten um Geflüchtete bei uns in Deutschland gekümmert haben. Und die ihnen gezeigt haben: „Egal woher du kommst – zuhause ist da, wo deine Freunde sind.“  Auch mehr als 500 Geflüchtete waren im Stadion und bekamen einen Vorgeschmack davon, was das heißen könnte: “Hier sind wir willkommen.“ OKR Dr. Ulrich Möller sagte: Ich bin „Menschen begegnet, die auf ihre Weise zeigen: Gott bringt auch heute die Welt zum Leuchten. Er befreit Verfolgte, vor Krieg Geflohene und Hungernde aus tödlicher Enge und führt sie hinaus ins Weite. Dazu braucht er Menschen. …Bischof Zephanja Kameeta aus Namibia zum Beispiel. Er sah das Elend in seinem Land. Im namibischen Dorf Otjiverro zum Beispiel. Die Menschen dort waren arm. Jeder Tag war ein Kampf ums bloße Überleben. Die Kinder hatten keine Zukunft. Und dann führte Bischof Kameeta das „Bedingungslose Grundeinkommen“ ein. Das sind bis zu 8 Euro pro Person im Monat. Die Bevölkerung schöpfte Hoffnung. Frauen wurden aktiv für sich und ihre Kinder. Wie Frieda Nembwaga, Mutter von neun Kindern. Zunächst baute sie sich einen kleinen Ofen aus gebranntem Ton im Freien, der bald nicht mehr ausreichte. Dann erwirtschaftete sie sich einen Holzofen, inzwischen ist auch ihr Gasofen erneut zu klein geworden. ‚Ich kann gar nicht so viel Brot backen, wie meine Kunden kaufen wollen’, sagt sie. Der Lebensunterhalt für ihre Familie ist gesichert, auch das Schulgeld für ihre Kinder. Das bedingungslose Grundeinkommen hat dieses Dorf zum Leuchten gebracht. Abgeschriebene Menschen erlebten: Gott hat Gefallen an mir – das richtet mich auf, gibt mir meine Würde zurück, stärkt mir den Rücken und führt mich aus der Enge in die Weite. Christlicher Glaube schenkt die Kraft, sich nicht damit abzufinden, wenn Menschen abgeschrieben und ausgegrenzt werden. Gott führt hinaus ins Weite. Christliche Hoffnung hat langen Atem.“

"Stellt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit", sagt der Apostel (6, 19). Gottes Gnade macht uns frei, Gutes zu tun. Nicht wir allein, sondern wir zusammen.

Amen.



Pfarrer Dr. Reinhard Gaede
Herford
E-Mail: reinhard-gaede@gmx.de

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