Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19.06.2016

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Olaf Wassmuth

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

wenn ein Fussballspiel im Fernsehen zu Ende ist, sagt meine Frau meistens: „Jetzt können wir ja umschalten“. Ich sehe das anders. Denn ich höre gerne noch die Analyse des Spiels, die in allen Fernsehsendern inzwischen üblich ist. Ich will verstehen, was ich gesehen habe. Ich finde es faszinierend, wenn ein Mehmet Scholl oder ein Oliver Kahn ihr Urteil abgeben: schnell, fachkundig, manchmal ziemlich scharf, aber meistens doch präzise.

Höwedes hatte hinten vor allem vor der Pause Mühe, seine Abwehrseite im Griff zu halten. Özil ist in der ersten Halbzeit einfach zu viel gelaufen und hat dabei unnötig Kräfte verbraucht. Mario Götze fehlte es an Durchschlagskraft, obwohl er versuchte unberechenbar zu sein. Seine Form ist derzeit nicht EM-reif. Unverständlich, warum Jogi Löw den Elfmeter von Podolski schießen ließ und nicht von Schweinsteiger.

Auch die Zeitungen veröffentlichen in diesen Tagen ja immer Einzelkritiken. Das Verhalten jedes einzelnen Spielers wird unter die Lupe genommen. Immer auch unter der Fragestellung: Hat er wirklich die geforderte Leistung erbracht oder wäre auf dieser Position nicht ein anderer besser gewesen?

Fussballer müssen solche öffentliche Kritik aushalten. Schließlich sind sie keine Ehrenamtlichen, sondern hoch bezahlte Profis. Manchmal denke ich allerdings: Was wäre mit mir, wenn ich so scharf beurteilt und gerichtet würde? Was, wenn nach jedem Tag meines Lebens, den ich einigermaßen überstanden habe, Experten meine Leistung beurteilten? Stellen Sie sich mal vor, Ihr privates und berufliches Verhalten würde immer gleich am nächsten Tag in der Zeitung besprochen:

Schon am Beginn des Tages wirkte Waßmuth stellenweise unausgeschlafen. Unverständlich, dass er volle zwei Stunden am Schreibtisch verbrachte, ohne dass er die wichtigen Telefonate mit X und mit Y erledigte. Unnötig oft checkte er seine Emails. Um die Mittagszeit herum zeigte Wassmuth sich mehrere Male viel zu ungeduldig mit seinen Kindern. Im Konfirmandenunterricht verlor er wiederholt die Übersicht und reagierte nicht ausreichend auf die Bedürfnisse einiger lernschwacher Kinder. Bei der Predigtvorbereitung ließ Waßmuth sich ständig ablenken und brauchte so weit mehr Zeit als eigentlich nötig.

Hoppla: So beurteilt zu werden, das wäre nicht schön – auch wenn womöglich alles stimmt.

Es ist unangenehm, wenn andere uns beurteilen oder gar verurteilen. Trotzdem sind wir Menschen geneigt, das Verhalten – und manchmal sogar das bloße Auftreten oder Aussehen – der anderen zu bewerten; oft so schnell und selbstverständlich, dass wir es gar nicht merken, dass wir über unsere Mitmenschen urteilen. Bei den meisten ist die Lust an einer Meinungsäußerung über andere ungleich stärker ausgebildet als die Fähigkeit zur Selbstkritik.

 

Unser Predigttext für den heutigen Sonntag enthält in dieser Sache eine schlechte Nachricht, eine gute Nachricht und eine einigermaßen zwingende Folgerung. Hören Sie selbst:  Ich lese aus dem 14. Kapitel des Römerbriefes – ein Echo dessen, was wir eben schon in der Evangelienlesung gehört haben.

 

10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.

 11 Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«

 12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

 13 Darum laßt uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

 

Liebe Gemeinde,

eine schlechte Nachricht, eine gute Nachricht und eine zwingende Folgerung, so hatte ich gesagt, stecken in diesen Briefzeilen des Paulus.

Die schlechte Nachricht, so sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus, ist die: Wir werden alle beurteilt werden. Wir müssen uns in der Tat die Einzelkritik Gottes gefallen lassen – und dabei wird ihm nichts, weder Berufliches noch Privates, verborgen bleiben. Wir hören das nicht mehr so gern, auch in der Kirche nicht, aber es ist eine Tatsache, die der Bibel von der ersten bis zur letzten Seite selbstverständlich ist: Wir Menschen sind vor Gott verantwortlich für unser Leben, für die geschenkte Zeit, für die Gaben und Fähigkeiten, die uns nur geliehen sind. Was machen wir mit den Pfunden, die uns anvertraut sind – und am Ende ist doch jede Minute unseres Lebens ein solches Pfund?

Wer so denkt, wer ständig im Kopf hat: ich muss Rechenschaft ablegen über meine Zeit und meine Gaben, der kann freilich in eine Art von Panik geraten, die dem Geschenk des Lebens diametral widerspricht.

Wenn wir vor Gott verantwortlich sind für unser Leben, dann heißt das nicht, dass wir unser Leben sozusagen lückenlos, fehlerfrei und gleichsam effizient gelebt haben müssen.

 

Die gute Nachricht, von Paulus weniger ausgesprochen als stillschweigend vorausgesetzt, ist die: Gott blickt barmherzig auf unser Leben. Wenn wir einmal Rechenschaft ablegen müssen, dann ist das weder eine Abrechnung noch eine Prüfung. Die gute Nachricht, das Evangelium, ist, dass uns unser Leben und alle seine Chancen zuerst einmal als Geschenk gegeben sind – und nicht als Auftrag, den wir gleichsam abzuarbeiten hätten. Jede Minute unseres Lebens ist zuallererst dazu da, dass wir uns daran freuen. Wenn Gott am Ende der Zeit mit uns auf unser Leben blickt, dann wird das ganz bestimmt auch eine Frage sein: Hast Dir Dein Leben eigentlich gefallen – hattest Du Freude daran? Hast Du Dir selber gegönnt, was Dir geschenkt wurde? Wenn es dann ums Tun und Lassen geht, so wird es Gott nicht darauf ankommen, dass uns alles geglückt ist. Es wird ihm – so glaube ich Jesus zu verstehen, wenn er von anvertrauten Pfunden spricht – es wird ihm darauf ankommen dass wir das Leben gewagt und nicht zurückbehalten haben. Gott weiß und hat es eingeplant, dass das Scheitern dazu gehört, die scheinbar sinnlosen Schleifen und Umwege, auch Fehler und Irrtümer.

Wenn Gott so viel Verständnis für uns aufbringt – wie kann es dann sein, dass wir untereinander so unbarmherzig sind? Das ist die zwingende Folgerung, die Jesus und auch Paulus ziehen. Warum gehen wir so hart miteinander ins Gericht, da wir doch selber viel freundlicher angesehen werden, als wir es verdient haben?

 

Am Ende unseres Lebens steht kein Wettbewerb um die besten Plätze im Himmel. Wir konkurrieren nicht miteinander um die Gunst vor Gott. Wenn wir auf uns selber schauen, wenn wir uns ehrlich im Spiegel sehen mit allen Defiziten und Mängeln, dann haben wir nicht den geringsten Grund uns über andere zu erheben. Dann geht es um Demut, die bekennt: Vor Gott habe ich genauso wenig vorzuweisen wie mein Nächster. Das heißt nicht, dass in der Nacht der Sünden alle Katzen grau sind. Das heißt nicht, dass wir alle kleine Sünderlein sind, „s’war immer so“. Das wäre Karnevalstheologie, die die Sünde bagatellisiert. Gott wird Unterschiede sehen und Unterschiede machen. Doch „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“.

Im Angesicht der Sünde und – erst recht! – im Angesicht der Barmherzigkeit Gottes, ist eine besondere Form menschlicher Solidarität angebracht, die nicht einfach die Augen zukneift, sondern es zutiefst gut meint mit dem anderen:

 

13 Darum laßt uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

 

Das geht über die Mahnung, einander nicht zu richten, weit hinaus. Nicht nur den anderen nicht richten, nicht verurteilen, sondern positiv auf ihn zugehen. Wege zueinander ebnen statt Steine in den Weg legen.

Mich erinnert dieser Vers an Martin Luthers Erklärung zum 8. Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten:" Luther sagt sehr deutlich: Man soll nicht nur kein falsches Zeugnis verbreiten über andere; nicht nur nicht lügen oder jemanden hinter seinem Rücken schlecht machen, sondern „Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren!"

 

Liebe Gemeinde,

ich bin überzeugt: die Art wie wir über andere Menschen reden, verrät alles darüber, ob wir verstanden haben, was Leben aus Gottes Gnade bedeutet. Lassen Sie uns darauf achten, auch dann, wenn wir mit Recht etwas zu kritisieren haben. Der andere ist nicht nur der Spiegel meiner eigenen Fehler und Irrtümer. Der andere ist immer auch der Mensch, für den Gottes alles gegeben hat. Genauso wie für mich. Amen.



Rev. Dr. Olaf Wassmuth
Deutsche Evangelische Kirchengemeinde Washington, D.C./USA
E-Mail: pastor@glcwashington.org

(zurück zum Seitenanfang)