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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 03.07.2016

"Sündenspiegelscherben"
Predigt zu Römer 6:3-11, verfasst von Dörte Gebhard

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt.

Amen.

 

Liebe Gemeinde

 

Sünde.

Erwarten manche jetzt indiskrete Fragen?

Beginnen wir gleich mit ihnen! Dann haben wir sie hinter uns!

 

Haben Sie daheim einen grossen Spiegel, der fest an der Wand hängt?

Stehen Sie jeden Tag davor?

Verweilen Sie kurz oder lang, ehe Sie es wagen, von sich selbst abzusehen, sich anderem zuzuwenden?

Passiert vor dem Spiegel viel oder fast nichts, ehe Sie dem Tag, der Welt, den Menschen um sich her entgegengehen?

 

Aber Sünden?

Dazu braucht es mehr als einen Badezimmerspiegel.

Mit grossen Spiegeln übertrieben haben es die Kirchen.

Vor mehr als anderthalb Jahrtausenden schon.

Nein, sie haben keine realen Spiegel installiert, weder am Eingang, noch an Altären oder Säulen, nicht in den Bankreihen, sondern - - - überall!

Sie erschufen lange vor dem Internet virtuelle, fast allgegenwärtige Spiegel, überdimensional grosse noch dazu: sogenannte "Sündenspiegel".

 

"Sündenspiegel" waren gewissermassen mobile Spiegel, die immer in Reichweite waren.

Und die immer genau diejenigen zur Hand nahmen, die selbst nicht hineinschauen wollten.

Die die einen den anderen vorhielten - und dadurch selbst nichts einsehen konnten.

 

"Sündenspiegel" waren Listen, in denen mit Akribie verzeichnet war, was alles verwerflich und verboten sei. Mit List und natürlich auch mit leiser Lust wurden sie verfasst, mit Frust und Last wurden sie gelesen und wohl mehr als einmal herzlich gehasst.

 

Schon muss ich mich korrigieren: Sündenspiegel sind Listen, auch heutzutage, die nach wie vor durch die Welt geistern, speziell durch die virtuelle Welt. Ich brauchte leider nicht lange zu suchen, um ein solch gruseliges, virtuelles "Spiegelkabinett" zu finden. Dieser ausdrücklich auch so genannte "Sündenspiegel" wird dabei auch noch angepriesen als praktische Hilfe für die Seelsorge.1 Die Aufzählungen möglicher Sünden sind unermesslich lang und mit Bibelstellen ergänzt, die jeweils aus ihrem Kontext, ihren Geschichten und ihrem Zusammenhang gerissen sind.

 

"Geisterbeschwörung" und "Zauberei" werden zuerst genannt, aber gleich darauf werden "Menschen, Bücher, Hobbys, Arbeit" als mögliche Ursachen für Sünden genannt. "Menschen, Bücher, Hobbys, Arbeit"! Ich fahre noch einen kleinen Moment mit dieser makabren Auswahl fort. Insbesondere die Zusammenstellung macht es so bizarr: "ständige Unruhe" und das Gefühl, keine Zeit zu haben, unreife Elternbindungen, Kinderopfer, Selbstverstümmelung, Tätowierungen, Selbstmordgedanken ...

Was beim Gebot "Du sollst nicht ehebrechen" aufgezählt wird, erspare ich uns aus Gründen des Anstands und unserer guten Sitten vor Ort!

 

Aber die lange Liste ist da noch nicht am Ende: Steuerhinterziehung, Mobbing, Feigheit und Ehrgeiz und vieles mehr werden aneinandergereiht, der vorletzte Punkt ist die "Vergleichssucht".

Schauen wir nicht länger in diesen Sündenspiegel! Ein kleiner Bruchteil reicht, mehr wäre auch gefährlich, wie gleich zu sehen sein wird ...

 

Sünden?

Nein, das sei ferne! Nur eine einzige Sünde kann ich erkennen: so mit der Sünde umzugehen.

 

Spiegelglatte Oberflächen sind stets eine Gefahr, das weiss jedes Kind.

Vorspiegelungen sind oft Vorspiegelungen falscher Tatsachen, das weiss die Menschheit seit der Antike und erzählt sich die Geschichte von Narziss, dem selbstverliebten Jüngling.

Seine Sündenspiegelgeschichte ist dramatisch, lehrreich und tragisch.

 

Narziss wird - erzählt der uralte, griechische Mythos - von vielen Menschen umworben. Er ist aber von trotzigem Stolz auf seine eigene Schönheit erfüllt und weist all seine Verehrer und Verehrerinnen herzlos zurück. Er kränkt jede und jeden. Manche büssen darüber ihr Leben ein. Narziss wird daraufhin von unstillbarer Selbstliebe erfasst.

 

Als er sich in der unberührten Natur bei einer einsamen Wasserquelle niederlässt, verliebt er sich in sein eigenes Spiegelbild.

Er ist allein und er bleibt allein.

Niemand eilt ihm zu Hilfe.

Niemand heilt ihn.

Niemand lenkt seinen Blick freundlich von der spiegelglatten Wasserfläche ab.

Mehr als nur unbequem, ohne Weitblick, ohne Perspektive, in sich selbst verkrümmt, kniet er fortan vor der Pfütze. Wir können uns das lebhaft ausmalen:

Weil er sein Spiegelbild nicht erreichen kann, verschmachtet er und stirbt schliesslich an seiner eigenen, unerfüllbaren Sehnsucht nach sich selbst.

 

Vor Sündenspiegeln aller Arten ist zu warnen! Sie sind alles andere als harmlos, sondern können bei übermässigem Gebrauch kränken, krankmachen und zuletzt tödlich wirken.

 

 

 

 

Narziss2

 

Liebe Gemeinde

 

Spätestens jetzt stehen wir vor einem grossen Sündenspiegelscherbenhaufen.

 

Aber nur an einer Stelle habe ich gefunden, wie man hinter die Sündenspiegel kommt, ohne noch an ihren Scherbenhaufen zu sterben:

 

Bei Paulus, in seinem Brief an die Römer.

Wir haben in der Lesung das 6. Kapitel in Auszügen gehört. Fröhlich redet Paulus von sich und ausserdem auch alle anderen als Tote an. Wer schon gestorben ist, kann nicht noch "toter" werden. Paulus schreibt:

 

Für die Sünde sind wir ja tot.

Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr. ...

Für die Sünde seid ihr tot.

 

So lautet die entscheidende Frage:

Wie stirbt man kurz und schmerzlos im Angesicht der Sünde, dass man nachher lebendiger als zuvor sein kann?

Wenn man schon, umstellt von Spiegeln, umkommen muss, wer findet und bringt einen dann ins Leben zurück?

 

Denn vorbeugende Massnahmen gegen den Tod gibt es nicht!

Dann wäre es mit dem Zuhängen oder Abhängen des Badezimmerspiegels getan. Es nützt auch gar nichts, das Zähneputzen zu vernachlässigen oder ungepflegt aus dem Haus zu stürzen, im Gegenteil!

Man stirbt für die Sünde besonders kurz und schmerzlos im Gottesdienst, bei der Taufe. Paulus hält noch einmal fest, was allen schon klar sein sollte:

 

Ihr wisst doch:

Bei unserer Taufe wurden wir förmlich in Christus Jesus hineingetaucht.

So wurden wir bei der Taufe in seinen Tod mit hineingenommen.

Und weil wir bei der Taufe mit ihm gestorben sind,

wurden wir auch mit ihm begraben.

Dadurch wurde der Leib vernichtet, der im Dienst der Sünde stand.

Jetzt sind wir nicht mehr unterworfen,.

Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr.

 

Paulus sieht in der Taufe, wie die Sünde ersäuft und ertränkt wird. Indem man den schwarzen Wasserspiegel nicht anstarrt, sondern - durchtaucht.

Nicht nur die Stirn wurde bei der Taufe seinerzeit zaghaft benetzt, sondern jeder Täufling ganz untergetaucht. Mit Haut und Haar, sozusagen auch um Kopf und Kragen gebracht ...

Dabei "bricht" der Wasserspiegel auf, wird das eigene Spiegelbild zerstört.

Beim Auftauchen sieht die Welt anders aus:

 

Wenn wir nun mit Christus gestorben sind,

dann werden wir auch mit ihm leben.

Das ist unser Glaube.

 

 

Denn dadurch, dass Christus gestorben ist,

ist er für die Sünde ein für alle Mal tot.

Aber das Leben,

das er jetzt lebt,

lebt er ganz für Gott.

 

Aus dem Taufbecken sind wir alle seinerzeit wieder "aufgetaucht", ganz gleich, wie sehr oder kaum wir untergetaucht wurden.

 

Und die Sünde?

Paulus stellt die Sünde als eine universale Macht da, die eine gewaltige Eigendynamik entwickelt, in uns und um uns her. Unerforschlich sind die Abgründe aus vergangenen und gegenwärtigen Verantwortungen, Verhängnissen, aus Versagen und Vergehen, aus Vergessen und Verlassen.

 

Ihr Einfluss ist so gross, dass wir uns selbst nicht entziehen können. Wir kommen allein nicht heraus, weder von Anfang an, noch auf die Dauer, noch am Schluss, insbesondere nicht beim eigenen Rückblick auf das Gewesene.

 

Wir können uns nicht selbst "herausreden", auch wenn wir noch so viele Ausreden haben.

Wir können nicht fliehen, auch wenn uns Ausflüchte gewohnt und geläufig sind.

Wir können noch so aktiv werden, die Trägheit und die Feigheit, Gutes zu tun, werfen Menschen nie weit genug von sich fort.

 

Gottes Initiative ist notwendig.

Überhaupt nur um Gottes Willen tauchen wir aus der Taufe wieder auf!

Nur um Gottes Willen ist auch Jesus aus dem Grab wieder aufgetaucht.

 

Das Spiegelbild ist fort, das Wasser wild durcheinander, aber, man braucht nicht lange, um es zu merken, die Sünde ist immer noch da!

 

Die Lieblosigkeit, die narzisstische Kurzsichtigkeit, der Hochmut, die Gier, die Welt und alle Schätze für sich allein haben zu wollen, sind nicht verschwunden und nicht aus mir heraus. Paulus weiss es von sich selbst:

Der Wille zum Guten ist bei mir zwar durchaus vorhanden, aber nicht die Fähigkeit dazu. Ich tue nicht das, was ich eigentlich will - das Gute. Sondern das Böse, das ich nicht will - das tue ich (Röm 7, 18-19).

 

Ich bleibe im Bilde, im Bilder der Taufe: Die Sünde ist immer noch da, aber sie muss nun allein baden gehen!

 

Im Vertrauen auf Jesus Christus ist die Sünde noch da, aber nun unter Wasser. Die Abgründe sind nicht aus der Welt, aber gewissermassen(!) unter Wasser.

 

Wir aber sind wieder aufgetaucht. Wir leben an Gottes frischer Luft. Natürlich tappen wir immer wieder in die Pfützen, die unseren Blick nur auf uns selbst lenken und die Gesichter der anderen vergessen lassen, natürlich stehen wir wieder vor Spiegeln und sehen nur uns und unsere Wunden und unseren Narben und unsere Zweifel und unsere Fehler und unsere ...

 

Für diese Momente schreibt Paulus:

 

Genau das sollt ihr ... von euch denken:

Für die Sünde seid ihr tot.

Aber ihr lebt für Gott,

weil ihr zu Christus Jesus gehört.

 

Mit dieser Zuversicht tauchen Christinnen und Christen immer wieder auf.

An dieser Hoffnung zerbricht jeder Sündenspiegel zu einem grossen Scherbenhaufen. Der Badezimmerspiegel aber bleibt unversehrt.

 

Mit diesem Gottvertrauen tauchen Christinnen und Christen überall auf - um Gottes Willen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne, wo auch immer wir auftauchen, in Christus Jesus, Amen.

 

 

 

 

1 Vgl. www.heilungsraeume-hannover.de/pdf/h_suende.pdf.

2 Caravaggio, 1598/99, Galleria Nazionale d'Arte Antica, Rom, vgl. Wikipediaseite Artikel Narziss.

 



Pfarrerin in Schöftland Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken/Schweiz
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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