Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

8. Sonntag nach Trinitatis, 17.07.2016

...unsrer selbst
Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von David Zersen

Der Schwerpunkt auf Gastfreundschaft, der sowohl im Evangelium als auch in der Lesung aus dem Alten Testament für den heutigen Sonntag gelegt wird, erinnert mich nicht nur an die sozialen Erwartungen innerhalb der Gesellschaft des Mittleren Ostens in biblischer Zeit, sondern auch an eine Handlung, welche auch jemand meines Alters selbst aus meiner Kindheit heraus dokumentieren/ nachweisen kann. Wie wir aus vielen biblischen Geschichten wissen, waren Reisende in der alten Welt oft von der Freundlichkeit von Gastgebern abhängig, welche keinen Grund dafür hatten, Fremde willkommen zu heißen außer denjenigen, dass sie selbst einmal auf Reisen auf die selbe Form der Unterstützung angewiesen sein könnten. Bei dieser Unterstützung handelt es sich nicht um bloße Toleranz. Es galt, den Fremden als einen Gast zu behandeln – dazu gehörten Wasser zum Waschen, Trinkwasser, Essen, um den Hunger zu stillen und ein Bett für die Nacht. Häufig wurden Fremde mit mehr Aufmerksamkeit behandelt als es üblicherweise für Mitglieder der eigenen Familie der Fall war.

Ich zähle mich selbst zu den Glücklichen, die sich an ähnliche Geschichten aus der eigenen Kindheit erinnern, obwohl ich zugeben muss, dass mich die Situation manchmal beschämte. Wir lebten in einem Vorort von Chicago und mein Vater hatte fünf Onkel in nahegelegenen ländlichen Gemeinden, die alle Bauern waren. An Sonntagnachmittagen wurden wir manchmal ins Auto verfrachtet und die Familie fuhr zu einem der Bauernhöfe der Onkel. Wir kamen stets ohne Einladung und unangekündigt, wurden aber dennoch mit offenen Armen empfangen, der Tisch war immer mit Speisen aus der Vorratskammer übersäht, die Onkel und Tanten schienen stets erfreut, uns zu bewirten – manchmal sogar regelrecht glücklich darüber, dass wir uns an jenem Sonntag für ihren Hof als Ziel entschieden hatten./ dass wir (ausgerechnet) ihren Hof als Ziel dieses Sonntages ausgewählt hatten.

 

Heute würde die Geschichte vermutlich anders erfahren/ ausgelebt werden. Es würde als unhöflich angesehen werden, einfach ohne Einladung und ohne vorherige Ankündigung aufzutauchen. Die Gastgeber könnten beschämt sein, weil das Haus nicht sauber und aufgeräumt wäre, oder weil nichts vorbereitet wäre, was man den Gästen anbieten könnte. Zudem könnte die Lieblingssendung im Fernsehen verpasst werden, wenn man stattdessen selbst für die Unterhaltung sorgen müsste, oder es könnten tatsächlich eingeladene Gäste auftauchen, was wiederum die unangekündigten Besucher beschämen könnte, die somit als Eindringlinge erscheinen würden.

Aus Gerechtigkeit gegenüber potenziellen Gastgebern muss jedoch gesagt werden, dass Zeit für aufwändige Großzügigkeit aus dem Grund beschränkt sein kann, da tatsächlich viele Menschen in Vollzeit arbeiten und jedes kleine Maß an Freizeit, dass verfügbar sein könnte, zum Erledigen von Einkäufen, für die Kinder, für den Besuch von Elternabenden, für das Einhalten von Arztterminen, für den Transport der Kinder zum Sport, für Gartenarbeit, um das Auto in die Werkstatt zu bringen usw. genutzt werden muss. Ich kann diese Liste sehr leicht selbst fortsetzen, weil ich unsere eigenen Kinder in ihre eigenen zahlreichen Aktivitäten eingebunden sehe, und ich weiß, dass sie schockiert wären, wenn Jesus eines Sonntagnachmittags mit dem Ziel, eine Weile auszuspannen, vor ihrer Tür erscheinen würde.

 

Biblische Vergleiche mit gegenwärtigen Erfahrungen

Dieser Verweis/ Hinweis/ diese Referenz leitet die heutige Lesung aus dem Evangelium ein und ermutigt uns, uns zu fragen, ob Maria und Martha nicht auch etwas auf dem Terminplan hatten, als Jesus ankam. Vor dem Hintergrund dessen, was wir über die Gastfreundschaft im Mittleren Osten und der harten Arbeit, die die Vorbereitungen für Gäste erforderte, wissen, denke ich, dass es angemessen ist, zu sagen, dass Martha, die Jesus an der Tür empfängt, sich gefragt haben mag, ob wohl noch Pita in der Vorratskammer vorhanden war. Auf jeden Fall gab sie sich besondere Mühe, etwas zuzubereiten, weil großzügige Gastfreundschaft selbstverständlich war. Nicht selbstverständlich ist jedoch, warum Maria, vielleicht die Extrovertiertere der beiden, Jesus sofort zu einer Sitzgelegenheit geleitete und ihn in eine kluge geistliche Diskussion verwickelte.

Martha beging mit ihrer Großzügigkeit keinen Fehler. Aber die Geschichte lässt uns uns selbst fragen, woher wir unsere eigene Motivation dazu nehmen, uns um andere zu kümmern und liebevoll miteinander umzugehen/ einander zu lieben. Zumindest in dieser Geschichte ist Maria die Zuhörerin und Jesus sagt, dass sie gut daran tun, zuzuhören. Von ihm erfährt sie über Liebe und Freundlichkeit, etwas, was sie sicherlich bei anderen Gelegenheiten in die Tat umsetzen wird. Vielleicht war Martha in vorausgegangenen Situationen die Zuhörerin, und von Jesus’ Worten lernte sie, eine bessere Version ihrer selbst zu sein. Ein profunder Gedanke bildet das Zentrum dieser Überlegung. Kürzlich hörte ich eine Lesung des großartigen deutschen Philosophen Jürgen Habermas, der sich offiziell als Atheist bezeichnet. Dennoch forderte er seine Zuhörerschaft dazu auf, sich zu fragen, ob die progressiven Säkularisten unserer Zeit tatsächlich die nötige Perspektive haben, um unsere sozialen Probleme angehen zu können. Er fragte sich während der Lesung laut, ob nicht die religiösen Traditionen fähiger dazu seien, die gesellschaftlichen Probleme anzugehen und zu lösen, mit denen wir heute kämpfen. Vielleicht würde er den Marias unserer Welt den Rat geben, dass es wichtig ist, auf ihre spirituellen/ geistlichen Traditionen zu hören, wenn sie jemals die Marthas sein wollen, die dazu fähig sind, sich um Bedürftige zu kümmern.

Die heutige Lesung aus dem Alten Testament (Gen. 18:1-10a) stellt eine ähnliche Überlegung innerhalb eines Kontextes der Gastfreundschaft vor. Jene großartige geheimnisvolle Geschichte, in der Abraham und Sarah von drei Fremden aufgesucht werden, hat Dichter und Künstler über Jahrtausende dazu angeregt, mit diesem sprichwörtlichen Rätsel zu spielen. Als guter Gastgeber gibt Abraham sich große Mühe, sich angemessen um die Fremden zu kümmern, und einer von ihnen kündigt an, Sarah, welche schon hoch betagt ist, werde einen Sohn gebären. Sarah beginnt laut zu lachen und einer der Fremden fragt: „Gibt es irgendetwas, das zu außergewöhnlich für Gott ist?“ Andrei Rubljow, der großartige russische Ikonenmaler, porträtiert die drei Besucher als die Persönlichkeiten der Trinität. Er sieht Gott als zu dem betagten Paar sprechend und sie auf jenes geliebte Versprechen des Gehorsams und Dienstes, welches folgen wird, vorbereitend.


 

Konsequenzen/ Folgen der Lesungen für uns

Beide Schauplätze, Situationen, in denen Gastfreundschaft ermutigt und praktiziert werden, enthalten für Dich und für mich und für jedes Mitglied unserer heutigen Gesellschaft eine rührende Botschaft. Wir werden von Fremden aufgesucht, von Menschen und Aussichten, die uns beunruhigen und verunsichern. Einige politische Anführer/ Führungskräfte bestehen darauf, dass wir die Fremden fortschicken, um Sicherheit für unser Land zu gewährleisten. Der aktuellen Präsidentschaftskampagne in den Vereinigten Staaten liegt in vielen Bereichen Xenophobie zugrunde. Uns wird erzählt, die Fremden könnten uns unsere Arbeitsplätze wegnehmen, unser Rechtssystem durch die Scharia ersetzen oder vielleicht sogar unsere Städte bombardieren. Lösungen, die von einigen vorgeschlagen werden, involvieren das Bauen von Mauern oder Beschränkung der Einwanderung. Wie praktiziert man in einer solchen Situation Gastfreundschaft? Wie können wir die außergewöhnliche Freundlichkeit zeigen, die wir von Jesus gelernt haben? Und was noch besorgniserregender ist, was geschieht, wenn Jesus selbst in Gestalt eines dieser Fremden zu uns kommt?

Ein noch größeres Anliegen ist die Frage, die Gott Sarah stellt, als sie über die Vorstellung lacht, ein Kind zu gebären: „Gibt es irgendetwas, das zu außergewöhnlich für Gott ist?“ Dies ist eine berechtigte Frage an jeden von uns. Wir werden mit einer Menge Herausforderungen konfrontiert, die soziale Unruhen, rassistische Vorurteile und Demonstrationen beinhalten, welche ihrerseits wiederum zu Gewalt führen können. Die weltlichen Experten erinnern uns daran, dass diese Probleme in den Vereinigten Staaten nichts Neues sind, dass wir mit ihnen seit Jahrhunderten zu kämpfen haben und dennoch zu keiner Lösung gekommen sind. Zu den Problemen gehören zerrüttete Familien, Mangel an Bildung, schlechte Chancen auf Arbeitsplätze, Bandengewalt in urbanen Zentren und hoffnungslose Aussichten auf die Zukunft. Einige würden vermuten, dass die Hautfarbe einer Person im Zentrum der gesellschaftlichen Konflikte der Vereinigten Staaten steht, aber tatsächlich sind alle oben aufgeführten Sachverhalte Teil des Problems – und Teil der Lösung.

Jürgen Habermas stellt die richtige Frage, ob weltliche Lösungen gesellschaftliche Probleme beheben können, deren Essenz jedoch ethischer und geistlicher Natur ist. Nur eine Person mit Glauben kann fragen, ob es etwas gibt, das für Gott zu außergewöhnlich ist. Diese Überzeugung teilt auch der methodistische Bürgermeister von Atlanta, Kasim Reed, der angesichts der aktuellen Proteste, Demonstrationen und Unruhen in den Vereinigten Staaten gesagt hat, dass wir alle nach einer besseren Version unserer Selbst suchen müssen, ein Mittel, um das zu werden, was wir noch nicht erreicht haben. Als Christen ist dies unsere gewisseste Überzeugung: Wir sind noch nicht was wir sein werden/ sollen.

Unsere Lehrer in diesen Lesungen, Abraham und Sara, Maria und Martha, verstanden dies. Sich für den „besseren Teil“ zu entscheiden beinhaltet auch, uns von Gott mit seinen Versprechen und seiner Liebe überraschen zu lassen. Wenn wir die neue Gestalt, die Gott in uns durch Tod und Auferstehung Jesu schaffen möchte, nicht zurückweisen, dann können wir gemeinsam und allein neue Versionen unserer selbst erfahren.

Wir können den Bruder und die Schwester im Fremden erkennen, die neue Möglichkeit, wo kein Ausweg zu sein schien, und außergewöhnliche Liebe anstelle der Hoffnungslosigkeit.

 



Prof. Dr. Dr. David Zersen
Austin
E-Mail: djzersen@aol.com

(zurück zum Seitenanfang)