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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 31.07.2016

Ein Frühling in Jerusalem
Predigt zu Römer 9:1-8.14-18, verfasst von Sven Keppler

Quelle: Wolfgang Büscher, Ein Frühling in Jerusalem, Berlin 2014

 

Der Predigttext wird vorab als Epistel gelesen: Röm 9,1-8.14-18

 

 

I. Liebe Gemeinde,

ich liebe unsere Religion mit ganzem Herzen. Und ohne den Glauben kann ich mir mein Leben nicht vorstellen. Und doch gibt es Momente, an denen ich denke: Wäre die Welt ohne Religionen nicht friedlicher? Gerade in den letzten Jahren finde ich es immer bedrückender, wie Menschen ihren Hass religiös begründen.

Ich wüsste keine der großen Religionen, die davon ausgenommen ist. Im Blick auf den Islam brauche ich gar keine Beispiele zu nennen – sie stehen uns allen grausam vor Augen. Das Judentum? Denken Sie an die Siedler! In den Gebieten der Palästinenser setzen sie ihr religiös verbrämtes völkisches Denken durch, koste es, was es wolle.

Und als Christen müssen wir nur vor unserer eigenen Tür kehren. Wie die neue Fremdenfeindlichkeit sich auf ein angeblich christliches Abendland beruft, ist einfach nur beschämend.

Es gibt wahrscheinlich keinen Ort in der Welt, wo diese drei Weltreligionen unmittelbarer aufeinandertreffen, als Jerusalem. Jerusalem, die Heilige Stadt der Juden. Einst stand hier der Tempel. Die Klagemauer, ein Überrest des gigantischen Tempelfundaments, ist davon bis heute geblieben.

Jerusalem, die Heilige Stadt der Christen. Jesus wurde hier gekreuzigt. Und das Leere Grab erinnert bis heute daran, dass er den Tod überwunden hat. Die Grabeskirche ist deshalb das wichtigste Kirchengebäude der Christenheit. Für die Muslime ist Jerusalem der Ort der Himmelfahrt des Propheten Mohammed. Der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel ist an diesem Ort gebaut. Dort, wo einst der jüdische Tempel stand.

Heute ist der Israelsonntag, liebe Gemeinde. Der Tag, an dem wir evangelischen Christen Jahr für Jahr unser Verhältnis zum Judentum bedenken. Wie kompliziert es ist, hat uns die Lesung aus dem Römerbrief vor Augen geführt. Ich werde gegen Ende der Predigt darauf eingehen. Zuvor möchte ich jedoch von einem Buch berichten, das mich sehr beeindruckt hat.

Wolfgang Büscher hat vor zwei Jahren für einige Monate in Jerusalem gelebt. Er ist in dieser Zeit mit vielen Bewohnern der Stadt ins Gespräch gekommen: mit armenischen und katholischen Christen, mit Juden und Muslimen. „Ein Frühling in Jerusalem“ hat er dieses Buch genannt.

Natürlich geht es immer wieder um die Frage: Wie wird sich das Zusammenleben dieser Religionen entwickeln? Ich möchte Ihnen in der Predigt einzelne Menschen vorstellen, deren Portrait Wolfgang Büscher in seinem Buch gezeichnet hat. Zwischen diesen Portraits werden wir Strophen des Liedes „Komm in unsre stolze Welt“ von Hans von Lehndorff singen.

 

Lied 428,1 Komm in unsre stolze Welt

 

II. Charly Effendi ist ein armenischer Christ. Unscheinbar, nicht groß, von robuster Gestalt. Im Winter mit einer Strickmütze unterwegs, spitz auf dem Kopf, wie viele Männer dort. Sein wiederkehrender Satz ist: „There’s no joy in this city.“ – Es ist keine Freude (mehr) in dieser Stadt.

Der türkische Völkermord an den Armeniern hatte Charly Effendis Familie nach Jerusalem getrieben. Der Völkermord, den der gewählte türkische Alleinherrscher Erdogan und große Teile seines Volkes bis heute nicht wahr haben wollen.

Charly Effendi bewahrt die Erinnerung an eine Zeit, als die kulturelle Elite Jerusalems christlich war. „Griechisch war sie gewesen, syrisch oder arabisch, orthodox, armenisch oder lateinisch, aber eben christlich.“ Seit Jahrzehnten verlassen jedoch immer mehr Christen die Stadt. Weil sie zwischen den feindlich gesinnten Juden und Muslimen keine Zukunft mehr sehen. Wer einen Beruf findet oder einen Partner, geht nach Amerika oder Europa. Das christliche Viertel in der Altstadt Jerusalems verwaist immer mehr.

Ich kann es den Jungen nicht verdenken, dass sie fortgehen,“ sagt Charly Effendi. „Als Christen finden sie keinen guten Beruf und nicht einmal mehr eine Frau. Sehen Sie mich an, ich bin sechzig. Ich denke darüber nach, noch zu heiraten, aber wen? Es gibt niemanden. There’s no joy in this city, ich hab’s Ihnen gesagt.“

Als Wolfgang Büscher die Stadt wieder verlassen will, zeigt Charly Effendi ihm einen geheimnisvollen Ort. So hofft er, dem deutschen Journalisten die Gefühle der Jerusalemer Christen verständlich zu machen. Er führt ihn in einen stockdunklen Raum, der wie eine alte Garage riecht. Ein leises Klacken, Neonlicht flackert auf. Und sie stehen auf einem riesigen, spätantiken Mosaik. Ein Paradies mit Weinreben, Tauben, einem Singvogel im Käfig, Tieren und Pflanzen aller Art.

Ein armenisches Mosaik, eintausendsechshundert Jahre alt. „Wir haben es vor einiger Zeit entdeckt,“ sagt Charly Effendi. „Wie ein Teppich aus Stein. Er bedeckt das Grab unserer frühesten Märtyrer hier. So lange sind wir in Jerusalem, begreifst Du es jetzt? Ich zeige es dir, damit du dich erinnerst, wenn du in Berlin sitzt, Kaffee trinkst und schreibst. Ich gebe dir dieses Bild mit, damit du siehst, nicht nur ein Volk war hier, nicht nur ein Glaube.“

 

Lied 428,2 – Komm in unser reiches Land

 

III. Ein andermal unterhält sich Büscher mit einem arabischen Hotelier. Ein Muslim. „Er war mir aufgefallen,“ schreibt Büscher, „wenn er morgens durchs Jaffator kam in seinem eleganten kamelfarbenen Mantel, sein zurückgekämmtes weißes Haar, das schmale, ernste Gesicht, die ganze Art zu gehen. Den Namen seiner Familie kannte jeder Jerusalemer. Er stand über einigen der vornehmsten Antiquitätengeschäfte der Stadt.“

Der Hotelier erzählt ihm von dem Kampf, der um den Besitz seines Hotels tobt. Jüdische Siedler versuchen Schritt für Schritt, Häuser in der Altstadt in ihren Besitz zu bringen. Weite Teile der Altstadt gehören heute noch Christen und Muslimen. Den Kirchen. Den Palästinensern. Aber die Siedler versuchen, die Besitzverhältnisse langsam zu verschieben. Oft durch Strohmänner. Durch mehr oder minder legale Tricks. So wollen sie ihren geglaubten Anspruch auf die Stadt durchsetzen.

Das Hotel des Arabers gehört der griechisch-orthodoxen Kirche. Er hat es langfristig gepachtet. Vor zehn Jahren war der Finanzchef des griechischen Patriarchen die Schlüsselfigur in einem undurchsichtigen Handel.

Mit ihm hatten sie die Sache im Geheimen eingefädelt,“ erzählt der Muslim, „Verträge gemacht, mein Hotel an sich gebracht. Dann flog die Sache auf, und der Patriarch wurde abgesetzt.“ „Sie, das sind die Siedler?“, fragt Büscher nach. Der Hotelier sieht ihn an, als habe Büscher ihn gerade gefragt, ob sein hölzerner Schreibtisch aus Holz sei.

Die Sache ist noch immer vor Gericht. Ich kämpfe. Meine Familie hatte Besitz in Westjerusalem, Häuser, Läden, das alles hat man uns 1967 genommen. Darüber rede ich nicht, es ist weg. Aber dass wir nun auch noch aus dem heraussollen, was uns hier in der Altstadt geblieben ist, dass unsere Wurzeln ganz herausgerissen werden sollen, das ist zuviel. Ich kämpfe, aber diese Leute haben Zeit. Sie können warten. Und ich bin alt. Sie warten, bis die Kerze herunterbrennt, ganz abbrennt, erlischt. Die Kerze bin ich.“

Immer mehr Häuser werden von den Siedlern wie Festungen ausgebaut. Militärisch gesichert, mit einer riesigen israelischen Flagge auf dem Dach. Ich habe sie vor sechs Jahren selbst gesehen.

 

Lied 428,3 – Komm in unsre laute Stadt

 

IV. Büscher schildert mit Wehmut, wie die alte christliche und muslimische Bewohnerschaft der Jerusalemer Altstadt auf dem Rückzug ist. Wie fanatische Siedler und radikale ultraorthodoxe Juden die Stadt immer mehr dominieren. Aber auch christliche Touristen, die die Heilige Stadt zur Kulisse eines orientalischen Disneyland machen. Und muslimische Eiferer.

Büscher versucht jedoch auch, den jüdischen Bewohnern der Stadt näher zu kommen. Zu verstehen, wie sich die Mehrheitsbevölkerung Israels entwickelt. Wie sie immer religiöser wird und die alten, sozialistischen, säkularen Ideale des Zionismus hinter sich lässt.

Einen trifft er, einen fröhlichen beleibten Mann im schwarzen Anzug. Musikprofessor und Komponist. Aus seiner Jacke hängen die Zizit heraus, die Schaufäden seines Gebetsschals, den er unterm Hemd trägt. Er erzählt von der jüdischen Sehnsucht nach Palästina:

Gibt es hier Goldminen oder sonst etwas Wertvolles im irdischen Sinn – was ist denn hier so magnetisch? Erst kamen wenige, dann im vorigen Jahrhundert immer mehr. Und nicht nur aus Europa, nicht nur wegen der Lager, auch aus Marokko, aus dem Irak, von überallher. Gehen Sie freitags zur Klagemauer, die Juden dort beten in ganz verschiedenen Melodien. Sephardisch, orientalisch, amerikanisch. Stellen Sie einen Juden aus Casablanca neben einen aus Lodz. Essen, Kleidung und Sprache sind ganz verschieden. Aber sie lesen die gleiche Thora – das ist es, was sie ausmacht.“

Büscher will ihn auf die mehr oder minder heimlichen Auseinandersetzungen in der Stadt ansprechen. Aber der Musiker fällt ihm ins Wort: „Ich glaube nicht an Politik, es kommt nie etwas dabei heraus.“ Und er greift die Fäden seines Gebetsschals, wieder lachend, „ich glaube an ihn!“ An Gott, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.

 

Lied 428,4 – Komm in unser festes Haus.

 

V. Drei Menschen, drei Sichtweisen. Drei durchaus nachvollziehbare Standpunkte, die jedoch immer unversöhnbarer nebeneinander stehen. Wohin wird das führen, liebe Gemeinde? Ist das heilige Jerusalem ein Brennpunkt, in dem sich die Probleme unserer Welt auf engstem Raume konzentrieren? Verstärkt die Nähe der heiligen Stätten noch die Spannungen? Lädt die Religion diese mit zusätzlicher Energie, zusätzlichem Fanatismus auf? Wer darf die Stadt bewohnen? Wer hat Recht auf das Land? Wer ist erwählt?

Ich glaube, das Problem gründet nicht in der Religion. Es wurzelt in dem Programm, das in uns Menschen steckt. Wir wollen besitzen. Und zwar alleine. Teilen wollen wir allenfalls mit unserer eigenen Gruppe. Die anderen wollen wir verdrängen. Die Berechtigung dazu legen wir uns zurecht: Volk, Nation, Religion.

Aber in Wahrheit liegt in der Religion die Lösung. Eben haben wir sie in der Lesung gehört. Paulus schreibt: Es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Wir sollen nicht für unsere vermeintlichen Rechte kämpfen, auf Kosten der anderen. Nicht unseren Glauben benutzen, um unsere Habgier und unseren Materialismus zu rechtfertigen. Sondern wir sollen Gott die Sorge überlassen für das, was wir zum Leben brauchen.

Solche Demut vor Gott, dem alle Menschen sich verdanken – solche Demut entspricht dem Wesen wahrer Religion. Und aus solcher bescheindenen Demut kann auch die Grundlage für Frieden wachsen. Amen.

 

Lied 428,5 – Komm in unser dunkles Herz



Pfarrer Dr. Sven Keppler
Versmold
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

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