Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 31.07.2016

Wurzeln des Glaubens
Predigt zu Römer 9:1-8.14-16, verfasst von Christian Wolff

Es ist gut, wenn wir in den Kirchen einmal im Jahr, nämlich am 10. Sonntag nach Trinitatis, in besonderer Weise das Verhältnis von Juden und Christen bedenken. Angesichts dessen, wie belastet diese Geschichte durch den über Jahrhunderte gewachsenen Antisemitismus bis hin zum Holocaust während der Nazi-Zeit ist, aber auch angesichts von gegenwärtigen, religiös aufgeheizten Konflikten nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in unserer Gesellschaft, und angesichts von erstarkenden rechtsradikalen, antisemitisch, antikirchlich, ja religionsfeindlichen Gruppierungen imn eigenen Land erfordert dieses Nachdenken höchste Sorgfalt. Wir wollen dies heute mit dem Predigttext für diesen Sonntag tun, ein Abschnitt aus dem Römerbrief des Apostel Paulus. Darin setzt sich Paulus sehr persönlich mit seiner eigenen, auch von religiösem Fundamentalismus und von Gewalt geprägten Glaubensgeschichte auseinander.

 

Für das, was ich jetzt sage, rufe ich Christus als Zeugen an. Es ist die Wahrheit; ich lüge nicht. Auch mein Gewissen bezeugt es, das vom Heiligen Geist bestätigt wird: 2 Ich bin tieftraurig und es quält mich unablässig, 3 wenn ich an meine Brüder und Schwestern denke, die Menschen aus meinem Volk. Wenn es möglich wäre, würde ich es auf mich nehmen, selbst an ihrer Stelle verflucht und für immer von Christus getrennt zu sein. 4 Sie sind doch Israel, das von Gott erwählte Volk. Ihnen gehört das Vorrecht, Kinder Gottes zu sein. Ihnen offenbarte er seine Herrlichkeit. Mit ihnen hat er wiederholt seinen Bund geschlossen. Ihnen hat er sein Gesetz gegeben und die Ordnungen für den Opferdienst zu seiner Verehrung. Ihnen hat er das künftige Heil versprochen.5 Sie sind die Nachkommen der von Gott erwählten Väter, und zu ihnen zählt nach seiner menschlichen Herkunft auch Christus, der versprochene Retter. Dafür sei Gott, der Herr über alles, in Ewigkeit gepriesen! Amen.

6 Es kann keine Rede davon sein, dass dies alles nicht mehr gilt und also das Wort Gottes ungültig geworden ist. Aber nicht alle Israeliten gehören wirklich zu Israel, 7 und nicht alle leiblichen Nachkommen Abrahams sind als solche schon Abrahams Kinder. Gott sagte zu Abraham: »Durch Isaak gebe ich dir die Nachkommen, die ich dir versprochen habe.« 8 Das heißt: Nicht die natürliche Abstammung von Abraham, sondern erst die göttliche Zusage macht zu echten Abrahamskindern und damit zu Kindern Gottes …

14 Folgt daraus, dass Gott ungerecht ist? Keineswegs! 15 Er sagte ja zu Mose: »Es liegt in meiner freien Entscheidung, wem ich meine Gnade erweise; es ist allein meine Sache, wem ich mein Erbarmen schenke.« 16 Es kommt also nicht auf den Willen und die Anstrengung des Menschen an, sondern einzig auf Gott und sein Erbarmen.

Römer 9,1-8.14-16 – Übersetzung nach „Gute Nachricht Bibel“

 

Man spürt dem Text ab: Paulus stellt sehr grundsätzliche Erwägungen an. Dabei lässt ihm seine eigene Vergangenheit keine Ruhe. Nur zur Erinnerung: Paulus bekämpfte zunächst als religiöser Fundamentalist die neue, von Jesus Christus geprägte Glaubensrichtung innerhalb des Judentums militant. Dann hatte er vor Damaskus ein Erlebnis, das sein Leben grundlegend veränderte: Sein gewalttätiger Feldzug gegen die Christen, damals noch eine innerjüdische Gruppierung, wurde jäh unterbrochen. Paulus ließ sich taufen und schloss sich der Erneuerungsbewegung der Anhänger Jesu an. Doch damit hatte sich seine jüdische Vergangenheit nicht erledigt. Das Bekehrungserlebnis wäre völlig missverstanden, wenn wir es heute als eine Abkehr des Paulus von der Geschichte Israels, als Kappung seiner religiösen Wurzeln deuten. Vielmehr versteht Paulus Jesus Christus und seine Botschaft als Teil der Geschichte, auch Teil der Verheißung Israels. Darum verweist Paulus voller Begeisterung zunächst auf die große Geschichte des Volkes Israel mit Gott und erinnert die Christen in Rom daran, was die Menschheit dieser Geschichte verdankt:

Diese dreifache Erinnerung ist für Paulus Anlass, Gott zu loben und zu danken – und zwar so, dass alle, Juden und Christen, in dieses Lob einstimmen können. Denn Paulus erachtet es als ein bleibendes Glück, in dieser großen Tradition eingebunden zu sein:

Es kann keine Rede davon sein, dass dies alles nicht mehr gilt und also das Wort Gottes ungültig geworden ist.

bekräftigt Paulus seine Haltung.

 

Doch nun hat Paulus mit zwei Entwicklungen ein großes Problem:

Sie sind die Nachkommen der von Gott erwählten Väter, und zu ihnen zählt nach seiner menschlichen Herkunft auch Christus, der versprochene Retter.

Damit widersteht Paulus einer Versuchung, die schon in der frühen Christenheit um sich griff und die dann im Verlauf der Kirchengeschichte fatale Folgen hatte: die Verachtung Israels. Für Paulus ist völlig klar, dass die bisherige Verheißungsgeschichte Israels Gültigkeit behält, und damit ist auch klar, dass die Heilszusagen Gottes an Israel durch Jesus Christus nicht außer Kraft gesetzt sind. Sie haben sich allerhöchstens erweitert.

 

Was Paulus kritisch zu den Juden sagt, das bezieht sich auf deren Anspruch einer natürlichen Exklusivität. Dagegen formuliert Paulus seine Kritik:

Aber nicht alle Israeliten gehören wirklich zu Israel, und nicht alle leiblichen Nachkommen Abrahams sind als solche schon Abrahams Kinder. …: Nicht die natürliche Abstammung von Abraham, sondern erst die göttliche Zusage macht zu echten Abrahamskindern und damit zu Kindern Gottes …

Banal gesehen argumentiert Paulus so wie mancher Zeitgenosse: Um ein guter Christ zu sein, brauche ich nicht zur Kirche zu gehören … oder: Wahrscheinlich bin ich ein besserer Christ als mancher, der getauft ist, aber nie einen Gottesdienst besucht. Doch leider hat die negative Formulierung des Paulus zu einem fatalen Missverständnis geführt: Christen gelangten zunehmend zu der Auffassung, sie seien das wahre Israel, und alle, die sich dem Glauben an Jesus Christus nicht anschließen, haben damit die göttliche Gnade verwirkt bzw. bringen damit zum Ausdruck, dass die Gnade Gottes an ihnen vorbeigegangen ist. Martin Luther hat leider auch so gedacht. Er war der Überzeugung, mit der Reformation alle Barrieren weggeräumt zu haben, die Juden daran hinderten, sich taufen zu lassen. Da es dann aber in den 20er und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts nicht zu einer Taufbewegung unter den Juden kam, überzog Luther sie mit wüsten Beschimpfungen und Schmähungen und drohte ihnen die Vernichtung an– eine der ganz dunklen Seiten des großen Reformators mit fatalen Folgen gerade für die Kirchen der Reformation in Deutschland.

 

Angesichts dessen, was den Juden im sog. christlichen Abendland angetan wurde, können und dürfen wir heute Paulus nicht mehr in dem Sinne verstehen, dass die christlichen Kirchen das wahre Israel sind. So treten leider auch heute noch und wieder christlich-fundamentalistische Gruppen in Israel auf. Vielmehr sollten wir Paulus, den einst der eigene jüdische Absolutheitsanspruch zur gewalttätigen Verfolgung einer anderen Glaubensrichtung verführt hat, so verstehen: Es gibt keine natürliche, keine allein richtige Glaubensüberzeugung, die es erlaubt, andere zu diffamieren, zu verhöhnen, auszugrenzen. Niemand ist deswegen auf der richtigen Seite, weil er Jude oder Christ oder Moslem oder Hindhu ist – oder einer bestimmten Konfession oder Kirche angehört. Vielmehr kommt es darauf an, sich der Gnade Gottes zu öffnen – und sie entscheiden zu lassen über richtig und falsch. Das heißt aber: Wer sich zu dem Gott Israels bekennt, der muss davon ausgehen, dass es diesem einen und einzigen allmächtigen Gott möglich ist, sehr unterschiedliche Wege mit und zu ihm zu gehen; der muss auch damit rechnen, dass er Menschen an der Seite Gottes findet, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Gerade das hat Jesus den Menschen in aller Deutlichkeit eingeschärft. Jesus war kein Richtigkeitsfanatiker, schon gar kein Konfessionalist, sondern einer, der die Liebe und mit ihr die Gnade und Barmherzigkeit Gottes in den Mittelpunkt seines Wirkens rückte.

 

Wenn wir Paulus so verstehen, dann reden wir nicht einer religiösen Indifferenz das Wort – auch nicht der Traditionslosigkeit. Vielmehr kommen zwei unerlässliche Fundamente unseres Glaubens in den Blick:

 

1.

Zum einen pocht Paulus darauf, sich der Wurzeln des eigenen Glaubens nicht nur bewusst zu sein, sondern sie auch zu pflegen. Das ist der beste Schutz gegen einen religiösen Fundamentalismus, der nur dem dient, andere gewalttätig auszugrenzen, und der sich dadurch auszeichnet, dass er keinen kritischen Einspruch duldet. Ohne diese kritische Auseinandersetzung auf der Grundlage von Traditionen verkümmert aber unser Glaube, wird eindimensional und trocknet aus. In Fortführung der Gedanken des Paulus müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen: ohne Synagoge keine Kirche; ohne das Erste Testament kein Evangelium von Jesus Christus; ohne Mose und die Propheten können wir die Botschaft Jesu nicht verstehen (und das Doppelgebot der Liebe, das wir als Evangelium gehört haben, ist keine „christliche“ Erfindung von Jesus, sondern ein Zitat aus dem Ersten, dem Alten Testament). Wer also meint, dass das Neue Testament das Alte aufhebt (und das ist leider eine unter Christen noch immer weit verbreitete Sicht: da ist dann vom strafenden Rache-Gott des Judentums die Rede, der im Neuen Testament durch den liebenden Gott abgelöst wird – das ist mit Verlaub theologischer Unsinn), wer meint, auf den Glauben Abrahams, Isaaks, Jakobs verzichten zu können, der beraubt dem christlichen Glauben seiner Wurzeln und löst ihn in ein gefährliches Nichts auf. Davor will Paulus die Christen in Rom bewahren. Aber leider hat das die Kirchen im 20. Jahrhundert nicht vor den bitteren Konsequenzen bewahrt: wie durch die Vernichtung jüdischen Lebens auch die Grundlagen der Menschlichkeit und der Kirchen zerstört wurden.

 

Nun ist schon rein quantitativ die Frage des Zusammenlebens von Christen und Juden, jedenfalls in hiesigen Regionen, für viele Menschen eher eine Marginalie. Dennoch bleiben die Gedanken des Paulus höchst aktuell. Denn wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen in allen Schichten meinen, wir könnten uns von allen Traditionen lösen – insbesondere von den Glaubenstraditionen, die doch nur ein unnötiger Ballast sind. Doch was geschieht mit einer Gesellschaft, wenn sich die Menschen nicht mehr ihrer religiösen und kulturellen Wurzeln bewusst sind, wenn wir die Keimzellen unserer Zivilisation achtlos im Orkus der Geschichte versinken lassen? Was, wenn niemand mehr seine Kraft schöpfen kann aus dem Glaubensgut des Alten und Neuen Testamentes? Was, wenn unsere Kinder erzogen werden von Eltern, Erzieherinnen und Lehrern, die selbst nicht mehr wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen, wozu sie leben – die hilflos im Nebel herumstochern, wenn die Kinder sie fragen, was denn der Sinn des Lebens ist? Machen wir uns nichts vor: Die Krisen und Katastrophen, denen wir derzeit ausgesetzt sind, und der Angst besessene Umgang mit ihnen, sind auch Ausdruck davon, wie sehr wir unsere Wurzeln und damit ein inneres Krisenmanagement verloren haben.

 

Da brauchen wir Räume wie die Kirchen, Refugien, in denen wir Schutz und Trost finden. Und Gnade uns Gott, wenn wir über diese Räume, über die Musik, über die Lieder und Worte nicht mehr verfügen. Gott sei Dank schlummert aber in vielen Menschen das Gespür: Wenn wir aus der Bahn geworfen werden, dann hilft uns nur das, was sich in der Menschheitsgeschichte bewährt und alle Krisen, auch die selbst verschuldeten, überdauert hat – das Vertrauen auf den lebendigen Gott.

 

2.

Doch das ist nur das eine. Das andere gilt genauso: Wenn wir die Verheißungen Israels den Juden nicht entreißen, sondern die Existenz dieses Glaubens als notwendig für den unseren erachten, dann verwässern wir damit nicht den christlichen Glauben. Aber wir werden uns bewusst: Ich kann mich viel klarer zu Jesus Christus bekennen, wenn ich seine Botschaft nicht durch judenfeindliche Vorurteile zersetze, sondern sie aus der jüdischen Tradition heraus verstehe. Wir müssen endlich lernen, was Paulus auch den Christen in Rom anempfiehlt: auf jede Form von Absolutheitsanspruch zu verzichten und sich gleichzeitig freudig und voller Überzeugung zu Jesus Christus zu bekennen. Mein Glaube benötigt nicht die Negativfolie Juden (auch nicht die Negativfolie Islam oder Atheismus), also die Herabsetzung oder den Ausschluss des Andersdenkenden, wohl aber den kritischen Diskurs. Wir müssen endlich lernen, dass Identität und Toleranz notwendig zusammengehören. Denn erst wenn wir unsere jeweilige Identität behalten und anerkennen, werden wir zur Achtung des anderen fähig sein.

 

Auch in diesem Punkt können wir Paulus wieder ganz aktuell verstehen. Das interreligiöse Zusammenleben heute (einschließlich der Atheisten) wird nur gelingen, wenn wir eine Kommunikation pflegen, die nicht vernichtet, sondern die von Respekt und Anerkennung geprägt ist. Wie wichtig, lebensnotwendig und Leben erhaltend dies ist, wird uns in diesen Tagen schmerzhaft bewusst. Jede religiös motivierte Gewalttat muss uns dazu veranlassen, mehr für das gegenseitige Verstehen zu tun. Das aber wird uns nur möglich sein, wenn wir die eigenen religiösen Wurzeln sehen und pflegen. Zu diesen Wurzeln gehört das, worauf Paulus am Schluss seiner Gedanken zugreift und was uns zumindest mit den anderen beiden abrahamitischen Religionen untrennbar verbindet: die Gnade Gottes – so wie es im 103. Psalm heißt:

Barmherzig und gnädig ist der Herr

Geduldig und von großer Güte.

Psalm 103,8

 



Pfarrer i.R. Christian Wolff
Leipzig
E-Mail: info@wolff-christian.de – www.wolff-christian.de

(zurück zum Seitenanfang)