Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 28.08.2016

Die herrliche Freiheit der Kinder Gottes
Predigt zu Römer 8:14-17, verfasst von Sibylle Rolf

Die Predigt legt Röm 8 im Kontext der Versuchungsgeschichte Jesu aus, die als Evangelium im Gottesdienst gelesen wird.

 

 

Liebe Gemeinde,

es ist heiß. Er ist in der Wüste, schon lange. Nach 40 Tagen quälen ihn Durst und Hunger. Er fühlt sich geschwächt und müde, auf der einen Seite. Aber seine Sinne sind geschärft. Er ist bereit. Da tritt ihm aus der flirrenden Hitze eine Gestalt entgegen. Er kneift die Augen zusammen, versucht, die Gestalt genauer zu erkennen. Ihr Gesicht liegt im Schatten. Der Fremde bückt sich und hebt einen Stein auf. Bist du es, so mach Brot draus. Frisches Brot. Nicht nur dir wird das gut tun, sondern es wird dich auch beglaubigen, wenn du versuchst, Menschen zu überzeugen. Wirst du es nicht sagen: ich bin das Brot des Lebens...? Du ahnst gar nicht, welche Überzeugungskraft darin steckt, wenn einer kommt, der Bedürfnisse befriedigt! Den Hunger nach Brot, nach Anerkennung. Den Durst nach Vermögen und Achtung. Ein kleines Wunder, das dir jetzt zugute kommt und dir deine Gefolgsleute sichert. Brot aus Steinen – wie viel Gutes könntest du damit tun!

Etwas gequält blickt er auf. Ja, er ist hungrig. Sehr hungrig. 40 Tage zu fasten, das erfordert große seelische und leibliche Kraft. Die Zeit zehrt. Wie einfach wäre es, einen Stein zu nehmen und ein Brot zu erhalten. Er weiß, er hätte vielleicht sogar die Macht. Und wie einfach wäre es, das Brot zu verteilen. Wie viele Probleme wären gelöst. Der Hunger in der Welt. Ernährungskrisen. Menschen würden ihm glauben und ihm folgen. Überall. In Jerusalem, in Rom, sogar in der Kurpfalz. Gibt es nicht überall hungrige Menschen an Leib und Seele? Es muss ja gar nicht das Brot zu essen sein. Überall sehnen sich Menschen danach, dass ihre Würde geachtet wird. In den Hütten, den Flüchtlingsunterkünften und den Einfamilienhäusern. Manchmal macht sich die Würde an Bedürfnissen fest, die man greifen kann.

Aber er weiß auch: so einfach ist es nicht. Gäbe er ihnen ein Wunder, so machte er es ihnen leicht. Sich selbst im übrigen auch. Was ist, wenn das Brot aufgebraucht ist? Es bräuchte ein neues Wunder, immer wieder. Und niemand würde mehr Verantwortung übernehmen. Nicht allein vom Brot lebt der Mensch, sagt er, sondern von einem Wort, das ihm gut tut. Von einem Wort, das ihn trifft in seiner Seele, ihn tröstet und ermutigt, ermahnt und auf den rechten Weg weist. Das Leben ist mehr als Bedürfnisbefriedigung, der Mensch ist mehr als der hungrige Leib und die bedürftige Seele. Er ist berufen zum Hören und Antworten, zur Liebe und zur Freiheit. Zur Verantwortung für sich selbst.

Er blickt auf. Sein Versucher lächelt zynisch. Schöne Freiheit. Nichts wert, wenn der Magen leer bleibt. Wenn der Mangel das Leben bestimmt. Sieh doch in die leeren Augen und die leeren Hände der Menschen! So schnell könntest du ihnen helfen! Du mit deinen hehren Idealen. Berufen zum Hören und Antworten, zur Freiheit... das ist doch nur die eine Wahrheit. Die andere ist doch: jeder braucht jemandem, der ihm sagt, was er tun soll. Er braucht Vorbilder, an denen er sich messen kann. Gestalten, die ihm sagen, was richtig und falsch, gut und böse ist. Er braucht jemanden, der seinen Mangel ausgleicht. Anders wird er doch mit seiner Angst gar nicht fertig.

 

Angst... das Wort klingt nach in der Hitze der Wüste. Vielleicht ist das der Schlüssel, denkt er. Angst... vor so vielem haben Menschen Angst. Vor dem Sterben und dem Verlieren. Vor dem Loslassen. Angst um sich selbst und das eigene Wohlergehen. Angst um die Zukunft und Angst vor dem Unplanbaren. Und was tun Menschen nicht alles, um die Angst zu betäuben und zu kontrollieren. Sie verschaffen sich Sicherheiten, folgen Verführern und versuchen, sich Vorteile auszuhandeln. Sie vertrauen denen, die vermeintlich stärker sind als sie selbst und erhoffen sich Erlösung von der Angst. Und damit geben sie ihre eigene Verantwortung mit beiden Händen ab.

Als hätte er seine Gedanken gelesen – vermutlich hat er es sogar –, antwortet der Versucher: wenn du schon kein Brot machen willst, dann mach dich doch wenigstens zum Angstbeherrscher: stürz dich von der Zinne des Tempels oder von der Fackel der Freiheitsstatue oder vom Wetterhahn des Kölner Domes. Vielleicht auch vom Oftersheimer Glockenturm. Die Engel Gottes werden dich auffangen und du wirst sicher landen. Hat Gott es nicht selbst versprochen? Er wird seinen Engeln befehlen, dass sie dich auf den Händen tragen... Du wirst sehen: sie werden dir folgen und dir glauben. Denn du erweist damit deine Macht gegen die Angst. Und dann hast du sie in der Hand. Bedenke doch, was du alles gutes tun kannst!

 

Er lässt sich den Gedanken durch den Kopf gehen. Vielleicht ist etwas Wahres dran: wie viel Gutes kann man bewirken, wenn man Menschen überzeugt. Und das Überzeugendste ist vielleicht noch immer ein Wunder. Es bewahrheitet die Stärke des Wundertäters. Wenn er ihnen jetzt zeigen würde, dass er sich in die Tiefe stürzen kann und aufgefangen wird: hieße das nicht, dass er Gott auf seiner Seite hat? Wäre ihm damit nicht das Vertrauen der Menschen sicher?

Aber wie weit trägt ein Vertrauen, das auf ein einmaliges Wunder gegründet ist? Kann es dich halten im Leben und im Sterben, auch dann, wenn du ganz allein bist mit dir und deinem Schöpfer? Wieder schüttelt er den Kopf. Du sollst Gott nicht versuchen, sagt er entschieden. Es geht um Vertrauen, nicht um den schnellen Kick. Es geht darum, dass Menschen sich loslassen, dass sie selbst vertrauen, sich selbst einlassen auf die Engel Gottes. Denn Gott wird jeden tragen, der sich ihm anvertraut.

 

Wieder stiehlt sich ein zynisches Lächeln auf das Gesicht des Versuchers. Du hast leicht reden, sagt er. Vielleicht kriegst du das hin mit dem Vertrauen. Aber das ist nichts für die Masse der Menschen. Sie brauchen jemandem, dem sie folgen können. Jemanden, zu dem sie aufsehen. Jemanden, den sie anbeten können. So wie mich. Schau sie dir doch an, die selbst ernannten und gewählten Führer, denen die Menschen folgen. All die Parteivorsitzenden und Meinungsmacher. Hier oder in Amerika, in der Türkei oder an jedem beliebigen Ort der Welt. Schau dir doch an, wie schnell und einfach Menschen bereit sind, einen anderen zu ihrem Anführer zu machen, ihre Selbstständigkeit aufzugeben! Das kannst du zu deinem Vorteil ausnutzen. Tu es, und es werden dir viele folgen!

Er hat recht, denkt er. Menschen brauchen starke Persönlichkeiten, um mit ihrer Angst fertig zu werden. Sie wollen jemanden haben, der ihnen sagt, was richtig und falsch, was gut und böse ist. Sie sind immer wieder bereit, ihre Seele zu verkaufen und ihre Freiheit abzugeben – nur damit sie ein bisschen mehr Sicherheit und Kontrolle gewinnen. Aber was gewinnen sie wirklich? Sie geben ihre Freiheit, ihre Verantwortung ab, machen sich zu Knechten. Sie machen sich abhängig. Wenn sie einem anderen folgen, geben sie ihre innere Unabhängigkeit auf und geben sich selbst einem anderen in die Hand. Sie verschenken ihr Herz und ihre Seele. Was ist das anderes als einen anderen anbeten als Gott...? Und das schlimme ist: sie merken gar nicht, wie sie sich selbst verlieren.

Er strafft die Schultern. Ich mag schwach erscheinen, denkt er. Und als hätte der Versucher seine Gedanken gelesen – vermutlich hat er es auch –, lächelt der süffisant. Aber vielleicht liegt darin gerade die Kraft. Die Kraft, die ein Mensch erst entdeckt, wenn er sich nicht an den vermeintlichen Sicherheiten festhält. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Wenn einer loslässt und sich frei macht. Sich verlässt und vertraut. Nicht weil er Angst vor Strafe hat, sondern weil er weiß: ich werde bekommen, was ich brauche. Zu seiner Zeit.

Er öffnet seine Hände. Abba, Vater, betet er und spürt, wie sein Geist sich weitet. Er hat keine Angst. Und er möchte, dass auch die, die ihm folgen werden, keine Angst haben. Er spürt, wie sich ein Raum weitet. Ein Kraftfeld von Freiheit und Liebe, Vertrauen und Zuversicht. Ein Kraftfeld, in dem Menschen einfach sein dürfen und das ihnen gut tut. Du sollst Gott den Herrn lieben und ihm allein dienen, sagt er. Er blickt auf. Die Gestalt wird durchsichtig und weicht in der flirrenden Luft. Gestärkt und getrost setzt er einen Fuß vor den anderen. Sein Weg hat begonnen.

 

Etwa 30 Jahre später hat sich das Kraftfeld geweitet. Seine Freunde haben Anhänger gewonnen, über Jerusalem hinaus bis nach Rom. Die Fragen sind dieselben geblieben wie damals in der Wüste. Nur die Formulierungen haben sich verändert: brauchen Menschen nicht immer ein Gegenmittel gegen ihre Angst? Brauchen sie nicht klare Grenzen, Ansagen und feste Führungspersönlichkeiten? Sind sie nicht mit zu viel Freiheit überfordert? Wäre es nicht gut, wenn wir ihnen Wunder geben? Wäre es nicht hilfreich, wenn wir die Hierarchien erhalten und pflegen?

Einer ringt um Antworten. Nicht nur er, natürlich nicht. Aber von ihm sind viele Antworten überliefert. Paulus, der Heidenapostel. Leidenschaftlich kämpft er für die Freiheit. Für das Evangelium für jeden, Juden und Heiden, Männer und Frauen, Mächtige und Einflusslose. Nein, sagt er. Wir brauchen keine festen Regeln. Wir sind hineingetaucht, hineingetauft in das Kraftfeld der Freiheit und der Liebe. Er hat es uns eröffnet, schon damals in der Wüste, als sein Weg begann. Er nimmt uns ernst und er nimmt uns mit. Er nimmt uns nicht unsere Freiheit und entlässt uns nicht aus unserer Verantwortung. Er öffnet uns den Raum, in dem wir einfach sein dürfen. Wie Kinder bei ihrem Vater. Damals in der Wüste fing es an. Und dann, als er sich hingab, als die Liebe sich zutiefst bewähren musste. Als sie dann drei Tage später ins Leben zurückkehrte und bewahrheitet wurde. Wer bereit ist sich zu verschenken, gewinnt das Leben. Und wer bereit ist alles loszulassen, einfach zu sein und zu vertrauen, gewinnt die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Und wie soll das zugehen? Nun, sagt Paulus, du hast den Geist des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus in deiner Taufe empfangen. Vertrau darauf, es ist wahr! Du bist Kind Gottes und du darfst wie ein Kind darauf vertrauen, dass Gott, dein Vater, dir gibt, was du brauchst, weil er es gut mit dir meint. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom findet er folgende Worte dafür (Röm 8,14-17):

 

14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. 15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

Paulus setzt einen Punkt und hebt den Kopf. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat, sagt er leise. Er hat mir den Raum eröffnet, in dem ich sein Kind sein darf. Nicht sein Knecht, der auf Lohn hofft und sich abmüht, um sich das Leben zu verdienen. Manchmal rutscht mir der Glauben weg, und das Vertrauen wird zerbrechlich. Der Versucher hatte schon recht, damals in der Wüste. Manchmal ist mir einer lieber, der mir sagt, was ich zu tun habe, was gut und böse, richtig und falsch ist. Aber ich bin zur Freiheit berufen, zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, denen das Leben verheißen ist – in dieser und in der kommenden Welt. Er hält inne und spürt bewusst das Kraftfeld der Liebe und der Freiheit. Du hast den Geist empfangen, sagt er sich. Den Geist gegen die Angst, den Geist, der dein Vertrauen stärkt. Lobe den Herrn, meine Seele. Amen.



Pfrin. Prof. Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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