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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis, 25.09.2016

Predigt zu Römer 14:17-19, verfasst von Rolf Koppe

Liebe Gemeinde!

Wenn man sich nicht festlegen will, schiebt man schnell ein „relativ“ in einen Satz ein. Etwa wenn man die Zahl von Flüchtlingen nicht so genau kennt, die seit letztem Jahr in unserer Stadt oder in Deutschland Zuflucht gesucht und gefunden haben. Im Vergleich zum Jahr davor waren es „relativ viele“, im Vergleich zu der Zahl derjenigen, die kommen wollten, waren es „relativ wenige“. Lieber nicht genau nachfragen, das könnte Stimmen bei der Wahl kosten oder den Etat des Haushaltes der Stadt oder des Landkreises überfordern. Dabei sind rund eine Million Geflüchtete relativ wenige im Vergleich zu 80 Millionen Menschen, die dauerhaft in Deutschland wohnen. Oder? Es kommt darauf an, wie selbstverständlich ein reiches Land die Grenzen aufmacht oder schließt. Es kommt auf den Maßstab an.

„Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“. Der Apostel Paulus vertritt auch eine Relativitätstheorie, aber keine, die verschiedene Geschwindigkeiten in Beziehung setzt wie Albert Einstein es getan hat, sondern vielmehr eine Relativitätspraxis, die sehr unterschiedliche Verhaltensweisen kennt und nach der richtigen strebt. Das Ziel ist die Erbauung untereinander, nämlich der vielen Einzelnen, die eine Gemeinde bilden, oder der zahlreichen Gemeinden, die eine Kirche in der Stadt ausmachen oder in einer noch größeren Einheit wie die einer Region oder eines Landes. Der Pastor oder die Pastorin, die Superintendentin oder der Superintendent, der Landessuperintendent bzw. die Landessuperintendentin oder der Landesbischof bzw. die Landesbischöfin, die vielen Gewählten in Kirchenvorständen und Synoden, alle in leitenden Ämtern, sollen danach streben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.

 

Nicht selten wünscht man sich solch eine Praxis auch im weltlichen Bereich. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ hieß es auf der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam. Keiner und keine konnte sich nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs oder nach dem Holocaust vorstellen, dass sich solche Katastrophen wiederholen könnten und Gott sei Dank sind ja auch Kriege trotz aller Grausamkeiten begrenzt geblieben. Aber dieser relative Trost hilft denen nicht, die Angehörige oder ihr Haus in Aleppo in Syrien oder im Don Bass in der Ukraine verloren haben. Viele, die ihr Leben gerettet und sich über die Balkanroute bis zu uns hingeschleppt haben, sind traumatisiert und brauchen viel Zeit und Hilfe, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen können. Normalität ist ein sehr relativer Begriff. Auch wer ein Dach über den Kopf und zu essen bekommen hat, träumt von einer eigenen Wohnung und einem reichhaltigen Essen wie zu Hause.

 

„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist“. Absolutheit und Relativität gehen in diesem Wort eine Verbindung ein, die in der Geistes-und Religionsgeschichte ihresgleichen sucht. Denn das Reich Gottes schwebt nicht wie ein Ideenhimmel über allem Irdischen, sondern wird durch positive Aussagen wie Gerechtigkeit und Friede und Freude näher beschrieben. Es bleibt offen, ob das alles schon eingetreten ist, oder erst in der Zukunft erwartet wird. Auf jeden Fall wird eine Trennlinie zum bloßen Essen und Trinken gezogen - „das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“- und es wird eine Verbindung zum heiligen Geist hergestellt, der ja bekanntlich weht, wann und wo er will. „In ihm“ ist Gerechtigkeit und Friede und Freude.

 

Werfen wir einen Blick darauf, in welch größerem Zusammenhang diese Sätze gesprochen worden sind: es geht in Kapitel 14 des Römerbriefs um das gegenseitige Richten in der Frage, was rein oder unrein beim Essen ist. Und da wird der Maßstab aufgerichtet, dass „nichts unrein an sich selbst ist; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein. Wenn aber dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, so handelst du nicht nach der Liebe“. Wenn das nicht der krasseste Relativismus ist! Kein absolutes Gesetz, kein Priester, der sagt, was gut oder böse ist, auch keine Bibel und kein Koran, die sagen, „was geschrieben steht, steht geschrieben“, sondern allein durch die Rücksicht auf Deinen Nächsten entscheidest Du selbst, ob du nach der Liebe Gottes handelst oder nicht. Diese Haltung ist evangelisch, d.h. dem Evangelium gemäß.

Wendet man diesen geistlich-geistigen Gedanken auf das Zusammenleben in der Gemeinde oder gar im noch größeren Maßstab auf das heutige Europa an, so bekommt der in der christlichen Ökumene geprägte Satz „Einheit in der Vielfalt“ seinen tieferen Sinn, auch wenn die Unterschiede nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union größer geworden sind. Nach all den schrecklichen Kriegserfahrungen gibt es für die Zukunft nur das Friedensprojekt Europa, für das die Europäische Union im Jahr 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist.

 

Ich erinnere mich sehr wohl an Begegnungen mit Politikern in Brüssel, die uns Kirchenleuten in den 90er Jahren gesagt haben, dass wir in der „Konferenz Europäischer Kirchen“ eine vorbildliche Beziehung von West-und Ostkirchen pflegten, weil wir nicht nur mit den Baptisten und Lutheranern in Russland, sondern auch mit der Russisch-Orthodoxen Kirche engen Kontakt pflegten. Soll das alles wieder vorbei sein, weil wieder die alten Grenzen des Kalten Krieges gezogen werden? Ich hoffe das nicht, denn all unser Bemühen ist auf das Reich Gottes bezogen, dessen Spuren wir ahnen, aber dessen Anbruch wir wie im Vaterunser erbitten können. „Vielfalt. Das Beste gegen Einfalt“ heißt das Motto der Interkulturellen Woche, die an diesem Sonntagnachmittag mit einem ökumenischen Gottesdienst im Lager Friedland bei Göttingen eröffnet wird. Kann man den Sinn dieser Relativitätspraxis besser zum Ausdruck bringen?

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen



EKD-Auslandsbischof em. Dr. h.c. Rolf Koppe
Göttingen
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