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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 23.10.2016

Predigt zu Matthäus 18:1-14 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Jens Torkild Bak

Es ist deutlich, Jesus verfolgt in dieser großen Rede – oder Jüngerbelehrung, was sie ja eigentlich ist – einen Gedanken, eine Idee, eine Auffassung vom Menschen, die sich offenbar nicht in einem einfachen direkten Satz formulieren lässt, sondern ihn zum Gebrauch einiger in Wirklichkeit ziemlich spannungsvollen Bilder zwingt, wo der Ausgangspunkt ein Kind ist, das er seinen Jüngern vor Augen stellt als Beispiel – für was, oder ja, für die Nachfolge.

Das ist merkwürdig, und doch ergibt sich schließlich eine klare Botschaft.

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder….! Wir Eltern, die wir in der Modernität leben, finden fast immer, dass wir moralisch hinter unseren Kindern zurückstehen, und deshalb trifft uns so ein Satz besonders hart. Diese drohende Aussage erinnert uns an all das, was wir nicht sind und nicht können. Das verlorene Land. Sie, die Kinder, sind so süß, so verletzlich, so vertrauensvoll. In ihnen sind das Leben und die Welt noch unverdorben gegenwärtig. Wir sind ihnen alles schuldig, aber immer wieder – und nicht zuletzt Jahre später – stellen wir fest, dass wir in unseren Versuchen, ihnen das Beste zu geben, zu kurz gekommen sind. Aber ganz gleich, wie uns das als Eltern aus der Sicht des quälenden Gewissens gelungen oder misslungen ist, ist der Gedanke an Erwachsene, die wie Kinder werden, doch nicht sehr anziehend. Erwachsene, die anfangen, sich wie Kinder aufzuführen, sind eine Abscheulichkeit. Das muss deshalb im übertragenen Sinne verstanden werden. Es muss Jesus um etwas anderes gehen.

Aber der, fährt er fort, der Ärgernis gibt einem dieser Kleinen, die an mich glauben, dem wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer …. Wieder handelt es sich um eine Formulierung, die, wenn man sie wörtlich nehmen soll, nur geeignet ist, die Gedanken auf Abwege zu bringen. Ein kleines Kind glaubt nicht an Gott (oder Jesus). Das Gottesverhältnis eines kleinen Kindes – vorausgesetzt, dass man überhaupt von einem solchen reden kann – ist nicht von irgendeiner Form von Bewusstsein oder Aktivität seitens des Kindes in Bezug auf Gott geprägt. Ein Kind, sein Leben und sein Schicksal, ist Gott ausgeliefert, könnte man sagen, wenn man etwas dazu sagen wollte. So wie wir es letzten Endes auch sind. Und wenn Jesus dieses „Ausgeliefertsein“ - und eben nicht eine Leistung oder Aktivität seitens des Menschen hervorheben will als das eigentliche Wesen des Glaubens (im Gegensatz zur gesetzlichen Religiosität, die den Glauben im Horizont der Leistung denkt), dann ist das Kind als Beispiel für Glaube eigentlich ganz genial.

Sehet zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet … ermahnt er uns dann. Nein, warum sollte man das denn tun? Das würde uns niemals einfallen, besonders, wenn es sich um unsere eigenen Kinder handelt (das heißt: wenn wir in unserer Selbstberuhigung die beinharten politischen Realitäten vergessen, mit denen Europa im Augenblick zu kämpfen hat, einiges davon auch in Gestalt von Kindern, aber glücklicherweise die Kinder von anderen Leuten …). Aber wieder ist das Verständnis des Inhaltes bei näherer Betrachtung nicht ganz so einleuchtend, wie es unmittelbar erscheinen mag. Denn zur der Zeit Jesu selbst sind Kinder dadurch charakterisiert, dass sie noch keinen Wert darstellen, weil sie nämlich noch nichts zum Lebensunterherhalt der Familie oder des Kollektivs beitragen. Was soll man an ihnen denn respektieren? Was will er mit seinem Respekt vor den Kindern?

Und schließlich das letzte Bild. Das letzte kleine Gleichnis. Ein Mann steht allein mit seinen hundert Schafen irgendwo oben in den Bergen. Oder besser, jetzt sind es nur noch neunundneunzig. Eines von ihnen ist von der Herde verschwunden. Und was tut der Mann nun? Er überlässt die neunundneunzig ihrem Schicksal, um hinzugehen und nach dem einen verlorenen Schaf zu suchen. Nein, das tut er nicht. Natürlich tut er das nicht. Wie viele sind dann noch übrig, wenn er wieder zurückkommt? Nein! Da kann er sich gar nicht sicher sein. Die Situation kann sich sehr leicht nur noch verschlimmern, wenn er sich dumm verhält. Das ist ein tückisches Gleichnis, das von einer trivialen alltäglichen Situation ausgeht, aber unter der Decke reiner Selbstverständlichkeit ein Verhalten einschmuggelt, das den Erfahrungen des Alltags widerspricht.

Und gerade das letztere – was der alltäglichen Erfahrung widerspricht - ist im Übrigen für die ganze Jüngerbelehrung charakteristisch. Oder anders gesagt: Es handelt sich um eine Auffassung vom Menschen – ein bestimmtes Verständnis dessen, was ein Mensch ist und was er wert ist, das Jesus mit dieser Reihe von Bildern zur Sprache bringen will. Eine Auffassung vom Menschen, die der Art und Weise entgegensteht, in der wir normalerweise einander betrachten. Oder noch genauer gesagt: Eine Auffassung vom Menschen, die nicht von dieser Welt ausgeht in Gesellschaft und Familie, von unserer Auffassung von uns selbst und den anderen und den Maßstäben, die wir der Beurteilung zugrunde legen. Eine Auffassung vielmehr, die ihre Quelle allein m Gottesverhältnis hat und allein kraft des Gottesverhältnisses als einer persönlichen Relation besteht, das über den eignen Einschätzungen und denen der anderen hoch erhaben ist.

Denn wie beurteilen wir uns selbst und einander? Seien wir ehrlich: Wir tun dies von dem aus, womit wir jeweils zur Gesellschaft beitragen, den anderen, der Umgebung im weiten Sinne. In dieser Perspektive ist es ganz offensichtlich klüger, an den neunundneunzig Schafen festzuhalten, die man noch unter Kontrolle hat, als anzufangen, nach dem verschwundenen Schaf zu suchen.

Man kann mit der einen oder anderen Einschätzung uneinig sein. Man kann sich ungerecht beurteilt fühlen - oder man kann sich erregen über eine ungerechte Beurteilung anderer Menschen. Man kann den Eindruck haben, dass jemand einen weit größeren Anteil vom Kuchen der Gesellschaft erhält, als er eigentlich verdient hat. Aber das Prinzip selbst, dass der Wert des Menschen in irgendeinem Sinne darauf beruht, was er zur Situation und den jeweils geltenden Maßstäben beiträgt, dass es sich also um einen relativen Wert handelt, lässt sich schwerlich diskutieren. Das ist heute nicht weniger wahr als in der Zeit Jesu unter dem Regime der eifrigen Pharisäer. Es ist deshalb bedenklich, wenn man heute von Schülern hört, die Stress haben – Schüler also, die Angst haben, nicht genug Erfolg zu haben. Aber kein Wunder, dass dies geschieht, wenn die gesamte normative politische Rhetorik heute davon handelt, die Arbeitskraft besser zu nutzen, Effektivisierung und Optimierung sowie nicht zuletzt die Belohnung, die dem Tüchtigen gebührt.

Neben die irdische Perspektive, wo wir einander und uns selbst vergleichend beurteilen, stellt Jesus die himmlische Perspektive, die vom Gottesverhältnis des Menschen handelt – unabhängig von seinem Verhältnis und seiner Wertschätzung in Bezug auf alles Mögliche andere. Aus seinem persönlichen Gottesverhältnis erhält der Mensch seinen einzigartigen Wert. Wir wollen so gerne einzigartig sein kraft unserer Leistungen, aber für viele Menschen wird dies nur der Weg zu Verzweiflung und Selbsthass. Ein einzigartiges Selbst wird der Mensch nur kraft seines Gottesverhältnisses, und deshalb ist das Gottesverhältnis auch die immer wiederkehrende Voraussetzung dafür, dass ein Mensch geborgen in sich selbst ruhen kann. In der Gewissheit, immer wieder gefunden zu werden. Einen fröhlichen Sonntag. Amen.



Domprobst Jens Torkild Bak
Ribe
E-Mail: jtb(at)km.dk

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