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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

23. Sonntag nach Trinitatis, 30.10.2016

Predigt zu Römer 3:21-26, verfasst von Florian Wilk

Liebe Gemeinde,
für unseren Gottesdienst am Tag vor dem Reformationsfest ist als Predigttext ein Abschnitt aus dem Römerbrief vorgesehen. Er steht dort im dritten Kapitel und lautet in einer überarbeiteten Version der neuen Lutherbibel wie folgt:

„21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. 22 Ich rede aber von der Gerechtigkeit Gottes, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus, für alle, die glauben. Denn es gibt keinen Unterschied: 23 Alle sind sie Sünder und ermangeln der Herrlichkeit Gottes 24 und werden ohne Verdienst gerechtfertigt auf Grund seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. 25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut, zum Erweis seiner Gerechtigkeit, um des Erlassens der Sünden willen, die früher begangen worden waren 26 in der Zeit der Geduld Gottes, zum Erweis seiner Gerechtigkeit in dieser Zeit, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.“

Ein gewaltiger Text. Paulus entfaltet in gedrängten Sätzen, was es mit „Gottes Gerechtigkeit“ auf sich hat. So dicht ist seine Sprache, dass man Mühe hat, ihm zu folgen …

Zugleich ein wirkmächtiger Text. Durch die Jahrhunderte hindurch hat er der Kirche immer wieder zu denken gegeben. Das gilt auch für Martin Luther, an dessen reformatorische Entdeckung wir uns heute erinnern. Wie viele Zeitgenossen trieb ihn die ängstliche Sorge um, in Gottes Gericht nicht bestehen zu können – und deshalb nach dem Tod Höllenqualen erleiden zu müssen. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ – diese Frage setzte ihm unablässig zu. Da half das fromme Leben im Kloster überhaupt nicht. Und im Römerbrief zu lesen verstärkte die Unruhe nur. Ja, Luther „hasste dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘“, so berichtet er später. Denn er bezog es wie viele andere Gelehrte auf den himmlischen Richter, der „Sünder wie Ungerechte straft“. So klagte er: „Muss Gott … Leid auf Leid fügen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?“ Doch er ließ nicht nach, bei Paulus „ungestüm anzupochen“, um zu erfahren, „was er [sagen] wollte“. Da „erbarmte sich Gott …“ – und Luther lernte, „die Gerechtigkeit Gottes“ als „Gottes Geschenk“ zu verstehen: als Gabe, durch die Gott den Menschen im Glauben gerecht sein und leben lässt. „Hier“, so schreibt er dann, „meinte ich geradezu, … die Türen hätten sich geöffnet, und ich sei in das Paradies selbst eingetreten.“

Es ist nicht leicht, das Glück der Befreiung nachzuempfinden, die Luther erlebt hat. Natürlich kenne ich die Angst zu versagen. Doch die Furcht vor einem zornigen, strafenden Gott ist mir eher fremd. Vermutlich habe ich mich zu sehr an die Einsicht gewöhnt, dass Gott mich gütig ansieht. Wo sie selbstverständlich wird, wird sie ja rasch harmlos – und dann auch belanglos. Dennoch kann und will ich die verängstigte Gedankenwelt der Zeit Martin Luthers nicht erneuern. Er hat ja Recht: Folgt man Paulus, dann erweist Gott sich nicht im Strafgericht als gerecht, sondern in seinem Rettungshandeln an den Menschen. Aber was heißt das konkret? Was soll es für mein Leben bedeuten?

Vielleicht hilft ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Briefes, um zu einer Antwort zu kommen. Der Ausdruck „Gottes Gerechtigkeit“ steht ja nicht einfach im Zentrum dessen, was Paulus von Gott sagt. Er taucht erst in seinen späteren Briefen auf; und als Schlüsselbegriff dient er nur im Römerbrief. Das dürfte mit der besonderen Situation zusammenhängen, für die dieses Schreiben verfasst wurde.

Die Christengemeinde zu Rom war unabhängig von Paulus entstanden und hatte bislang kaum etwas mit ihm zu tun. Er war ja allererst im Osten des Mittelmeerraums tätig. Nun aber wollte er nach Westen vordringen – und dafür die römische Gemeinde als Partnerin gewinnen. Mit seinem Brief stellte er sich ihr vor und warb um ihr Einverständnis.

Dabei stand er freilich vor großen Schwierigkeiten. Denn seine Botschaft hatte Kritik hervorgerufen. Gott rettet alle Menschen allein aufgrund ihres Glaubens an Christus aus ihren Sünden? Das stieß gerade bei christusgläubigen Juden auf Skepsis. „Widersprichst du damit nicht unserem gemeinsamen Bekenntnis?“, so fragten sie den Apostel. Gott hat Israel doch ein für alle Mal zum Gottesvolk erwählt! Sollte Gott nun etwa Juden, die in Jesus nicht den Christus sehen, zugunsten von Nicht-Juden fallenlassen?“ …
Und eine zweite Frage war laut geworden: „Wie soll man Menschen zu gerechter Lebensführung anleiten, wenn Gott tatsächlich die Gottlosen aus Gnade gerecht spricht?“ …

Gewichtige Einwände, die nicht so leicht auszuräumen sind. Doch damit nicht genug. Überdies musste der Apostel seine Botschaft nun auch Römern verständlich machen. Die aber waren es gewohnt, Beziehungen als vertraglich geregelte Rechtsverhältnisse aufzufassen. Wie ließ sich das auf die Predigt von der Rechtfertigung aus Gnade anwenden?

Paulus stand vor einer gewaltigen Herausforderung! Um sie zu beantworten, beschrieb er sein Evangelium im Römerbrief noch einmal ganz neu: als ein kraftvolles Wort, das „Gottes Gerechtigkeit offenbar“ mache.

Diese Formulierung ist einfach großartig! Sie lässt nämlich eine biblische Tradition anklingen, die besagte Einwände zu entkräften erlaubt. So erinnert sie an Psalm 98, wo es heißt: „Singt dem Herrn ein neues Lied … Er hat sein Heil kundgetan, vor den Weltvölkern hat er seine Gerechtigkeit offenbart. Er … gedachte seiner Wahrhaftigkeit für das Haus Israel; alle Enden der Erde sehen das Heil unseres Gottes.“ Ein Evangelium, das Gottes Gerechtigkeit offenbar macht, lässt also Gottes Heilszusage für Israel und alle anderen Völker laut werden.

Das ergibt sich auch aus Jes 56, wo Gott durch den Propheten sagt: „Mein Heil ist nahe daran, sich einzustellen, und meine Gerechtigkeit, offenbar zu werden. … Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, sage nicht: ‚Ausschließen will mich der Herr von seinem Volk!‘ … Ich will den Fremden … einen Platz in meinem Haus geben …; ja, mein Haus wird ‚Haus des Gebets für alle Völker‘ heißen, spricht der Herr, der die Versprengten Israels sammelt.“

Das Evangelium von Gottes offenbarter Gerechtigkeit trennt Juden und Nicht-Juden nicht, es verbindet sie. Zugleich aber schlägt es eine Brücke zum menschlichen Tun. Denn in Jes 56 bezieht sich die Heilszusage auf die, die dem Herrn mit ihrem Leben dienen; sie begründet hier gerade den Appell, das Recht zu wahren: „Übt Gerechtigkeit, denn mein Heil ist nahe daran, sich einzustellen …!“, heißt es. Und Ps 98 endet mit dem Ausblick, dass Gott Erdkreis und Völkerwelt zur Rechenschaft ziehen wird. Wenn Gottes Gerechtigkeit offenbar wird, führt sie den Menschen nicht in die Untätigkeit, dann leitet sie ihn an, Gottes Willen zu tun.

Schließlich kommt Paulus mit seiner Ausdrucksweise auch den römischen Denkgewohnheiten entgegen. Beide Texte, Psalm 98 und Jes 56, erinnern ja an den Bund, den Gott einst mit Israel schloss: an die Liebe, die Gott investiert, an die Treue, die Gott versprochen hat – und zugleich an die Verpflichtung der Erwählten, nun ihrerseits den Herrn zu lieben. Wo Gottes Gerechtigkeit offenbar wird, da stiftet sie Beziehung auf Gegenseitigkeit.

Hat das etwas mit uns zu tun? Hilft es, die Kraft des Evangeliums heute neu versteh- und spürbar werden zu lassen? Ich zögere. Die Gedankenwelt des Paulus und seiner Zeit ist mir an sich kaum näher als die Martin Luthers. Religiöses jedweder Art gilt heute hierzulande eher als abseitig, wenn nicht gefährlich. Dass ich vom Glauben oder gar von Gott rede, hat nicht nur alle Selbstverständlichkeit verloren; es ist oft genug unerwünscht. Und die Sprache der Bibel, die Paulus so gut kannte und einzusetzen wusste, die Martin Luther für sich und seine Zeit neu entdeckte – sie erscheint vielen nur noch sperrig.

Und doch: Dass uns durch Jesus Gottes Gerechtigkeit offenbar wird – diese Botschaft steckt voll belebender Energie. Die Neuorientierung der Kirche im Verhältnis zum Judentum etwa hat sie in den letzten Jahren erneut vorangetrieben. Mich selbst erregt vor allem ein Impuls: Es gibt keinen Unterschied. Genauer gesagt: Im Angesicht Gottes gibt es zwischen uns Menschen keine Rangunterschiede. Denn das meint ja: So verschieden wir sind – als Männer und Frauen, als Junge und Alte, als Ostfriesen und Kurden, als Begüterte und Mittellose – uns allen kommt die gleiche Würde zu. Was immer wir geleistet oder versäumt haben, jede und jeder hat das gleiche Recht auf Leben …

Das zu Herzen zu nehmen und umzusetzen, wäre wohl für jede Ebene der Gesellschaft heilsam: gleiche Lebenschancen für alle – sei es in Göttingen, sei es rund um das Mittelmeer …

Das zu Herzen zu nehmen und umzusetzen, wäre zumal für das Miteinander der Kulturen und Religionen entlastend: Niemand hat Anlass und Befugnis, sich über andere zu erheben – weder Christen noch Muslime, weder Juden noch Konfessionslose …

Das zu Herzen zu nehmen und umzusetzen, wäre aber gerade auch für uns als Christengemeinde befreiend: Wo immer wir herkommen, was immer uns geprägt hat – Gott hat uns zusammengeführt, auf dass wir miteinander glauben und füreinander leben.

Recht so! Amen.



Prof. Dr. Florian Wilk
Göttingen
E-Mail: fwilk@gwdg.de

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