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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres / Friedensdekade, 06.11.2016

Predigt zu Matthäus 5:1-12 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Elof Westergaard

Matthäus 5,1-12 (dänische Perikopenordnung – in Dänemark ist dieser Sonntag Totengedenktag, „Allerheiligen“)

 

 

Habe ich dich erzürnt, allmächtiger Gott, wo du doch meinen guten Mann von mir genommen hast?

Wer soll jetzt die Erde pflügen?

Warum hast du mich verlassen, du mein bester Freund?

 

Diese Worte stammen aus einem Lied, das ich in einer großen Sammlung von 700 finnisch-baltischen Klageliedern gefunden habe, gesammelt und veröffentlicht in einem groß angelegten Werk. Ich fand dieses Werk zufällig vor einigen Monaten auf einem großen Büchermarkt in der finnischen Hauptstadt Helsinki.

 

Die Lieder sind historische Texte, geschaffen von Frauen aus dem karelischen Gebiet. Es sind Lieder, die bei Lebenssituationen gesungen worden waren, die von Tod und Abschied geprägt waren.

 

Die sowohl einfachen als auch bilderreichen Texte beschreiben die Gedanken des Trauernden, und sie formulieren viele von den Fragen und der Klage, die sich bei uns einstellen, wenn wir einen Menschen verlieren und Abschied nehmen müssen.

 

Die Klagelieder bringen Sehnsucht und Trauer zum Ausdruck, den Schmerz im Verlust und die Unruhe über das, was bevorsteht, wenn man allein zurückbleibt.

 

 

*

 

Wir sagen: "Der Tod gehört zum Leben“, vielleicht um das besser zu bewältigen, mit dem wir uns im Grunde nicht abfinden können. Wir wissen sehr wohl, dass dies ein Faktum ist, dass wir einmal sterben müssen und einmal Abschied nehmen müssen von unseren Lieben.

 

Dazu sagt Jesus: "Selig sind, die da trauern".

 

Mir fällt es unmittelbar schwer zu verstehen, was das für eine Seligkeit ist, die der Trauernde besitzt. Der Tod ist stumm, und was bringt er anderes als Verlust und zugedeckte Erde? Mir fällt es schwer, darin Seligkeit zu sehen, an einem Grabe zu stehen.

 

Die karelischen Klagelieder geben wie alle Klagelieder der Welt vielleicht den Teil einer Antwort.

 

Die Tatsache, dass das Klagelied existiert und gesungen wird, zeugt davon: Obwohl uns das Schweigen des Todes ansteckt und uns stumm zu machen droht, gibt es doch Lieder und Worte, die sich nicht zurückhalten lassen. Die Klagelieder sind Ausdruck dafür, dass es etwas gibt, was gesagt werden muss, auch wenn wir zurückgelassen werden in einer Leere und von Sehnsucht und Trauer erfüllt sind.

 

Verlust ist immer Verlust von etwas und von jemandem. Das Verlorene ist deshalb immer zu beweinen: Die Zeit, die verflog, die Gemeinschaft, die verfloss, die Augen, die sich schlossen, und die Hand, die losgelassen wurde. Das Verlorene füllt das Herz unvermeidlich mit Wehmut und Sehnsucht, und das bringt das Klagelied zum Ausdruck auf unseren Lippen. Ein Klagelied vom Verlorenen, all dem, was uns in unserem verwundbaren Dasein im Leben miteinander und von Gott geschenkt wurde.

 

 

*

 

"Seht nun, dass ihr weiterkommt!" So sagen wir vielleicht vorwurfsvoll zu uns selbst, oder wir denken es laut über einen anderen. Wenn wir die Klage zum x-ten Mal gehört und dasselbe Lied immer wieder gesungen haben. Aber denke daran, die Klage hat ihr Recht! Es gibt eine Zeit zum Tanzen, aber auch eine Zeit zu trauern.

 

Und worin besteht dann die Seligkeit des Trauernden, so wie sie Jesus behauptet? Vielleicht darin, dass der Klagende das geschaffene Leben bezeugt.

 

Die Klage spricht von dem, was Bedeutung hat. Z.B. Die Bedeutung des besten Freundes, so wie er in dem karelischen Klagelied besungen wird: "Warum bist du von uns gegangen, du mein bester Freund?" Diese Frage in dem Klagelied enthält ja viel mehr als eine Anfechtung angesichts der Tatsache des Todes. Es ist ein Lied über den besten Freund, der nun fort ist, tot und weit weg.

 

Ein Lied von dem Geschenk, das der beste Freund ist. Ein Lied von der Gabe, die wir Menschen für einander sein können. Ein Lied darüber, wie unser Leben Farbe erhältlich, Fülle und Sinn von denen, mit denen wir es teilen.

 

*

 

"Halte ein mit Trauer und Klage", heißt es in einem dänischen Lied von Grundtvig (Dänisches Gesangbuch 529,1). Haben Klage und Trauer ihr Recht, indem sie uns von dem erzählen, was für uns im Leben etwas bedeutet, so hat dieser Satz auch seine Gültigkeit. Es gibt allen guten Grund, das Verlorene weiter zu beweinen und in der Klage von der Liebe zu all dem zu singen, was uns im Leben und in der Gemeinschaft miteinander geschenkt ist.

Aber es ist immer mehr zu sagen als über den Verlust zu klagen. Alles liegt in dem, was verloren ist.

Wie schwer es auch sein kann, einen neuen Tag zu ergreifen, so sind uns dennoch Worte gegeben und eine Hoffnung, die weit über den Verlust hinausreichen und uns am Leben festhalten. Diese Hoffnung kommt nicht von uns selbst, sondern von Gott.

 

Der Trauernde kann ja nicht das Grab mit seinen Händen öffnen oder den Sand mit seinen Fingern zerstreuen, so wie der Klagenden das sonst in seiner Verzweiflung sagt in einem anderen karelischen Lied:

 

Wach auf, du, der mich so oft geweckt hast.

Reich deine Hand heraus aus dem Grab.

Wenn du dich nicht erheben kannst,

Dann will ich das Grab mit meinen Händen öffnen Und den Sand mit meinen Fingern zerstreuen.

 

Hier müssen wir wieder das Wort Jesu aus dem heutigen Text heranziehen, dass die Trauernden selig sind. Dieser Satz steht nicht allein und darf nicht isoliert verstanden werden.

Jesus sagt: „Selig sind, die da trauern, denn sie sollen getröstet werden". Die Seligkeit der Seligen beruht also darauf, dass Gott uns tröstet. So wie die Aufforderung in dem Lied meint, dass wir nicht mehr trauern und klagen sollen, sondern das Wort Gottes uns trösten und raten lassen sollen.

 

Klagelieder gehören zum Menschsein. Wir entgehen ihnen nicht, aber da ist auch eine andere Stimme, die Stimme Gottes, die zu uns kommt mit ewigem Trost.

 

Gott lässt nie den Tod das letzte Wort behalten. Er ruft den Dank hervor hinter der Klage und legt zugleich ein neues Lied in unseren Mund. Ein Lied davon, dass er lebt und uns Nähe ist in der Finsternis, in der eisigen Erde, im trauenden Herz und am Ende der Welt. Und wo er ist, wird es blühen und die Lippen der Stummen werden mit Dank und Freude singen nicht nur von dem, was war, sondern auch vom heutigen Tag und allen Tagen, die kommen. Im Namen Jesu, das geschehe! Amen.



Bischof Elof Westergaard
DK-6760 Ribe
E-Mail: eve(at)km.dk

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