Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres / Friedensdekade, 06.11.2016

Predigt zu Römer 14:7-9 (10), verfasst von Christiane Borchers

Liebe Gemeinde!

Gudrun ist voller Vorfreude. Bald wird sie mit ihrer Familie in ein neues Haus ziehen. Sie und ihr Mann Dirk haben sich ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft. Sie beide sind eigentlich Stadtmenschen, aber ein Haus in der Stadt können sie sich nicht leisten. Für die Kinder ist es sowieso besser, wenn sie auf dem Land aufwachsen. Hier können sie in der freien Natur spielen. Vier Kinder haben Gudrun und Dirk. Für jedes Kind hat Gudrun bewusst einen hellklingenden Namen ausgewählt. Jeder Name enthält den Buchstaben „i“: Victor, Liane, Tina und Fabian. Ihr eigener Name hat einen dunklen Klang: Gudrun, der Buchstabe „u“ kommt gleich zweimal vor. Ihr Mann findet ihren Namen schön, er mag den dunklen warmen Ton.

Endlich ist der langersehnte Tag gekommen, heute ziehen sie um. Die Möbelpacker haben den Umzugswagen ausgepackt. Überall stehen Kisten und Kartons übereinander gestapelt im neuen Haus. „Gudrun“, lacht Dirk und schwingt seine Frau durch die Luft, „freust du dich auch so wie ich?“ „Und ob“, antwortet sie glücklich. Eltern und Kinder erkunden aufgeregt die einzelnen Räume. „Das hier soll meines sein“, sagt Victor, der Älteste der Kinder. Er ist dreizehn Jahre alt und möchte seinen eigenen Bereich. „Das geht in Ordnung“, bestätigt Dirk. „Und ich?“, will die zehnjährige Liane wissen, „wo soll ich schlafen?“ „Du teilst mit Tina einen Raum“, antwortet Gudrun und zeigt auf das Zimmer neben Victorios. Die beiden Schwestern sind nur zwei Jahre auseinander. Fabian, der Jüngste, muss vorerst bei ihr und Dirk schlafen. Mehr Platz ist nicht vorhanden. Aber das stört Gudrun nicht. Das Wichtigste ist, dass sie und Dirk endlich ihr eigenes Heim haben. Fabian schläft sowieso am liebsten bei den Eltern im Bett. In Windeseile nehmen die Kinder ihre Räume in Beschlag, dann laufen sie in den Garten, spielen fangen. Victor blickt über den Heckenzaun, in Nachbarsgarten spielen auch Kinder. „Ihr seid die Neuen“, erschallt eine Kinderstimme, weitere Kinderstimmen kichern im Hintergrund „Ja“ ruft Victor „kommt herüber und spiel mit uns.“ Die Nachbarkinder zwängen sich durch die Hecke. Eins, zwei, drei, vier Kinder kommen zum Vorschein, sie sind im ähnlichen Alter wie Victor, Liane, Nina und Fabian. Sie haben einen Ball dabei. Gudrun beobachtet vom Küchenfenster aus, wie ihre Kinder und die Nachbarkinder zusammen spielen. Sie freut sich, dass die Kinder schon ein wenig Freundschaft geschlossen haben. Sie wünscht sich ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis für ihre Familie.

Anke, die Nachbarin, nimmt Gudrun herzlich auf, sucht den Kontakt zu ihr, lädt sie zum Kaffee ein. Gern nimmt Gudrun das Angebot an. Die beiden Frauen treffen sich bald regelmäßig morgens zum Kaffee, erzählen sich etwas. Doch dann fängt Anke an, an Gudrun herumzunörgeln, versucht, sie zu kontrollieren. Gudrun wehrt sich, zieht sich aufgrund dessen von ihrer Nachbarin zurück. Das passt wiederum Anke nicht. Als sie Gudrun nicht zurückgewinnen kann, beginnt sie, sie bei den Leuten im Dorf schlecht zu machen. Gudrun hat indes die ersten Kontakte geknüpft. Plötzlich spürt sie, wie einige Frauen, zu denen sie ein erstes Band geknüpft hat, sich von ihr distanzieren. „Was ist denn los?, fragt Gudrun sich „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Sie sucht den Fehler bei sich. Von Anke schlägt ihr inzwischen offene Feindschaft entgegen. Das schlechte Verhältnis zwischen Gudrun und Anke überträgt sich auf die Kinder. Sie spielen nicht mehr miteinander, streiten und beschimpfen sich. Ihre Streitereien vergiften die Atmosphäre im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft. So geht das monatelang.

Es ist Abend. Für Gudrun hat einen Tag hinter sich, der wieder einmal viel Ärger mit sich gebracht hat. Sie legt sich ins Ehebett, will schlafen, aber sie kann nicht schlafen. „Dirk, ich komme mit Anke nicht mehr klar. Sie dreht mir das Wort im Mund um, verwendet alles, was ich ihr im Vertrauen erzählt habe, gegen mich. Sie wiegelt inzwischen auch andere Frauen gegen mich auf. Ich merke das.“ „Beachte sie nicht“, rät Dirk, „nimm sie nicht wichtig.“ „Wenn ich das doch könnte“, klagt Gudrun, „ überall treffe ich auf sie: auf den Elternabenden im Kindergarten und in der Schule, beim Einkaufen, im Dorf. Selbst in unseren schönen Garten halte ich mich nicht mehr gern auf. Das Schlimmste ist, dass die anderen Frauen sich von ihr beeinflussen lassen. Sie glauben ihr und verhalten sich mir gegenüber inzwischen ziemlich abweisend. Ich fühle mich hier nicht mehr wohl“ „Ach Gudrun“, murmelt Dirk, nimmt sie liebevoll in den Arm. Leise weinend fällt Gudrun in einen leichten unruhigen Schlaf.

Was hoffnungsvoll begonnen hat, findet ein schmerzliches Ende. Erste zarte Wurzeln, die zu wachsen anfingen, werden brutal gekappt. Der Alltag wird für Gudrun unerträglich. „Lasst uns weggehen“, bittet Gudrun schließlich ihren Mann „ich kann hier nicht in Ruhe leben“. Schweren Herzens verkaufen sie ihr Haus. Es hat keinen Sinn, hier weiter zu bleiben. Sie müssen für sich und die Kinder ein neues Zuhause suchen.

„Du aber, was richtest du deine Schwester oder deinen Bruder?“, mahnt Paulus, „oder, du anderer, was verachtest du deine Schwester und deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Christi dargestellt werden (V10). Keiner lebt sich selber und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er Macht hat über Tote und Lebendige (7-9).“

Unser ganzes Denken, Fühlen und Handeln sollen wir auf Gott ausrichten und ihn zum Maßstab machen. Niemand soll sich selbst über andere erheben. Niemand ist befugt, über andere den Stab zu brechen und Menschen zu verurteilen. Paulus weiß, wovon er redet. Er hat konkret die Meinungsverschiedenheiten in der Gemeinde in Rom vor Augen. Es hat bereits böses Blut gegeben. Manche Gemeindeglieder sind zerstritten, sie machen sich gegenseitig schlecht, reden übereinander. Diese Verhaltensweisen vergiften die Atmosphäre und zerstören den Frieden in der Gemeinde. Worüber streiten sie sich? Es geht um das Verständnis, wie mit dem Opferfleisch in rechter Weise umzugehen sei. Zwei Gruppierungen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die einen meinen, man dürfe kein Opferfleisch essen. Es war üblich, das Opferfleisch nach den religiösen Zeremonien an Händler zu verkaufen. Die wiederum boten es auf dem Markt an. Über das Fleisch seien heidnische Gebete gesprochen worden, die Opfergabe sei römischen Göttern geweiht, ein Christ könne daher auf keinen Fall dieses Fleisch essen. Die anderen vertreten die Ansicht, das Fleisch dürfe ohne Bedenken verzehrt werden. Es genüge, ein christliches Gebet zu sprechen, denn „alles wird geheiligt durch Gottes Wort und das Gebet“ (vgl. 1. Tim. 4,4f). Paulus mahnt Christinnen und Christen in der Gemeinde in Rom, von sich selbst abzusehen und den Blick auf Gott zu richten. Wer seinen Blick auf Gott richtet, lässt den Streit beiseite, redet über den anderen nichts Böses und macht ihn nicht schlecht.

Paulus weist jede menschliche Selbstüberhöhung zurück, erinnert daran, zu wem wir gehören: zu Gott und Jesus Christus. Das gilt im Leben und im Sterben. Christus hat uns von der Macht des Todes befreit. Wo menschliche Existenzen und Beziehungen zerstört werden, hat der Tod die Herrschaft übernommen. Als befreite Kinder Gottes haben wir es nicht nötig, uns über andere zu erheben und sie zu verachten. Gott ist unser Maßstab, auf ihn richten wir unser Augenmerk. Er ist uns Richtung, Wegweisung und Ziel.

Gudrun und ihre Familie müssen noch einmal von vorne anfangen. Sie finden wieder ein kleines bescheidenes Haus mit Garten. Wieder sind die Räume aufgeteilt, wieder spielen die Kinder mit den Nachbarskindern im Garten, wieder schaut Gudrun ihnen aus dem Küchenfenster zu. Dieses Mal ist sie besorgt. Werden sie dieses Mal auf Menschen treffen, die sie in Frieden leben lassen? Amen.

 



Pfarrerin. Dipl-Theol. Christiane Borchers
Emden
E-Mail: christiane.borchers@web.de

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