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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertag, 13.11.2016

Predigt zu Römer 8:18-23, verfasst von Christian Anders Winter

Gnade sei mit euch von dem, der da war und der da ist und der da kommt. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

Volkstrauertag – in jedem Jahr begehen wir ihn am zweitletzten Sonntag des Kirchenjahres. Wir erinnern uns an diesem Tag an die Millionen und Abermillionen Opfer, die die beiden Welt­kriege des letzten Jahrhunderts gefordert haben. Wir gedenken der Millionen Soldaten, die auf den Schlachtfeldern, in den Lazaretten, in den Gefangenenlagern starben; wir gedenken der unzähligen Opfer unter der Zivilbevölkerung, die bei Bombenangriffen, die auf der Flucht, die unter den Händen von Geheimpolizei und Willkürjustiz ihr Lebens lassen mußten.

Es ist noch heute schwer für die Menschen, in deren Leben und Schicksal die beiden Weltkriege eingegriffen haben, die liebe Menschen, die ihre Heimat verloren haben, mit den schmerzvollen Erinnerungen zu leben. Und es gibt nun auch wieder Familien, Menschen, die um Ehemänner, Väter, Söhne, Freunde, Kameraden trauern, die im Auslandseinsatz in Afghanistan umgekommen sind, die im Bürgerkrieg in Syrien oder dem Irak als Opfer von brutalen Selbstmord­anschlägen und Kampfhandlungen getötet wurden, deren Sinnhaftigkeit sich allzu oft unserem Verstehen entzieht...

Und dennoch geht es wohl vielen – zumindest unter uns jüngeren – so wie dem jungen Mann, von dem ich vor kurzem Folgendes in einem Interview gelesen habe. „Volkstrauertag – was soll denn das? Da gehen dann wieder die Vereine zum Denkmal, Feuerwehr, Gesangverein und so. Und dann reden sie, reden vom Krieg, der doch schon so weit zurück liegt, und vom Frieden. ja, Frieden will ich auch. Aber mir ist die Zukunft wichtiger...“

So wie er denken wohl die meisten Jüngeren heute. Frieden ja, aber Erinnerung an den Krieg, etwa sogar Erinnerung an den 1. Weltkrieg – nein danke! Dabei ist es gerade einmal 100 Jahre her, das am 21. Februar 1916 um 8:12 Uhr wie aus dem Nichts das Dauerfeuer deutscher Geschütze über die französischen Stellungen bei Verdun hereinbrach. Bis zum Ende der deutschen Offensive im September des gleichen Jahres werden bei der Operation „Gericht“ etwa 710 000 deutsche und französische Soldaten getötet, verwundet oder gelten als vermißt – rund 6000 Tote pro Tag… Und selbst, wenn man heute im Jahr 2016 auf das ehemalige Schlachtfeld dort kommt, wird man die Spuren, die zerschossenen Befestigungen, die Krater der Granaten und Minensprengungen, die Überreste des Krieges, die auch heute noch überall auf den Feldern liegen, sehen können.

Volkstrauertag – das ist auch der Grabstein in Südengland, der an die im zweiten Weltkrieg gefallenen Männer der 8. US Bomberflotte erinnert. Die Inschrift, für unser Verständnis sicher ungewöhnlich, lautet: „Laß sie nur ein, Petrus, sie sind müde. Laß sie dort schlafen, wo die Engel ruhen. Wecke sie, wenn neue Feuer brennen, entzündet von der Sonne und nicht dem Krieg. Gib ihnen Frieden, tiefen Frieden, denke daran, wie wund sie sind. Gib ihnen, wonach sie sich sehnen: Jazzbands, keine Harfen, und Liebe, denn sie hatten keine Zeit für Liebe, Bergwipfel zum Erklettern, Mädchen wie Wiesenwind mit Blütenhaar, den Duft von Sommerfeldern. Sag ihnen, wie sehr sie uns fehlen – aber laß sie auch wissen, daß sie sich nicht sorgen müssen, daß es auch so geht, hier auf Erden...“ 

Als Predigttext für den heutigen Sonntag ist uns ein Abschnitt aus dem Römerbrief des Apostels Paulus vorgegeben; dort heißt es in einer modernen Übersetzung:

18 Im Übrigen meine ich, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen, wenn wir an die Herrlichkeit denken, die Gott bald sichtbar machen und an der er uns teilhaben lassen wird. 19 Ja, die gesamte Schöpfung wartet sehnsüchtig darauf, dass die Kinder Gottes in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar werden. 20 Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, allerdings ohne etwas dafür zu können. Sie musste sich dem Willen dessen beugen, der ihr dieses Schicksal auferlegt hat. Aber damit verbunden ist eine Hoffnung: 21 Auch sie, die Schöpfung, wird von der Last der Vergänglichkeit befreit werden und an der Freiheit teilhaben, die den Kindern Gottes mit der künftigen Herrlichkeit geschenkt wird.

22 Wir wissen allerdings, dass die gesamte Schöpfung jetzt noch unter ihrem Zustand seufzt, als würde sie in Geburtswehen liegen. 23 Und sogar wir, denen Gott doch bereits seinen Geist gegeben hat, den ersten Teil des künftigen Erbes, sogar wir seufzen innerlich noch, weil die volle Verwirklichung dessen noch aussteht, wozu wir als Gottes Söhne und Töchter bestimmt sind: Wir warten darauf, dass auch unser Körper erlöst wird.  Römer 8, 18-23

Fast zynisch klingt der erste Satz in unseren Ohren angesichts all des Leids, das der Erste, der Zweite Weltkrieg und die ungezählten anderen Kriege und Bürgerkriege seitdem über die Menschheit gebracht haben: Im Übrigen meine ich, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen, wenn wir an die Herrlichkeit denken, die Gott bald sichtbar machen und an der er uns teilhaben lassen wird. Aber was der Apostel damit meint, wird in der Folge deutlich. Für ihn ist die Welt, die Schöpfung noch unvollkommen, erwartet das Neue, die endgültige Veränderung, als würde sie in Geburtswehen liegen. All das Leid, all die Schmerzen und die Not – sie sind für Paulus nicht mehr und nicht weniger als die Wehen vor der Geburt eines Kindes (oder auf die Welt übertragen: vor dem Anbruch einer alles verändernden Erneuerung.) Die Schöpfung, die ist und in der wir leben – sie ist vergänglich, sie gehört eigentlich schon der Vergangenheit an

„Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!“, so hat der französische Philosoph Gabriel Marcel einmal gesagt. Das ist ein sehr pessimistischer Satz. Er klingt so, als gäbe es keinen Ausweg aus dem Verhängnis, als könnten wir nichts daraus lernen, daß in der Geschichte der Menschheit schon viele Millionen Menschen sinnlos gestorben sind. Und wie schrecklich wäre das wohl für uns, die Lebenden, die Überlebenden: Die unzählbar vielen Toten der Kriege und Verbrechen würden nicht schweigen, sondern reden, schreien, klagen, jammern, vom Grauen, von der letzten Einsamkeit, von der Sinnlosigkeit, von den zerstörten Idealen und Hoffnungen, vom Betrug an ihrem Leben. Das ist eine furchtbare Vorstellung! Wenn die Toten nicht schweigen würden, dann würden sie uns sicherlich ununterbrochen ins Gewissen reden, sie würden uns warnen, uns anflehen: Hört auf mit dem Unfrieden, mit dem Haß, mit der Habgier, mit dem Morden. Sie würden uns fragen: Wie konnte das geschehen? Wir verstehen nicht, weshalb so viele weg geschaut haben, einfach nicht wahrnehmen wollten, was damals geschehen ist. Aber: Die Toten schweigen, und vielleicht deshalb können wir heute leben wie wir leben.

Wenn wir uns – diese Worte im Ohr – noch einmal an die Worte des Paulus erinnern, dann scheint sich dieser Pessimismus zu bestätigen. „Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet“, schreibt Paulus, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Paulus rechnet damit, daß er selbst und andere leiden müssen. Er spricht von den „Leiden dieser Zeit“ und an keiner Stelle davon, daß die irgendwann einmal in unserer irdischen Zeit aufhören würden. Auch für ihn geht das immer so weiter, und heute, viele Jahre später wissen wir, daß er damit Recht behalten hat. Es ist so weitergegangen, vielleicht schlimmer geworden. Paulus hat das absolut realistisch gesehen.

Und genau so klar beschreibt Paulus auch, was daraus folgt: die Sehnsucht der Menschen nach Erlösung aus diesem Leiden, aus der Vergänglichkeit ihrer Existenz. Wir alle haben sie, diese Sehnsucht nach Frieden und nach Freiheit von Leid, Schmerz und Tod. Da klingt fast wie ein Vorwurf gegen den Schöpfer, wenn Paulus sagt: „Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat.“ Wie wahr: ohne daß wir das wollen, müssen wir sterben. Das macht Angst, macht unsicher. Deshalb ist die Sehnsucht nach Erlösung von der Vergänglichkeit, nach Sicherheit eben eine zutiefst menschliche Sehnsucht.

Weil wir in dieser Angst und Unsicherheit leben, weil wir immer wieder in unserem Leben die Erfahrung des Leides machen müssen, sind wir, im Grunde unseres Herzens, eigentlich nicht damit einverstanden, daß die Welt, die ganze Schöpfung, so ist, wie sie ist. Wir sehnen uns mit aller Kraft nach einer anderen, besseren Welt.

An dieser Stelle sagt uns nun Paulus: Wir sind zwar vergänglich, wir müssen auch leiden – das ist richtig und unabänderlich. Die jetzige, bestehende Welt wird nicht besser. Was es aber gibt, das ist eine fest begründete Hoffnung: Die Hoffnung, daß es eine neue Schöpfung geben wird! An Jesus Christus haben wir gesehen, daß wir durch den Tod hindurchgehen und wieder auferstehen werden. Durch seine Auferstehung haben wir einen Blick auf die zukünftige Welt geworfen, die nicht mehr seufzt, nicht mehr trauert und nicht mehr vergänglich ist.

„Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!“ Dieser Satz hat sich in erschreckender Weise bestätigt – zwei Weltkriege und die Unzahl anderer „kleinerer“ Kriege und kriegsähnlicher Auseinandersetzungen sind dafür grausamer Beweis. Aber gleichzeitig ist er schon jetzt durch Jesus Christus widerlegt! An dem Tag nämlich, an dem Gott seine neue Schöpfung machen wird, gilt er nicht mehr. Seit dem Tag, an dem Gott durch die Auferstehung seines Sohnes Macht und letztes Wort genommen hat, gilt er nicht mehr. Denn nun beginnt nichts mehr wieder von vorn. An dem Tag, an dem Gottes Reich mit der Wiederkehr Christi sichtbar anbricht, können die Toten wieder reden, und niemand muß mehr Angst vor ihren Stimmen haben, niemand muß sich dann noch die Ohren zuhalten, denn "die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes".

Ich glaube, liebe Gemeinde, daß wir schon heute, an diesem Volkstrauertag des Jahres 2016, 98 Jahre nach dem Ende des ersten, 71 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, etwas von dieser herrlichen Freiheit der Kinder Gottes spüren können – durch die Hoffnung. Es ist die Hoffnung darauf, daß wir eines Tages endgültig von aller Vergänglichkeit, allem leid und aller Not erlöst sein werden, und diese Hoffnung ermöglicht es uns, heute den Toten unsere Stimmen zu verleihen. Die Hoffnung auf die neue Schöpfung läßt uns heute sagen: Wir gedenken der Toten, damit wir selbst Frieden halten und schaffen. Wir gedenken der Opfer von Gewaltver­brechen, damit wir selbst mutig genug sind, gegen Gewalt anzugehen. Den Mut dazu kann uns die Hoffnung und die Gewißheit schenken, die wir mit Paulus teilen. Denn wir dürfen – wie Paulus – davon überzeugt sein, daß die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Wir gehen auf eine neue Schöpfung zu – deshalb laßt uns alles uns mögliche dafür tun, daß wir schon in der jetzigen Schöpfung für Frieden und Gerechtigkeit sorgen. Amen.

 



Pstor Dr. Christian Anders Winter
Niebüll
E-Mail: christian.winter@disanet.de

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