Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertag, 13.11.2016

Predigt zu Römer 8:18-25, verfasst von Dietz Lange

Liebe Gemeinde!

Dieser vorletzte Sonntag des Kirchenjahrs heißt auch Volkstrauertag. Der wurde 1952 in der Bundesrepublik als staatlicher Feiertag eingeführt, um der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in aller Welt zu gedenken. Damit bezog man ausdrücklich Stellung gegen den Heldengedenktag der Nationalsozialisten, der immer im März gefeiert wurde. Die Helden und das Frühjahr, das symbolisierte eine Verherrlichung des Krieges und damit auch dieser ganzen brutalen Diktatur. Davon wollte man sich distanzieren. Das konnten die Kirchen gut übernehmen. Gott will keinen Krieg, Gott will nicht, dass Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Überzeugung oder ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung ermordet werden. Das können wir heute ebenso unterschreiben, auch wenn bei uns immer weniger Menschen noch eine lebendige Erinnerung an Familienangehörige haben, die im II. Weltkrieg gefallen sind. Krieg und Folter haben in der Welt keineswegs aufgehört, und in unserem Land gibt es schon wieder Mordanschläge auf Menschen bloß deshalb, weil sie Fremde sind.

Paulus spannt freilich in dem Abschnitt, den wir gehört haben, den Bogen viel weiter. Er spricht ganz allgemein vom Leiden überhaupt. Sicher denkt er besonders an die Verfolgungen, denen er wie die Christen überhaupt damals ausgesetzt war. Aber es geht ihm auch um das Leiden der Schöpfung, des natürlichen Lebens. Dazu gehören Krankheit, Behinderung, Enttäuschung in der Liebe oder im Beruf. Über all das schreibt er: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“

Ein steiler Satz. So etwas sagt sich nicht so locker daher. Das hieße ja, die Menschen nicht ernst zu nehmen, die unter ihrem Leiden zusammenbrechen. Dafür weiß Paulus viel zu genau, wovon er spricht. Nicht nur musste er ständig mit seiner Verhaftung rechnen – und die Gefängnisse damals waren alles andere als human –, sondern er litt auch an einer chronischen Krankheit. Was es war, wissen wir nicht – nur dass sie ihm das Leben oft ziemlich sauer machte. Dazu kamen Anfeindungen aus manchen seiner Gemeinden, die ihn persönlich verletzten und seine ganze Arbeit in Frage stellten.

Nehmen wir das alles zusammen: Verlust eines lieben Angehörigen, persönliche Verletzungen und Verleumdungen, schwere Krankheit und Angst vor dem Tod, dann ist das nicht mehr weit weg von uns, dann sind wir selbst mit im Bild. Da können wir irgendwie alle mitreden. Die Frage, auf die alles ankommt, ist: Wie geht der Glaube damit um? Können wir so einen Satz ehrlich nachsprechen wie den von Paulus: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“? Den meisten von uns, vielleicht sogar uns allen, dürfte das ziemlich schwerfallen. Ich hatte vor langer Zeit einen Briefwechsel mit einem mir persönlich nicht bekannten Mann, der viele Jahre zuvor seine Frau durch einen Unfall verloren hatte. Er war als junger Mensch kirchlich sehr aktiv, geradezu ein begeisterter Christ. Jetzt schrieb er: „Mein Glaube ist eigentlich nur noch eine Pflichtübung. Helfen tut er mir nicht mehr.“ Er war über den Schock über den plötzlichen Verlust nicht hinweggekommen. Wer würde das nicht verstehen? Ihm kann man so einen Satz wie den von Paulus doch gar nicht zumuten, oder?

Wenn der Römerbrief ein persönlicher Brief des Paulus an diesen Mann wäre, dann würde er ihm solche Worte nicht unvermittelt an den Kopf werfen. Er würde erst einmal seinen Respekt vor dem Leiden des anderen und seine Solidarität mit ihm bekunden. Dann würde er freilich zu gegebener Zeit durchaus seinen Glauben so wie hier im Römerbrief zum Ausdruck bringen. Dabei ist aber ganz wichtig, wie er das tut. Er macht das nicht in der Form eines Lehrsatzes: „Die Leiden dieser Zeit zählen nichts gegenüber der Herrlichkeit Gottes.“ Das klingt ja wie: Friss Vogel, oder stirb. Eine solche Art von Frömmigkeit ist unmenschlich. Vielmehr schreibt Paulus: „Ich bin überzeugt davon, dass es so ist“! Er steht dazu mit seiner ganzen Person, aber zugleich lässt er den Menschen, die er anspricht, Zeit; auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Einwände zu erheben.

Das kann man an der Fortsetzung klar ablesen. Da ist viel von Seufzen und Sehnsucht nach Befreiung die Rede. Und das, obwohl wir das „Angeld des Heiligen Geistes“ schon haben. Angeld, das ist eine altertümliche Ausdrucksweise. Sie bedeutet: Durch Gottes Geist haben wir schon jetzt die Gewissheit, dass wir bei Gott endgültig und unwiderruflich aufgehoben sind. Aber wir haben das nur als Angeld oder Anzahlung und sind deshalb noch kritischen Fragen und Zweifeln an Gott ausgesetzt. Was eine Anzahlung ist, wissen wir aus dem Geschäftsleben. Wer sich etwas richtig Teures wie ein Auto kaufen will, der wird meistens nicht den ganzen Kaufpreis auf den Tisch legen können, sondern er wird eine Anzahlung leisten und den Rest in monatlichen Raten abstottern. Der Vergleich hinkt freilich ein bisschen. Denn Gott könnte uns ja durchaus sofort ganz und gar von aller Angst und allem Leid befreien, wenn er wollte. Dass er das nicht tut, ist für uns ein Anlass zur Klage, ja zur Anklage gegen Gott. Das geht nicht nur uns Heutigen so; die Psalmen im Alten Testament sind voll von solchen Klagen. Auf die Frage nach dem Warum bekommen wir keine Antwort; Gott lässt sich nicht in die Karten gucken.

Trotzdem ist die Gewissheit des Glaubens trotz allem Leid, das uns immer noch trifft, ansatzweise schon da. Paulus nennt das Hoffnung. Das klingt sicher für manchen enttäuschend. Bloß Hoffnung, mehr nicht? Das ist denn doch entschieden zu wenig. Wenn wir so an unsere Hoffnungen denken – Hoffnung auf Heilung von einer Krankheit, Hoffnung auf mehr Verständnis von einem Menschen, an dem uns liegt, der uns aber die kalte Schulter zeigt, Hoffnung auf eine Arbeitsstelle mit weniger Konflikten mit dem Chef oder im Kollegium – dann steht uns zugleich vor Augen, wie oft solche Hoffnungen schon enttäuscht wurden. Und was soll ich mit einer bloßen Hoffnung dann anfangen, wenn es ums Ganze geht, also mit einer Hoffnung darauf, noch über den Tod hinaus bei Gott aufgehoben zu sein? Ich kann zwar den Gedanken an das Sterben lange mit Erfolg verdrängen, aber irgendwann holt er mich unweigerlich ein.

Paulus macht uns da nichts vor. Er weiß, dass niemand sein Leben so vor sich sieht wie eine Gebrauchsanweisung für eine komplizierte Maschine, wo man bloß genau eine vorgeschriebene Aktion nach der anderen vornehmen muss, um dann ganz sicher zum Ziel zu kommen. Er weiß wie wir, dass Glaube ohne Zweifel und auch ohne wiederkehrende Ängste nicht zu haben ist. Er rät uns deshalb zur Geduld. Geduld ist eine Kraft. Gott gibt sie uns. Aber das kann manchmal dauern. Sie kennen vielleicht die schöne Redensart: „Geduld braucht viel Zeit, um sie zu lernen.“ Das ist mit dem Glauben und der christlichen Hoffnung nicht anders. Manchmal bleibt der Glaube sogar ganz weg, wie bei dem Mann, von dem ich vorhin erzählt habe. Mancher gewissenhafte Christenmensch fühlt sich dann schuldig. Aber das sollte man nicht. Es gibt ja keinen Befehl: „Du musst gefälligst glauben, sonst …“ Glaube ist kein Klimmzug, für den man einfach nur kräftig trainierte Armmuskeln braucht. Glaube ist Geduld, völlige Offenheit für das, was Gott mit uns vorhat. Ohne Zweifel und Fragen geht das nicht ab.

Aber der Zweifel hat nicht das letzte Wort. Gott hat Jesus nicht im Stich gelassen, obwohl es am Kreuz tatsächlich so aussah, sondern er hat ihn auferweckt. So wird er auch uns nicht enttäuschen, sondern uns am Ende in vollendetem Frieden in seine Hand fallen lassen. Gottes Geist, von dem wir ja schon eine Spur mitbekommen haben, steht dafür. So können wir auch im Dunkel unerschrocken weitergehen, selbst wenn wir den Weg vor uns wie in einem Urwald kaum erkennen können. Es gibt einen wunderschönen Satz aus einem Gebet, das ein Dichter des Alten Testaments einmal in einem Psalm geschrieben hat. Er hat Gott erst einmal in großer Breite sein Leid geklagt. Dann aber schreibt er: „Dennoch bleibe ich stets an Dir.“ „Dennoch, trotzdem“ – das klingt fast wie der Trotz, den Sie von Ihren Kindern kennen, als die noch klein waren. Aber der Vergleich ist vielleicht sogar ganz passend. Denn vor Gott sind wir tatsächlich ein wenig wie Kinder. Er allein weiß ja, was wirklich gut für uns ist. Seine Fürsorge ist unendlich viel weitsichtiger als unsere Erwachsenenklugheit und unsere Altersweisheit. Legen wir also unsere Skepsis und unseren neunmalklugen Pessimismus ab und verlassen uns ganz kindlich – trotz allem – geduldig auf Gottes Erlösung.                                                                                                                            Amen.



Prof.Dr. Dietz Lange
Göttingen
E-Mail: dietzclange@online.de

(zurück zum Seitenanfang)