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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertag, 13.11.2016

Vom Seufzen aller Kreatur
Predigt zu Römer 8:18-26, verfasst von Dieter Splinter

Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Wille, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst seufzen in uns selbst, die wir des Geistes Erstlingsgabe haben, und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt, sondern der Geist vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.

 

I.

Liebe Gemeinde!

Paulus spricht einen kühnen Gedanken aus. Er sagt: Nicht nur wir Menschen, die ganze Schöpfung sehnt sich danach, vom Leiden befreit zu werden: „Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“

„Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ So ist es. Flüsse und Seen treten über die Ufer. Stürme peitschen das Land. Die Sonne brennt darauf und die Erde verdorrt. Kälte lässt erfrieren. Lawinen stürzen ins Tal. Vulkane speien heiße Asche und Gestein aus. Die Erde bebt. Und wenn die Erde bebt, wie in diesem Jahr in Italien, oder  ein  Hurrikan über das Land fegt, wie vor nicht allzu langer Zeit über Haiti,  dann werden nicht nur Menschen in den Tod gerissen, sondern auch Tiere, Pflanzen, Bäume.

Die Schöpfung ist nicht nur schön. Sie kann Teile von sich auch selbst zerstören. Darum ist sie voller Leiden. Die Schöpfung leidet an sich selbst.   Sie  seufzt und ängstigt sich deshalb wie wir Menschen  es angesichts des Leides tun, das durch Naturkatastrophen ausgelöst wird. Und wie wir Menschen hofft sie darauf, dass es anders wird, hofft die Schöpfung auf Erlösung von dem, was sie sich selbst antut. Aber eben – auch wir Menschen hoffen auf Erlösung: „Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.“

Kühn ist, was Paulus feststellt: Bäume und Berge, Mäuse und Meere, Blüten und Beeren haben die gleiche Sehnsucht wie  wir Menschen. Sie sehnen, wie wir Menschen, vom Leiden erlöst zu werden. Aber es gibt einen großen Unterschied. Die Schöpfung weiß das nicht. Ihr Sehnen ist geistlos. Sie ist sich ihrer Sehnsucht nicht bewusst. Der Mensch aber ist es. Er hat den „Geist als Erstlingsgabe“. Wir Menschen können sogar unsere eigene Fehlerhaftigkeit, unsere Fähigkeit zur Sünde erkennen: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Wir können, wie Paulus es an einer anderen Stelle im Römerbrief tut,  sagen und fragen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?“ Um dann vielleicht sogar - wie er - hinzufügen zu können: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“

Die Schöpfung kann das nicht. Sie ist sich ihrer Fähigkeit zur  Selbstzerstörung nicht bewusst. Sie tut es aber: So treten Flüsse über die Ufer, brechen Vulkane aus, peitscht Wind das Land, trocknet durch Hitze die Erde aus, lässt Kälte erfrieren und bebt die Erde.  Die  Schöpfung ist darum der Vergänglichkeit unterworfen, doch nicht um des Leides, sondern um der Hoffnung willen. Im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, wird diese Hoffnung so beschrieben: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe, da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ Die Schöpfung wartet wie wir Menschen auf Erlösung. Sie hat – wie wir Menschen – ein Ziel: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.“

 

II.

Aber eben: Die Kinder Gottes sind noch nicht offenbar geworden. Es gibt sie noch nicht. Und das heißt doch: Wir sind noch in einem Übergang begriffen. Viele Menschen aber sind in einem tiefen Missverständnis gefangen. Sie meinen: Wir Menschen sind der Schlussstein von Schöpfung und Evolution. Es wird über uns hinaus keine weitere Entwicklung mehr geben. Diese Überzeugung ist Ausdruck  einer unausrottbaren auf den Menschen zentrierten Eitelkeit. Als ob 12 oder 16 Milliarden von Jahren darauf gewartet haben, dass der homo sapiens entsteht. Nein, alles spricht dafür, dass wir ein Übergang sind. Das Neue Testament jedenfalls meint, dass wir die Brücke zu etwas Neuem sind. An Jesus Christus ist das Neue abzulesen. Gewiss: Er hatte zu leiden wie wir Menschen. Das Kreuz blieb ihm nicht erspart. Doch er ist auferstanden. So wird es auch uns gehen. Es gibt ein Jenseits der Tragödie.  Das veranlasst Paulus zu der überschwänglichen Aussage: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“

Ich meinerseits bin überzeugt, dass diese Worte des Paulus etwa in den Ohren der vom Hurrikan auf Haiti Betroffenen  kaum wie ein Trost, eher wie blanker Hohn klingen. Sie hören sie nicht, können sie nicht hören – zu groß ist das Leid, das über sie hereingebrochen ist. Sie haben Angehörige, Freunde,  Nachbarn  verloren. Ihre Behausung gibt es nicht mehr. Ihre Existenz ist zerstört. Seuchen drohen. Da muss der Hinweis, dass wir im Übergang Begriffene sind, völlig abstrakt, der Hinweis darauf, dass wir  in viel längeren Zeiträumen denken müssen und der Vorgänger des homo sapiens auch nicht ahnen konnte, welche ungeahnten Entwicklungsmöglichkeiten sein Nachfahre haben würde, völlig daneben sein. Wer in der Not keine kurzfristige Perspektive hat, wird nie eine langfristige Sichtweise entwickeln. Umso wichtiger ist es auf das zu hören, was Paulus sonst sagt: „Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?“

III.

Den auferstandenen Christus sehen wir nicht. Noch ist er nicht gekommen zu richten die Lebenden und die Toten. Doch Christen hoffen auf ihn. Wir hoffen, dass er uns zu neuen Menschen machen wird. Wir glauben, dass es uns so wie ihm geht und gehen wird. Es gibt das Leid. Es gibt das Kreuz, aber es gibt ein Jenseits der Tragödie: Es gibt die Auferstehung! Wir werden frei werden zu der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“  Die ganze Kreatur fragt uns wortlos durch ihr Dasein, ob wir diese Hoffnung tatsächlich haben: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“

Und in der Tat: Muss man um diese Welt nicht Angst haben? Sie hat schon so viel unermessliches Leid erlebt. Das Siechtum einzelner, Kriege und Bürgerkriege und immer wieder Naturkatastrophen. Die Bilder und Berichte, die wir dazu in den Nachrichten sehen, wecken Hilfsbereitschaft, aber eben auch Ohnmacht, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Entsetzen. Man kann manchmal gar nicht mehr hinschauen. Es verschlägt einem die Sprache. Selbst für ein Gebet fehlen die Worte. Man kann fast nur noch seufzen: „Ach Gott!“

Paulus jedoch meint: „Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“  Wenn uns also, so meint Paulus, elend wird angesichts des unermesslichen Elends der Welt, wenn wir schwach werden, weil wir gegen die Gräuel auf Erden so wenig tun können, dann hilft der Geist – und zwar der Geist Gottes und nicht unser eigener - unserer Schwachheit auf. Er tut es nicht mit billigen Vertröstungen, sondern indem er uns jeweils ermutigt das Nächstliegende zu tun. Im Blick auf die Schöpfung heißt das zum einen, sie zu bebauen und zu bewahren – das haben wir in den letzten Jahrzehnten immer wieder gehört und versucht in die Tat umzusetzen; es heißt aber auch, sich vor ihren zerstörerischen Kräften zu schützen. In alter Zeit sprachen die Theologen von der „gefallenen Schöpfung“ und meinten damit, dass sozusagen auch die Schöpfung zur Sünde fähig ist. Davor gilt es sich zu schützen. Das müssen wir wieder lernen. Doch in der Katastrophe gilt es, wie gesagt – und wie es auch vielfach geschieht ! - das Nächstliegende zu tun.

Dabei gehört es zur Geistesgegenwart, dass man sich auf das Mögliche zu beschränken weiß, dass man nicht das Unmögliche will, sondern sein Möglichstes tut. Der Heilige Geist lehrt uns nicht, große Sprünge zu machen, sondern einen Schritt nach dem anderen zu tun. Der wirklich geistesgegenwärtige Mensch weiß also auch und vor allem, was er nicht tun kann. Er kennt seine Grenzen. Und er schickt sich darein, dass er nicht alles auf einmal, sondern immer nur das Mögliche tun kann.

Sein Möglichstes tun – das ist gewiss nicht wenig. Wer es versucht, der wird merken, dass es im konkreten Einzelfall sogar sehr viel sein kann. Aber gerade ein helfender Mensch, der sein Möglichstes tut, wird doch erst recht merken, dass die Welt immer noch sehr viel mehr Not hervorbringt, als Menschen heilen können. Und darein, liebe Gemeinde, will sich unser Glaube nicht schicken. Damit wird er nicht fertig. Es bleibt  die Angst, dass alle Hoffnung für die Menschheit und für die Schöpfung vergebens und vergeblich sein könnte.

Diese Angst drückt sich aus in unaussprechlichen Seufzern. Seufzend gestehen wir uns und Gott unsere Angst ein. Ein solcher Seufzer, liebe Gemeinde, ist das ehrlichste Gebet von der Welt. Denn mit ihm gestehen wir Gott auch dies ein, dass wir angesichts der Not auf Haiti, aber auch angesichts der unzähligen Verbrechen, die Menschen an Menschen verüben, oft wahrhaftig nicht wissen, was wir beten sollen. Doch, so meint Paulus, müssen wir darüber nicht auch noch verzweifeln. Das ganze Elend der Welt drängt  in einem einzigen Seufzer zu Gott sehr viel klarer empor als in noch so langen Gebeten. Alle Schmerzen, unter denen die Schöpfung stöhnt, alle Gräuel und alle Gräueltaten, die zu erzählen sich die Sprache sträubt – sie drängen sich in einem einzigen seufzenden „Ach“ - „Ach, Gott“ - zusammen.

Und das ist nun die große Verheißung für unsere Seufzer, dass der Heilige Geist in sie einstimmt und sie vor Gott bringt. Er, der Himmel und Erde mit seiner Gegenwart zusammenhält, vertritt uns im Himmel mit unseren irdischen Seufzern. Der Heilige Geist liegt mit unserem „Ach“ Gott, dem Vater in den Ohren. Ja, wem in Gottes Namen solch  ein Seufzer, solch ein „Ach“ über die  Lippen kommt, zu dem kommt umgekehrt auch der Geist Gottes. Und wer dann die beiden Wörter „ach Gott“ auch wirklich betet und nicht einfach so daher sagt, dem werden sie zum hoffnungsvollsten Seufzer der Welt. Und dem kommt dann auch, wie von selbst, ein „Erbarme dich!“ über die Lippen: „Ach Gott, erbarme dich!“[1]

Amen.

 

 

[1]     Die letzten vier Abschnitte sind formuliert in Anlehnung an Eberhard Jüngel: Geistesgegenwart. Predigten, München 1974, S. 115-121, bes. S. 120f.



Pfarrer Dr. Dieter Splinter
Freiburg im Breisgau
E-Mail: dieter.splinter@ekiba.de

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