Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 04.12.2016

Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Christine Hubka

Und Jesus ging aus dem Tempel fort und seine Jünger traten zu ihm und zeigten ihm die Gebäude des Tempels.

Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.

Und als er auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger zu ihm und sprachen, als sie allein waren: Sage uns, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?

Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht zu, dass euch nicht jemand verführe.

Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.

Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht. Denn es muss geschehen. Aber es ist noch nicht das Ende.

Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort.

8 Das alles aber ist der Anfang der Wehen.

9 Dann werden sie euch der Bedrängnis überantworten und euch töten. Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern.

10 Dann werden viele zu Fall kommen und werden sich untereinander verraten und sich untereinander hassen.

11 Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen.

12 Und weil die Missachtung des Gesetzes überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten.

13 Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.

14 Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen. Mt 24, 1 - 14

 

Fast alles, was hier im ersten nachchristlichen Jahrhundert angekündigt wird,

hat es seitdem gegeben.

In jedem Jahrhundert.

Abhaken kann man jeden einzelnen Punkt.

Beginnend mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 unserer Zeitrechnung:

Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.

 

Wenn wir wollen,

und ich habe den Eindruck, es gibt ganz viele, die das wollen,

können wir auch heute die Liste der Schrecken Punkt für Punkt abarbeiten.

 

Wenn ich zurück blicke auf diese Jahrhunderte,

bemerke ich aber etwas ganz Entscheidendes:

Die Welt ist immer noch da.

Trotzdem alles geschehen ist, was auf dieser Liste der Schrecken steht.

 

 

Obwohl  immer welche gekommen sind und geschrien haben:

Das ist das Ende.

 

Und immer sind welche gekommen und haben geschrien:

Nur ich kann euch retten.

 

Sie haben gesagt:

„Wir müssen aufrüsten.“

„Wir müssen stark werden. Stärker alles alle anderen.“

 „Wir müssen uns gegen die Angriffe auf unseren Wohlstand schützen.“

 

Sie haben die Menschheit in zwei Gruppen geteilt:

Hier die Freunde. Da die Feinde.

Und wenig überraschend

war die definierte Gruppe der Feinde größer als die Gruppe der Freunde.

 

Wenn wir wollen,

und ich habe den Eindruck, es gibt ganz viele, die das wollen,

können wir dann zu dem Schluss kommen:

Wir brauchen endlich jemanden, der das alles mit einem Schlag beendet.

Einen Retter, einen Erlöser. Einen starken Mann. Einen Christus.

 

Jesus macht dazu eine ganz klare, unmissverständliche Ansage:

Seht zu, dass euch nicht jemand verführe.

Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen:

Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.

 

Die Schrecken gleichen sich über die Jahrhunderte.

Die Verführungen verändern sich.

Vielleicht sind die Verführungen deshalb schwerer zu erkennen als die Schrecken.

Die Schrecken sind plakativ. Plump. Laut.

Die Verführungen subtil. Schwer zu fassen. Leise.

 

Heute, hier in Europa, hier bei uns in Österreich, besteht die Verführung darin,

dass wir nicht mehr sehen, wie gut es uns geht.

Weil es so selbstverständlich geworden ist.

Ja, es gibt Bereiche, die verbessert gehören.

Ja, es gibt Dinge, die nicht funktionieren.

Aber:

Wir haben eine so lange Friedensperiode in unserem Land,

wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat.

Ich selber, meine Kinder, meine Enkelkinder kennen Krieg nur aus dem Fernsehen.

 

Unsere Straßen sind sauber, weil die Müllabfuhr bestens arbeitet.

Aus unserer Wasserleitung fließt hochwertiges Trinkwasser.

Der öffentliche Verkehr funktioniert in dieser Stadt so gut,

dass man schon ungeduldig wird,

wenn man einmal länger als drei Minuten auf die U-Bahn warten muss.

Das Schulsystem – trotz allem, was man kritisch dazu anmerken kann –

bietet jedem Kind ein Mindestmaß an Bildung.

Jeder Mensch, der erkrankt, bekommt medizinische Hilfe.

 

Ich kann, ihr könnt diese Liste noch verlängern.

Bis sie länger ist als die Liste der Schrecken.

 

Die Verführung hier und heute besteht darin,

das alles nicht mehr zu sehen.

Die Verführung besteht darin,

das alles nicht mehr zu würdigen,

das alles nicht mehr wert zu schätzen.

 

Jesus sagt: Die Folgen dieser Verführung ist,

dass die Liebe in vielen erkaltet.

 

Erkaltete Liebe hat ihre eigene Sprache.

„Geiz ist geil…“

„Ich hab doch nix zu verschenken…“

„Mir hat auch keiner geholfen …“

 

Erkaltete Liebe führt zu einer unrealistischen,

zu einer unmenschlichen Selbstwahrnehmung:

„Ich allein bin das Maß aller Dinge.“

„Was für mich gut ist, ist grundsätzlich gut.“

„Was mich einschränkt ist grundsätzlich schlecht.“

„Was mir nützt, darf ich mir, ja, muss ich mir holen. Ohne Rücksicht darauf, was es für andere bedeutet.“

 

Erkaltete Liebe entartet schließlich in einen absurden Neid:

Sie neidet dem Obdachlosen die Klostersuppe.

Dem Menschen mit Behinderung die persönliche Assistenz.

Dem Asylwerber die gratis Unterkunft im Flüchtlingsquartier.

 

Erkaltete Liebe die zu Neid mutiert, ist deshalb so absurd,

weil sie ja nicht die Armensuppe essen möchte, statt dem Schweinsbraten.

Sie will auch nicht selber behindert sein,

damit sie in den Genuss der persönlichen Assistenz kommt.

Schon gar nicht will sie das eigene gemütliche Wohnzimmer

eintauschen gegen ein Nachtlager im Flüchtlingsquartier.

 

Ich bin davon überzeugt, dass erkaltete Liebe die Lebensfreude lähmt,

Genuss unmöglich macht.

Dass auch die Sonne nicht mehr wohltuend wärmend empfunden wird,

wenn die Liebe kalt geworden ist.

Erkaltete Liebe bringt nicht Glück,

sondern tiefes Unglück über die von ihr Betroffenen.

 

Was setzen wir diesem allem entgegen?

Was machen wir angesichts der erkalteten Liebe?

Ich fühle mich oft ohnmächtig,

weil die erkaltete Liebe eine unüberhörbar laute Stimme hat.

So laut kann ich gar nicht schreien, dass ich sie übertönen könnte.

 

Hier kommt nun der letzte Punkt der langen Liste ins Spiel.

Der Punkt, der über all den Schrecklichkeiten so leicht übersehen wird:

Als allerletztes in dieser Aufzählung sagt Jesus:

 

Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.

 

Ich glaube nicht,

dass es hilft, wenn ich der erkalteten Liebe Bibelverse in die Ohren knalle.

Ich bin aber davon überzeugt, dass die fröhliche Gelassenheit der Kinder Gottes,

der erkalteten Liebe etwas entgegensetzen kann.

Wir sind es, die das Evangelium von Gottes unerschöpflicher Zuwendung gehört haben.

Uns wurde es schon gepredigt.

Wir sind es, die daraus Kraft für heute und Mut für morgen schöpfen.

Wir sind es, die nicht mit dem Tunnelblick sondern im Weitwinkel das Leben sehen.

 

Nicht, weil wir moralisch besser wären.

Sondern weil Gottes Christus uns befreit hat.

Von niemandem, außer von ihm, müssen wir unser Tun diktieren lassen.

 

Wir haben die Freiheit bekommen,

auf alles, was die erkaltete Liebe so anstellt unter uns,

auch ganz anders zu reagieren.

 

Niemand hier muss auf Kaltschnäuzigkeit mit Kaltschnäuzigkeit antworten.

Niemand hier muss sich hineinwurschteln lassen in die kleinen alltäglichen Gemeinheiten.

Niemand hier muss böse Gerüchte weiter verbreiten.

Niemand hier muss Gleiches mit Gleichem beantworten.

 

Wir sind freie Christenmenschen, die frei entscheiden –

Jedes Mal wieder.

 

 

Gott hat der Welt ganz viel von diesem Evangelium zugedacht.

So lange es einen Menschen auf dieser Welt gibt,

zu dem die Botschaft noch nicht gekommen ist,

so lange geht die Welt auch nicht unter.

 

Und dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.

 



Pfarrerin Dr. Christine Hubka
Wien
E-Mail: christine.hubka@gmx.at

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