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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 04.12.2016

Open end - offenes Ende
Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Stefan Knobloch

Vielleicht schaudert uns ein bisschen, wenn wir im Evangelium von Hunger, von Kriegen, von Kriegsgerüchten, von Erdbeben, von Gewalt und Verfolgung und dergleichen hören. Tatsächlich ist davon die Rede, aber das alles drängt sich zu Unrecht in den Vordergrund, als hätten wir keine andere Wahl, als dass uns kalte Schauder über den Rücken jagen. Das Evangelium zielt auf etwas anderes. Es führt etwas ganz anderes im Schilde. Um das zu entdecken, muss man  auf die beiden Örtlichkeiten achten, die im heutigen Evangelium wie zwei Gegenpole einander gegenübergestellt sind: der imposante Tempelberg und der so genannte Ölberg im Osten Jerusalems.

Szene 1: Tempelberg

Die erste Szene versetzt uns auf den Tempelberg in Jerusalem, aber nicht, damit wir dort verweilen, sondern um ihm den Rücken zu kehren. Jesus kehrt dem Tempel den Rücken. Er geht weg. Seine Jünger aber, die ihn begleiten, halten inne. Sie sind überwältigt von der Schönheit und Größe der Tempelanlage. Schau doch, sagen sie zu Jesus, wie beeindruckend, wie faszinierend das alles ist. Jesus hat nur eine ruppige Antwort parat: Schaut doch nicht auf das alles. Ich sage euch, davon wird bald kein Stein auf dem anderen bleiben.

Szene 2: Ölberg

Es folgt ein Szenenwechsel. Jesus hat den Ölberg aufgesucht, er hat sich gesetzt, die Jünger scharen sich um ihn. Jesus sitzt nicht wie zum Picknick da, er sitzt da mit der Autorität eines Propheten. Und alle haben sie in diesem Augenblick in angemessener Ferne die mächtige Tempelanlage vor Augen. Den Jüngern hatte das keine Ruhe gelassen, dass das alles einer Zerstörung anheimfallen sollte. Wie hast du das vorhin auf dem Tempelberg gemeint? Wie und wann soll das passieren? In dieser Szene wird Jesus zum Gegenpol des Tempels. Er wird zum Gegenpol der Katastrophe, die den Tempel ereilen wird. Mit ihm ist das Neue, das verlässlich Bleibende, die Erfüllung des Tempels da.

Eine schwer verständliche Paradoxie

Das aber hat etwas zutiefst Paradoxes an sich. Was Jesus nämlich schildert, nimmt sich (wie der angekündigte Untergang des Tempels) doch ebenso wie eine einzige Katastrophe aus. Bietet auch Jesus nichts Verlässliches, nichts Dauerhaftes? Nichts, worauf Verlass wäre?

Spätestens an der Stelle, an der die Jünger Jesus fragen, woran, an welchem Zeichen sie seine Wiederkunft erkennen könnten, spätestens hier zeigt sich, dass diese Szene zwischen den Jüngern und Jesus sich nicht real so abgespielt hat. Die Kategorie der Wiederkunft war für die Jünger zu Lebzeiten Jesu keine verfügbare Kategorie.

Die doppelte Topographie

Die vom Evangelium also komponierte Szene bedient sich bewusst einer doppelten Topographie: auf der einen Seite der Topographie des Tempels, der untergeht, und auf der anderen Seite Jesus, der Prophet, mit dem Bleibendes kommt. Das aber nun überraschenderweise nicht in der erwarteten klassischen Gegenüberstellung von Untergang dort und Bleibendem hier. Vielmehr greift das Matthäusevangelium tief in die Tasche realer Erfahrungen, realer Bedrängnisse, denen die Mitglieder der neuen Jesus-Bewegung nach Jesu Tod und Auferstehung ausgesetzt waren. Die Schilderungen greifen sogar über das Schicksal der Christen hinaus weiter aus.

 

Das Elend bleibt

Lasst euch nicht durcheinanderbringen, sagt Jesus auf die Frage, wie das mit seiner Wiederkunft und mit dem Ende dieser Welt sei. Da werden Leute auftreten und behaupten, sie seien Christus. Und sie werden Gehör finden. Es werde so weitergehen wie bisher. Ihr werdet von Kriegen hören und von Gerüchten über Kriege. Das wird und muss so sein, weil die Menschen nun mal so sind. Völker, Reiche werden gegeneinander aufstehen, es wird Hungersnöte und Erdbeben allenthalben geben. Und das nicht nur einmal, ein kurze Zeit lang lediglich, und dann sei es vorbei. So wie die Menschen vor Jesus in Nöten und Sorgen lebten, so wird es auch den Generationen nach ihm ergehen. Bis zum heutigen Tag.

Das Evangelium führt uns vor Augen, was wir tagtäglich erleben, ja zurzeit im Übermaß erleben. Hungerkatastrophen in Ländern Afrikas; schwere Erdbeben, wenn irgendwo Erdschollen aneinander reiben; eine Migrationsbewegung von über 50 Millionen, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat; einen internationalen Terrorismus, dem die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen nur mit Mühe gewachsen sind; populistische Bewegungen der Abschottung vor den Herausforderungen unserer Tage; eine Klimaerwärmung, die trotz Paris und Marrakesch noch immer eine massive Bedrohung darstellt.

In welchem Advent leben wir?

Vor diesem Szenario stellt sich die Frage: In welchem Advent leben wir eigentlich? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Vor diesen Fragen, die unsere Fragen sind (wie sie in abgewandelten Formen die Fragen aller Zeiten, aller Generationen waren), vor diesen Fragen nimmt sich die Antwort des heutigen Evangeliums im ersten Moment geradezu ahnungslos peinlich aus. Sie scheint etwas Verblendet- Fundamentalistisches und Realitätsfremdes an sich zu haben: Wer bis zum Ende bei der Stange bleibt, der wird gerettet. Und der Nachsatz scheint nichts besser zu machen: Das Evangelium von der Herrschaft Gottes werde unter den Menschen vieler Völker verkündet werden. Erst dann werde das Ende kommen. Wie löst sich dieser Knoten? Was sagen diese Sätze tatsächlich? Und was nicht?

Open end – offenes Ende

Gewöhnlich lesen wir (mit immer mehr Zweifeln, ja vielleicht schon mit innerer Ablehnung) diese Sätze so, als müsse das Evangelium erst alle Räume der Welt erreicht haben, erst dann werde das Ende kommen. Der Sinn des Satzes ist aber wohl ein anderer. Und der fordert uns heraus: Es werde in der Geschichte wie bisher auch weiterhin beides geben: die Nöte, die Katastrophen, die Tränen der Menschen und das Evangelium, das gegen die Nöte des Lebens angeht. Das Evangelium hält dagegen, der Glaube hält dagegen (und Jesus auf dem Ölberg hält dagegen). Für das Evangelium und für den Glauben ist der Lauf der Dinge keine sinnlose Fahrt ins Absurde, in den Abgrund, keine Belanglosigkeit und Beliebigkeit, die keines Gedankens wert ist. Nein, die Dinge des Lebens laufen auf mehr hinaus: auf eine Annahme, auf eine umfassende Bestätigung der Wirklichkeit, die das Evangelium als „Leben in Fülle“ (vgl. Joh 10,10) verheißt. Das Leben läuft auf ein „Leben in Fülle“ hinaus, die nicht radikal Neues setzt, sondern in der Gott in seiner Liebe  zu uns unsere unvollendeten Lebensfragmente zu einem Ganzen, zu einer geschenkten Fülle fügt.

Davon spricht das Evangelium am 2. Advent. Es ist eine An-Rede, die uns adventlich öffnen will.



Prof. em. Dr. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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