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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 04.12.2016

Ernsthaft leben
Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Matthias Wolfes

„Und Jesus ging hinweg von dem Tempel, und seine Jünger traten zu ihm, daß sie ihm zeigten des Tempels Gebäude. Jesus aber sprach zu ihnen: Sehet ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht zerbrochen werde. Und als er auf dem Ölberge saß, traten zu ihm seine Jünger besonders und sprachen: Sage uns, wann wird das alles geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und des Endes der Welt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Sehet zu, daß euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen, und sagen: ‚Ich bin Christus’ und werden viele verführen. Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschreckt euch nicht. Das muß zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich empören ein Volk wider das andere und ein Königreich gegen das andere, und werden sein Pestilenz und teure Zeit und Erdbeben hin und wieder. Da wird sich allererst die Not anheben. Alsdann werden sie euch überantworten in Trübsal und werden euch töten. Und ihr müßt gehaßt werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden sich viele ärgern und werden untereinander verraten und werden sich untereinander hassen. Und es werden sich viel falsche Propheten erheben und werden viele verführen. und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig. Und es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“

 

Liebe Gemeinde,

das Signalwort unseres Textes lautet „Ende“. Gemeint ist das „Ende der Welt“. Von ihm handeln Jesu Worte, nachdem die Jünger ihn um „das Zeichen“ gefragt haben. Ausgelöst wird die Rede durch eine vorangestellte Bemerkung angesichts des Tempels, von dem „nicht ein Stein auf dem anderen bleiben“ werde. Die Ausführungen im einzelnen entwickeln ein differenziertes Endzeitprogramm, demnach der endgültige Abschluß von Welt und Wirklichkeit sich als schrittweise Auflösung sämtlicher Ordnungsfaktoren darstellt. Jenes „Zeichen“ besteht schließlich in einem Übermaß an „Ungerechtigkeit“ und dem Verlust von Mitmenschlichkeit und Lebenswärme.

Nun finden sich in den alt- und neutestamentlichen Schriften zahlreiche Texte zum Endzeitthema. Die Bibel ist auch ein apokalyptisches Werk. Selbst in den Evangelien spielt die Frage nach dem Ende der Welt immer wieder eine wichtige Rolle; darin steht dieser erste Teil des vierundzwanzigsten Kapitels aus dem Matthäusevangelium also nicht allein. In den religiösen Vorstellungen vieler Christen haben die apokalyptischen Aspekte gleichfalls großes Gewicht, bis dahin, daß in einzelnen konfessionellen Richtungen sie überhaupt den Mittelpunkt bilden.

Für andere dagegen sind sie eher nachrangig. Warum, sagen sie, soll man sich groß Gedanken machen über das, was einst kommt? Haben wir nicht genug damit zu tun, unser hiesiges Leben einigermaßen in den Griff zu bekommen und eben dafür zu sorgen, daß jenes „Erkalten der Liebe“ nicht jetzt schon allzusehr Platz greift? Doch diese Position ist kurzsichtig, und das kann, meine ich, unser heutiger Abschnitt sehr gut zeigen.

Er kann uns sehr eindringlich daran erinnern, daß das „Ende“ etwas ist, was auch uns, in all unserem Bestreben, gesetzt ist. Es gibt ja nicht nur das Ende im globalen, weltumspannenden und allgeschichtlichen Sinn, sondern eben auch das Ende unseres eigenen Daseins. Wir leben auf das Ende hin. Darin besteht der Ernst des Lebens und die Wichtigkeit all seiner einzelnen Momente. Der vielgebrauchte Satz, den man sich bei geselligen Zusammenkünften sagt, nämlich: „So jung kommen wir nicht wieder zusammen“ hat einen sehr nachdenkenswerten und auch durchaus bitteren Sinn.

Für mich jedenfalls ist es dies, worauf ich heute die Aufmerksamkeit lenken möchte. Über universelle Untergangsszenarien kann jeder sich seine Bilder machen; bisweilen sprechen sie ja wirklich an und erzeugen ihrerseits ein Nachdenken. Doch wirklich wichtig, von einem viel größeren Gehalt sind jene Gedanken, die sich an die Einsicht anknüpfen, daß das Leben ein Prozeß ist, der einmal unwiderruflich beendet sein wird. Hierin besteht der religiöse Sinn des Sprechens vom „Ende“.

Dabei geht es nicht so sehr um das „Wann“. Wer fragt: „Wann wird das geschehen“? hat eine ziemlich konkrete Vorstellung vor Augen. Doch das ist es gerade nicht, was uns beschäftigen soll. Darin täten wir es nur jenen gleich, die sich mit entzeitlichen und untergangsschwelgerischen Visionen vom Eigentlichen ablenken. Das Eigentliche ist das unausweichliche Faktum der Begrenztheit unseres hiesigen Daseins. Diesen Umstand müssen wir uns zu einer durchdringenden Erkenntnis machen. Er ist das, was wirklich einwirken kann auf die Art und Weise, wie wir dieses Dasein gestalten. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob wir ein junger oder ein alter Mensch sind. Jedem ist ja ein Horizont vorgegeben; und was wir tun sollen, ist, diesen Horizont auszufüllen. Das können wir auch dann tun, wenn naturgemäß der zeitliche Rahmen dafür nur noch sehr beschränkt ist.

Ganz falsch ist es, zu leben als ob wir unsterblich wären. Das aber tun wir fast permanent. Dies ist das falsche Als ob, während jenes Als ob des apokalyptischen Denkens immerhin das Moment des Endes tief einprägt. Die Unsterblichkeitsunterstellung bringt uns um den Ernst des Lebens, und bittere Reue empfindet meist der, dem das in dunklen Augenblicken schlagartig bewußt wird. Alles Reden von „Hätte ich doch ...“ oder „Wenn nur dies oder das anders gewesen wäre ...“ gründen im Vergessen der Endgültigkeit jenes gesetzten Faktums.

Um mich etwas weniger anstrengend auszudrücken: Wer weiß, daß alles auf ein Ende zuläuft, der schätzt seine Tage, seine Zeit anders ein. Sie wird ihm von bloßer Zeit zu wirklicher Lebenszeit. Nur solche Lebenszeit aber kann erfüllte Zeit sein. Das Wissen um die Begrenztheit gibt uns die Möglichkeit, dem Jetzt, aber auch dem Morgen eine ganz andere Bedeutung zu geben. Es ist eben dann ganz und gar nicht mehr egal, ob ich etwas heute oder morgen tue. Wenn ich davon überzeugt bin, daß es etwas ist, was ich tun will, dann werde ich mich auch daranmachen.

Doch die Konsequenzen reichen noch viel weiter. Sie umfassen unser ganzes Denken und Fühlen. Sie erstrecken sich auf die gesamte Weise, wie wir unsere Welt und alles, was in ihr geschieht, verstehen. Es ist dies die Sicht nicht nur eines auf Erfüllung dringenden Lebens, sondern es ist die Sicht des Glaubens, dem das Leben eben selbst der Zweck ist, nicht bloß das Mittel. Für eine Betrachtung, die aus der Perspektive des Glaubens unternommen wird, ist etwa die Kategorie des „Zufalls“ vollkommen unbrauchbar und ohne jedes Interesse. Es ist schwer vorstellbar, daß ein frommer Mensch mit Absicht von Zufall sprechen könnte. Welche Bedeutung sollte er diesem Wort geben? Die Zufallsrede entbehrt jeden Sinnes, ja sie ist selbst geradezu der Inbegriff einer Weltvorstellung, die von der Sinnlosigkeit des Geschehens ausgeht. „Nicht zufällig“ heißt eben, daß den Dingen Bedeutung zukommt, daß sie nicht geschehen und gegeben sind, weil es sich gerade so verhält, sondern weil es sich so „gefügt“ hat, mit einem Wort, weil es „notwendig“ ist, daß sie so bestehen. In der Natur der Vernunft liegt es nicht, die Dinge als zufällige, sondern als notwendige zu betrachten.

Aber auch, was überhaupt „Leben im Glauben“ bedeuten soll, ergibt sich von hier aus. Es ist ein Dasein, in dem der Glaube selbst sich ernst nimmt. Er tut es, weil er Teil einer insgesamt anspruchsvollen und selbstbewußten Lebensführung ist. Es handelt sich um einen Glauben, dem es vertraut und ein Bedürfnis ist, mit eigenen Worten und Gedanken zu den Quellen, zu dem Grund zurückzufragen, auf die er selbst zurückgeht. So ist auch das Leben des Glaubenden beschaffen: Das Leben, das der Christ führen will, ist ein aufrechtes, verantwortliches, entscheidungsbereites Leben. Er führt ein solches Leben, indem er sich den Aufgaben stellt, die ihm obliegen, zugleich im Wissen um die Begrenztheit seiner eigenen Kraft. Es ist ein Leben, das getragen wird vom Zutrauen zu Gott, der ihn erhält.

Amen.

 



Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes
Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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