Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 04.12.2016

Die Herrlichkeit Gottes verlässt den Tempel und kommt von einem anderen Ort wieder.
Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Christiane Borchers

Das Telefon klingelt. Irina nimmt ab. Der Chef von ihrem Mann ist am Apparat. „Irina“ druckst Dieter herum. Die beiden duzen sich. Dieter ist der Chef und zugleich der Onkel von ihrem Mann. „Du“ sagt Dieter, „es ist etwas Schreckliches passiert.“ „Was ist los“, will Irina wissen. Sie kann sich nicht vorstellen, was es denn so Fruchtbares gibt. Dieter und ihr Mann Jürgen verstehen sich gut. Sie selbst hat auch keine Probleme mit Dieter. Im Gegenteil. Sie ist gut in der deutschen Familie aufgenommen worden. Irina ist gebürtige Russin, vor mehr als zehn Jahren ist nach Deutschland gekommen. Sie hat Jürgen kennen und lieben gelernt, die beiden haben geheiratet. Sie hat eine gute Partie gemacht, aber das hat sie erst gemerkt, als sie schon verheiratet waren. Dieter gehört eine große Sägerei. Er selbst ist kinderlos, Jürgen, sein Neffe, soll die Sägerei übernehmen. Jürgen möchte das auch, er hat sich darauf vorbereitet, eine entsprechende Ausbildung gemacht. Seit Jahren arbeitet er bereits im Betrieb seines Onkels. Er liebt seine Arbeit. Niemand hat ihm eine ungeliebte Rolle aufgezwungen. Die Dachdecker und Tischlerarbeiten sind seine Sache. Gern ist er bereit, die Firma später zu übernehmen. Er ist sich seiner späteren Verantwortung bewusst. Im Betrieb arbeiten z.Zt. zwanzig Männer, die meisten haben eine Familie. Jürgen ist in seine Aufgabe hineingewachsen. Er wird von den Mitarbeitern anerkannt und als späterer Nachfolger akzeptiert. In einem halben Jahr soll er mit in die Leitung des Unternehmens aufgenommen werden. Sein Chef und Onkel wünscht sich einen guten reibungslosen Übergang. Der wird in Kürze dreiundsechzig Jahre. In zwei Jahren will der den Betrieb übergeben. Dieter ist sehr zufrieden mit seinem Neffen. Er hat einen geeigneten verantwortungsbewussten Nachfolger gefunden.

Betretenes Schweigen am anderen Ende des Telefonapparates. Irina ist inzwischen sehr aufgeregt. „Was ist passiert?“ Sie hört das schwere Atmen von Dieter durch das Telefon. Plötzlich hat sie eine böse Vorahnung. „Ist etwas mit Jürgen?“ fragt sie atemlos. „Ja“, antwortet er, „er ist auf der Baustelle vom Dach gefallen. Er ist schwer verletzt.“ Jürgen wagt kaum zu sprechen, zu entsetzlich ist es ihm, diese Nachricht zu überbringen. Er fühlt sich zum Teil mit verantwortlich. Er hat wie jeden Tag die Arbeitseinteilung vorgenommen, er hat seinen Neffen auf das Dach geschickt. „Wie schwer?“ will Irina wissen. „Sehr schwer“, sagt Dieter. „ Er ist aus zehn Meter Höhe heruntergefallen, er lag bewegungslos auf dem Rücken auf der Erde, aus beiden Ohren floss Blut. Der Rettungswagen hat ihn inzwischen ins Krankenhaus gebracht. “ Irina fühlt eine Katastrophe auf sich zukommen. Der Telefonhörer fällt ihr aus der Hand. Sie sinkt zu Boden. Sie weiß nicht, wie lange sie dort gelegen hat. Es klingelt an der Haustür, sie hangelt sich zur Tür und öffnet. Ihre Schwiegermutter steht da, nimmt sie wortlos in den Arm. „Irina, es tut  mir so leid. Jürgen ist nicht bei Bewusstsein. Irina will sofort ins Krankenhaus. Hektisch greift sie zu der Jacke und der Handtasche. Die Schwiegermutter fährt sie mit dem Auto ins Krankenhaus. Jürgen hat das Bewusstsein noch nicht wieder erlangt, es steht schlecht um ihn, sagen die Ärzte, sie werden alles für ihn tun. Mit dieser Aussage muss Irina sich begnügen.

Der Unfall stellt Irinas Leben und das der Familie in Frage. Der Ehefrau zerreißt es den Boden unter den Füßen, die Familie leidet mit. Ihr aller Leben ist von einem auf den anderen Tag aus der Bahn geworfen. Wochen vergehen, der Zustand des Schwerverletzten ist unverändert. Irina zermartert sich den Kopf. „Warum nur, warum?“, fragt sie sich. Sie hadert mit dem Schicksal. Sie hadert mit Gott. Sie sucht nach Antworten, will wenigstens den unverschuldeten Unfall von ferne verstehen. Sie möchte einen Sinn erkennen. So sehr sie sich auch müht, sie findet keine Antwort und sieht keinen Sinn. Dieter ist schuld, sagt sie sich, er hat schließlich bestimmt, dass Jürgen auf das Dach gehen soll. Aber die Schuldzuweisung hilft ihr nicht. Sie besucht ihren Mann jeden Tag. Er liegt teilnahmslos im Krankenbett. Er, der voller Tatendrang und Lebenslust gewesen ist, ist plötzlich ein hilfloser Mann geworden. Er kann nicht essen, nicht trinken, nicht den Arm bewegen, nicht die Augen öffnen. Es zerbricht ihr das Herz.

Es ist Dezember. Die  besondere Atmosphäre der Adventszeit dringt nicht zu ihr durch. Sie hat das Haus nicht adventlich geschmückt. Sie hat noch nicht einmal einen Adventskranz, sie ist bisher nicht dazu gekommen. Ihr steht auch nicht der Sinn nach adventlicher Stimmung.

Es ist später Nachmittag. Sie kommt gerade aus dem Krankenhaus nach Hause. Eine Frau aus dem Dorf an der Tür. Sie hat auf Irina gewartet. „Irina“ eröffnet Elke das Gespräch, „du wunderst dich bestimmt, dass ich zu dir kommen möchte.“ „Ja, schon, komm herein.“ Irina führt Elke ins Haus, geleitet sie ins Wohnzimmer. „Bitte setzt dich, ich mach uns einen Kaffee. Nach kurzer Zeit kommt Irina mit dem Kaffee und Gebäck ins Wohnzimmer. Elke erkundigt sich nach dem Befinden von Irinas Mann, dann sagt sie: „Weißt du, meine kleine Tochter hat auch einen schweren Unfall gehabt, einen Verkehrsunfall. Sie war damals fünf Jahre alt. Eine Nachbarin hat sie im Auto gehabt und einen Unfall verursacht. Mona ist aus dem Koma nicht wieder aufgewacht. Sie war eineinhalb Jahre im Krankenhaus. Ich habe sie acht Jahre zu Hause gepflegt.“ Irina hört still zu, dann bricht es auch ihr hervor: „Aber Jürgen wird wieder aufwachen. Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben.“ „Das sollst du auch nicht“, stellt Elke klar, “das habe ich auch nicht getan. Aber ich will dir sagen, wie das für mich war, als ich keinen Halt mehr hatte und keinen Sinn mehr sah. Meine kleine Tochter hat doch niemanden etwas getan. Ich wollte damals nicht mehr leben. Zuerst gab ich der Nachbarin die Schuld. Mona hat schließlich bei ihr im Auto gesessen, die Nachbarin hat den Unfall verursacht. Meine Gedanken bewegten sich im Kreis, immer wieder fragte ich „warum?“ „So geht es mir auch. Hast du eine Antwort bekommen?“, fragt Irina bekommen.  „Nein, ich bin immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen worden. Eine Antwort gibt es nicht. Irina, noch ist dein Mann im Krankenhaus, dort wird er versorgt. Irgendwann wird er nach Hause kommen. Spare deine Kraft für diese Zeit auf, du wirst sie brauchen. Es ist schwer für dich, das weiß ich.“ Elke verabschiedet sich, lässt Irina nachdenklich zurück. Vielleicht hat Elke Recht, überlegt Irina. Es hat ihr gut getan, dass Elke gekommen ist und mit ihr gesprochen hat.

Im Wohnzimmer ist es dunkel, Irina macht kein Licht an. Sie möchte noch ein wenig sitzen, einfach nur sitzen. Nach einer Weile schaltet sie das Radio an. Die ruhige besinnliche Musik empfindet sie als angenehm, sie verschafft ihr selbst ein wenig Ruhe. „Es ist 17.00 Uhr“, meldet der Sender, „Sie hören die Nachrichten. „Syrien, die vereinbarte Waffenruhe ist heute Morgen von den Assadtruppen durchbrochen worden. Bomben fallen auf Aleppo, Wohnhäuser im Ostteil der Stadt und das zentrale Krankenhaus sind zerstört worden. Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln und sauberen Wasser ist völlig zum Erliegen gekommen.“ Irina ist bestürzt. Die Welt bricht aus den Fugen. Sie kann keine Hiobsbotschaften mehr vertragen. Hat Gott seine Welt vergessen?

„Und Jesus ging aus dem Tempel fort“, beginnt Matthäus seine Endzeitrede. Jesu Fortgehen aus dem Tempel ist mehr als ein räumliches Verlassen des Tempels in Jerusalem. Wenn Jesus fortgeht aus dem Heiligtum, verlässt Gott selbst die Welt. Kriege stürzen Menschen ins Unglück und in Armut, selbsternannte Heilserlöser bringen Unheil. Unrecht und Gewalt nehmen Überhand, die Liebe bleibt auf der Strecke. Matthäus deutet Kriege und Kriegsgeschrei, Hungersnöte und Erdbeben, falsche Propheten als den Anfang der Endzeit. Mit dem Ende ist aber nicht alles aus und vorbei, sondern das Ende leitet einen neuen Anfang ein. Krieg und Kriegsgeschrei sind Geburtswehen, sagt Matthäus. Am Ende setzt sich das Leben durch. Das Ziel der Endzeit ist nicht das Ende, das Ziel ist die Vollendung des Gottes Reiches, die Wiederkunft Christi.

Es ist mir zu gewagt, den Krieg und das Leiden in Syrien oder anderswo als Zeichen der Endzeit zu deuten. Das würde den Krieg und das Kriegsgeschrei überhöhen und gäbe ihm einen Sinn. Es liegt mit fern, persönliches Leiden in einen Zusammenhang mit dem Ende zu bringen, obwohl jemand persönlich sein Schicksal als das eigene Ende empfinden kann. Dem Gedanken vom Ende und Neuanfang hingegen kann ich grundsätzlich etwas abgewinnen. Bevor etwas Neues werden kann, muss das Alte zu Ende gehen. „Beharrt bis an das Ende“, sagt Jesus den aufgeschreckten Jüngern. D.h. doch: „haltet durch.“ Haltet an Gottes Verheißungen fest. Gott wird zur Vollendung bringen, was er angefangen hat.

 

In der Adventszeit warten wir darauf, dass Christus kommt, uns aus allem Übel erlöst, dass er alles gut und heil macht. Wir warten darauf, dass alle Angst verschwindet, dass Krieg und Kriegsgeschrei ein Ende finden, dass Gewalt und Ungerechtigkeit untergehen. Wir warten auf den Heiland der Welt, den Erlöser, der allen Menschen Frieden bringt. Jesus verlässt den Tempel und geht zum Ölberg. Vom Ölberg aus spricht er seine Worte von der Endzeit. Vom Ölberg wird das Kommen Gottes erwartet. Die Herrlichkeit Gottes bricht von hier aus für die Völker an.

Advent – Ankunft – . Wir leben auf den Heiligen Abend zu: Gott kommt in die Welt und macht die Finsternis hell. Der kleine Advent bildet den großen Advent ab. Gottes Friedensreich wird Wirklichkeit werden.

Amen.



Pfarrerin Dipl. Christiane Borchers
Emden
E-Mail: christiane.borchers@web.de

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