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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Advent, 18.12.2016

Predigt zu Lukas 1:26-33.38, verfasst von Rainer Stahl

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

 

Liebe Leserin und lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

 

In diesem Jahr bin ich nach langer Zeit wieder einmal in Israel gewesen. In Nazareth hat unsere Gruppe natürlich die beiden Verkündigungskirchen besucht – zuerst die orthodoxe über einer Quelle, dann die große römisch-katholische über einer Wohnhöhle. Unsere israelische Reiseleiterin hat uns darauf hingewiesen, dass andere christliche Traditionen noch andere alte Wohnhöhlen zeigen, die das Zuhause von Josef und Maria gewesen sein könnten. Nazareth war ja zur Zeit des Herodes des Großen eine ganz kleine Dorfsiedlung um die dortige Quelle herum, in der natürliche Höhlen als Lagerräume, Stallungen, als Mikwa’oth – als Tauchbäder –, aber auch als Wohnstätten genutzt wurden. Die tatsächliche Lokalisierung der Verkündigungsgeschichte ist also ganz unsicher, weshalb es viele Traditionen gibt. Die einzige Brücke sind ganz alte, frühchristliche Traditionen. Hinzu kommt, dass die orthodoxe Lokalisierung etwas mit einer außerbiblischen Überlieferung zu tun hat – nämlich mit dem Protevangelium des Jakobus. Dort heißt es im Kapitel 11:

Eines Tages ging Maria mit einem Krug hinaus, um Wasser zu schöpfen. Da hörte sie eine Stimme, die zu ihr sagte: »Sei gegrüßt! Gott ist dir gnädig, der Herr ist mit dir. Auf dir liegt Gottes Segen mehr als auf allen anderen Frauen.« Sie blickte nach rechts und nach links, konnte aber nicht sehen, woher die Stimme kam. Zitternd ging sie ins Haus zurück“ (Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Main, Leipzig, 5. Auflage, 2001, S. 1326).

 

In diesem Evangelium, das wohl aus dem Jahr 160 nach Christus stammt, wird eine Erstbegegnung mit einem Engel an einem Brunnen berichtet, die eigentliche Verkündigung aber dann in Marias und Josefs Haus:

Da stand plötzlich der Engel des Herrn vor ihr und sagte: »Hab keine Angst, Maria, Gott hat dich gnädig auserwählt. Du wirst schwanger werden durch sein Wort.« [...]“ (Ebenda).

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Indem ich diese Überlieferungen zur Kenntnis nehme – die neutestamentliche im Lukasevangelium, die des Evangeliums des Jakobus und die Versuche von verschiedenen Lokalisierungen in Nazareth –, wird mir bewusst, dass die Auswahl unseres Predigttextes für den 4. Advent äußerst überraschend ist. Wer davon ausgeht, dass hier tatsächliches Geschehen abgebildet wird, kann doch diesen Text nicht sechs bis sieben Tage vor der Geburt Jesu lesen! Das Fest der Verkündigung an Maria – dessen in unseren evangelischen Kreisen kaum gedacht wird – ist ja auch im Frühjahr terminiert:

 

In der römisch-katholischen Kirche ist es der 25. März oder, falls die Karwoche und das Osterfest auf diesen Termin fallen, ein Termin danach. In den orthodoxen Kirchen ist es zum Teil ein feststehender Termin, der auch mit den Liturgien der Karwoche oder des Osterfestes verbunden werden kann, oder es wird in ähnlicher Weise wie in der Westkirche von der Karwoche und Ostern abgerückt (vgl. Wikipedia-Artikel „Verkündigung des Herrn“, Zugriff am 6.12.2016).

 

Aber vielleicht ist es doch gerade richtig, sich dieser biblischen Überlieferung am 4. Advent zu stellen?! Dann wird nämlich deutlich, dass wir sie nicht im Sinne eines möglichen historischen, eines geschichtlich-tatsächlichen Sachverhalts zur Kenntnis nehmen und uns im Gestrüpp der verschiedenen Positionen verheddern. Sondern, dass wir ihre eigentliche theologische, ja: christologische Aussage entdecken und uns ihrem Predigtgehalt aussetzen!

 

Für mich liegt diese eigentliche Aussage in Vers 33, der nämlich über das Wesen des angekündigten Sohnes, des Jesus, eine Aussage macht, der also eine christologische Aussage macht:

[...] und er wird über das Haus Jakob für Äonen als König herrschen,

und seine Königsherrschaft wird kein Ende / kein Ziel haben.“

 

Mit dieser Proklamation – liebe Schwestern und Brüder – wird eine große, eine immense Hoffnung zum Ausdruck gebracht:

 

Erst einmal für Israel, für die jüdische Gemeinschaft – wirklich für sie (!) – wird die Herrschaft dieses Christus angekündigt. Sie wird als Einlösung aller jüdischen Hoffnungen der damaligen Zeit verstanden. Das bringt die Bezeichnung der von diesem König beherrschten Gemeinschaft zum Ausdruck, dem „Haus Jakob“, und dies bringt die Bildrede zum Ausdruck, dass „ihm der Thron seines Vaters David gegeben werde“ (Vers 32). Diesem Aspekt der hier benannten Hoffnung kann ich nicht allein nachgehen. Hierzu müsste ich Gesprächspartner aus dem Judentum gewinnen und sie am Nachdenken über diese Hoffnung mit beteiligen. Und ich müsste mich dann deren Gedanken und Einsichten auch wirklich aussetzen!

 

Weil ich diese Predigt bei mir zu Hause am Schreibtisch erarbeite, will ich einen anderen Weg wählen. Ich will ganz innerchristlich, noch genauer: ganz innerevangelisch, noch spezifischer: nur innerhalb des Lukasevangeliums nachfragen. Wird diese große Hoffnung aufgenommen und vielleicht als erfüllt angesprochen werden?

 

Um es zu wiederholen: Dabei lege ich mir eine bewusste Beschränkung auf: Nicht im Neuen Testament allgemein, sondern nur im Lukasevangelium will ich nach Anklängen suchen! Ich halte nämlich, je älter ich werde, das harmonisierende Verbinden unterschiedlicher Zeugnisse über Jesus in den verschiedenen Evangelien eigentlich für nicht wirklich korrekt. Wir sollten aushalten lernen, worauf ein Evangelist das Gewicht legt und was er eben nicht berichtet. Und wir sollten aushalten lernen, was die anderen Evangelien anders und anderes berichten. Und wir sollten nicht vorschnell zwischen diesen unterschiedlichen Bildern harmonisieren. Dieser Gedanke aber nur nebenbei.

 

Im Lukasevangelium fallen nun zwei Anklänge an das große Thema des Anfangs auf:

 

Während des Einzugs Jesu in Jerusalem rufen die Massen an den Straßenrändern: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn“ (Luk 19,38). Die Menschen Jerusalems und die Pilger zum Tempel sind es, die Jesus aus Nazareth als König anreden. Durch sie wird die große Hoffnung, die der Engel ganz im persönlichen Gespräch nur mit Maria eröffnet hatte, nun öffentlich zur Sprache gebracht. Das ist also ein Hinweis darauf, dass sein Herrschen in Israel, im „Haus Jakob“, beginnen könnte.

 

Am Kreuz, an dem Jesus zu Tode gequält wird, wird von den römischen Vollstreckern eine Tafel angebracht mit der Aufschrift: „Dies ist der Juden König“ (Luk 23,38). Damit endet die Herrschaft, bevor sie begonnen hat. Die ausländischen Mörder – obwohl sie selber natürlich mit verhöhnender und mit rechtfertigender Absicht geschrieben haben, denn dieser Satz nennt die Begründung für das Todesurteil – bezeugen also diese Herrschaft angesichts ihres absoluten Gegenteils!

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Damit begreifen wir, dass das eigentliche Schwergewicht in unserem Predigtwort auf den Satzteilen „für Äonen“ und „kein Ende / kein Ziel“ liegt.

 

Diese Herrschaft gilt für unsere Zeit nur geheimnisvoll, nur umstritten, nur dem Widerspruch ausgesetzt. So habe ich in der früheren DDR-Zeit immer mit besonderem Bewusstsein die 3. Strophe von „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ gesungen:

O wohl dem Land, o wohl der Stadt,

so diesen König bei sich hat [...].“

Denn ich habe dabei an meine Heimatstadt Meiningen im Bezirk Suhl der von der Sozialistischen Einheitspartei regierten Deutschen Demokratischen Republik gedacht. Auch für sie galt diese Herrschaft! Aber eben nur ganz verborgen!

 

Nur einmal hat es ein direktes Gespräch zwischen Martin Luther und Rabbinern gegeben – wohl 1525 oder 1526 in Wittenberg. Einer der jüdischen Gesprächspartner soll sich während des Gesprächs Luther gegenüber gewundert haben, was dieser „immer mit dem Gehenkten habe“. Er hat also gar nicht verstehen können, dass ein Gekreuzigter als der Messias, in griechischer Sprache: als der Christus, verehrt wird.

 

Der führende Göttinger Lutherforscher Thomas Kaufmann hat zu diesem Gespräch unterstrichen: „Diese Begegnung, die Luther offenkundig sehr aufgewühlt hat und die seine exegetisch gewonnene Überzeugung, daß die Juden in ihrer Verstocktheit unablässig Christus lästerten, bestätigte [...], scheint maßgeblich mit dafür verantwortlich gewesen zu sein, daß Luther unversöhnlich scharf über die Juden zu urteilen begann [...]“ (Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011, 157f).

 

Hier möchte ich der aggressiven Reaktion seitens Luthers widersprechen. Wir als Christen in unserer irdischen Wirklichkeit und Zeit müssen mit solchen Widerreden, solchen Ablehnungen und Reserven leben lernen. Wir dürfen sie nicht als Verstocktheit oder als Lästerung Christi verstehen, sondern als Ausdruck eben anderer Glaubensentscheidungen. Denn: Nüchterne Beweise für unseren Glauben, dass der Gekreuzigte „als König herrscht“, gibt es nicht.

 

Zugleich aber können wir hoffen, können wir glauben, dass Christus geheimnisvoll über unsere Welt herrscht. Und dass jenseits unserer Welt und Zeit die Herrschaft des Christus für alle wahrnehmbar werden und heilsam (!) erlebbar werden wird. Daran zu glauben und darauf zu hoffen, bestärkt uns der 4. Advent im Jahr 2016! Aber nur im Sinne von Hoffen und Glauben. Nicht anders.

 

Ich darf, liebe Schwestern und Brüder, einen wichtigen Satz des Apostels Paulus auf diese Wahrheit anwenden: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13,13). Die Wahrheit des Christentums können wir nur durch Glauben und Hoffen „greifen“. Aber, was wir heute leisten können, das geschieht durch unser Lieben, geschieht dadurch dass wir gerade auch diejenigen lieben, die sich mit Blick auf Hoffen und Glauben anders entscheiden als wir!

Amen.

 

 

Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“



Pfarrer Dr. Rainer Stahl
Erlangen
E-Mail: rainer.stahl.1@gmx.de

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