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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Weihnachtstag, 26.12.2016

Lebensgrund. Predigt zum Tag des Erzmärtyrers Stephanus
Predigt zu Matthäus 12:34-37, verfasst von Stefan Knobloch

Haben wir das falsche Programm gewählt? Sind wir (wie man gern sagt) „auf der falschen Beerdigung“? Da sind wir eingeladen und auch motiviert, den zweiten Weihnachtstag zu feiern, und dann trieft das Evangelium nur so von Blut. Nicht anders, als wir es täglich in den Nachrichten hören und sehen, so dass uns beinahe Hören und Sehen vergehen.

 

Macht die Augen auf!

Heute wird des Erzmärtyrers Stephanus gedacht, eines Mannes, der sich von Gott gesandt wusste, der vor allem von der Sendung Jesu erfüllt war und der, sich nicht schonend, für diese Sendung sein Leben aufs Spiel setzte. Es erging ihm, wie vielen vor ihm, von denen das Evangelium spricht. Es beginnt mit einem Aufruf: Macht die Augen auf! Begreift, was im Ablauf der Geschichte passiert. Gott sendet Propheten, Weise und Schriftkundige. Impulse, Aufforderungen zu einem befriedeten gottgefälligen Leben gehen von ihnen aus. Aber sie finden kaum Gehör. Es kommt anders und es wird, sagt das Evangelium im Blick auf Zukunft, auch in Zukunft anders kommen.

 

Das Evangelium zeichnet ein dumpfes, gewissermaßen unbelehrbares Zukunftsbild. Propheten, Weise und Schriftkundige werden verfolgt, getötet. Sie werden an Orten, die den Menschen heilig sind, „zwischen Tempel und Altar“, niedergemacht. Andere werden von Stadt zu Stadt über den Globus hin verfolgt und heute über Facebook und andere soziale Medien in „Fake-News“, in erfundenen und erlogenen Anschuldigungen, verunglimpft. Es ist so, dass der Blutspur, die von Kain an Abel ausging, viele Menschen im Laufe der Geschichte der Völker zum Opfer fielen. Und diese Blutspur befleckt in erschreckendem Maß unsere Tage. Wir brauchen nur die grausame Blutspur der Terroranschläge der letzten zwei Wochen Revue passieren zu lassen.

 

Am Samstagabend, dem 10. Dezember, werden bei einem Anschlag im Istanbuler Stadtteil Besiktas vor einem Fußballstadion 46 Menschen, unter ihnen viele Polizisten getötet und mehr als 150 verletzt. Einer der schwersten Anschläge trifft in Kairo am Sonntag, dem 11. Dezember, die koptische Kirche St. Peter und Paul, in der während eines Gottesdienstes mindestens 25 Menschen zu Tode kommen und über 50 verletzt werden. Von der Nachrichtenlage kaum erfasst kommen am selben Sonntag in der somalischen Hauptstadt Mogadischu mindestens 20 Personen ums Leben. Ein Anschlag, den die islamistische Al-Shabaab verübte. In denselben Tagen übt in der südjemenitischen Stadt Aden der IS einen Anschlag auf eine Kaserne aus, bei dem über 50 Personen getötet werden. Und eine Woche vor Weihnachten kommt aus Kayseri, einer Stadt in der mittleren Türkei die Nachricht eines Terroranschlags, dessen Opfer Soldaten sind, die ihren Sold abholen wollten. An die schreckliche Blutspur der Verwüstung von Aleppo und den Blutzoll, den sie einforderte, wollen wir gar nicht erst erinnern

 

Im Evangelium ist gesagt, all das, was von Kain an Abel seinen Ausgang nahm, wird über diese, und das heißt heute, über unsere Generation kommen. Die Welt ist in der Tat aus den Fugen geraten. Das war selten so offensichtlich wie augenblicklich. Und das, nachdem wir vor etwas mehr als 25 Jahren in großer Geste und mit großem Staunen die Versöhnung, das Geschenk des Friedens zwischen Ost und West feierten. Als sich zumal in unserem Land die Menschen im Glückstaumel in den Armen lagen.

 

Ihr habt nicht gewollt

Die blutigen Auseinandersetzungen schlugen zurück. Mit den Worten des Evangeliums gesagt: Jerusalem, Jerusalem – und Jerusalem steht hier für die Wirklichkeit aller Völker -, du tötest die Propheten, du steinigst die, die ich dir als Friedensbringer sende. Gott hatte in der Sendung Jesu etwas anderes vor. Das Evangelium fasst das in ein einfühlsames ansprechendes Bild. Er wollte seine Kinder wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nehmen. Aber ihr, sagt Jesus an die Adresse Jerusalems und damit an die Adresse der Menschheit, ihr habt nicht gewollt.

 

Die Bibel ist voll der Bilder, die nicht Traumbilder, nicht nutzlose Phantasiebilder von Menschen sind, sondern Bilder, die Hoffnung in die Furchen des Lebens säen. Bilder, in denen sich die Zusage Gottes ausspricht. Zum Beispiel in dem Bild, das Gott als jemanden zeichnet, der an Jerusalem wie an einem Neugeborenen vorbeikommt, der unversorgt dem Tod ausgeliefert ist: „Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem Blut zappeln, und ich sagte zu dir, als du blutverschmiert dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen. Und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht“ (Ez 16, 6-7). Daraus erwuchs nach Gott suchenden Menschen ein Vertrauen auf Gott, das sich in Psalmen ausdrückt: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott“ (Ps 22,10-11). Daraus gewannen Menschen Ruhe und Sicherheit: „Ich ließ meine Seele ruhig werden und still, wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir“(Ps 131,2). Der Mensch an der Brust Gottes wie ein an der Mutterbrust gestilltes Kind. Das sind Texte und Bilder, die sich wirklicher Gotteserfahrung verdanken, Erfahrungen, die Menschen in der Deutung ihres Lebens mit Gott machten. Texte, Melodien von einem anderen Sound als der schrille, Luft und Menschen zerfetzende Knall von Explosionen.

 

Das Bild der Henne mit ihren Küken und das „Ihr habt nicht gewollt“ kann nachdenklich machen. Gerade am Fest von Weihnachten. Stephanus, der erste christliche Märtyrer, war von der Liebe des gegenwärtigen Herrn erfüllt. Für ihn war in Jesus das Gottesbild von der Henne, die ihre Küken unter ihre Flügel birgt, vollendet Wirklichkeit geworden. Er hatte darunter gelitten, dass ihm darin das Jerusalemer religiöse Establishment in Gestalt des Hohen Rates nicht folgen wollte. Ihm trug er den Weg Gottes mit seinem Volk bis zu Jesus hin vor, verlor aber am Ende seiner Rede (jedenfalls nach der Apostelgeschichte) seine Contenance und bezichtigte den Hohen Rat der Halsstarrigkeit. Der Rat widersetze sich dem Heiligen Geist. Als Stephanus dann noch das Bekenntnis einer Vision ablegte, den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen zu sehen, da hatte er sein Leben verwirkt. Man steinigte ihn.

 

Hoffnung gegen alle Hoffnung

Erwies sich an ihm das Bild der Henne mit den Küken als Trug? Als Wahnbild? Und ist es erst recht für uns ein Wahnbild, dem keine Bedeutung beizumessen ist? Angesichts der potenzierten Bedrohungssituation in aller Welt? Da meldet sich in uns eine Haltung, die man Hoffnung nennt. Ich meine jetzt weniger die Hoffnung, die sich auf definierbare Alltagswünsche richtet. Zum Beispiel, ohne jetzt banal zu werden, die Hoffnung, dass man Weihnachten das Richtige geschenkt bekommt. Ich meine eine Hoffnung, die Paulus eine Hoffnung gegen alle Hoffnung nennt (vgl. Röm 4,18). Wenn ein Patient zum Beispiel erfährt, dass die Ärzte bei ihm mit ihrer Kunst am Ende seien, dann brechen in der Regel alle Dämme. Dann kommen Verzweiflung, Verweigerung auf. Aber aus dem Hintergrund der zuschanden gewordenen Hoffnung löst sich manchmal eine Hoffnung, die auf etwas ausgreift, was sie nicht benennen kann, worüber sie nicht verfügt und worin sie doch einen Hoffnungsgrund erkennt. Nein, nicht eigentlich erkennt, sondern unerkannt und undurchschaut in einer Vertrauensoption in Anspruch nimmt. Und dies nicht in einem Akt der Selbsttäuschung, sondern in einem Akt der Hoffnung (wenn auch unter Tränen), die sich am transzendenten Bezug des eigenen Lebens aufrichtet.

 

Ich möchte diese Hoffnung in die Nähe des Bildes Jesu von Gott rücken, das Gott als Henne mit den Küken unter ihren Flügeln sieht. Bei Stephanus war es mehr als eine Hoffnung. Bei ihm war es (so stellt es die Apostelgeschichte narrativ dar) das Geschenk einer Vision, die ihm ins Sterben begleitete. Auf Visionen können wir nicht setzen, aber auf die Erfahrungen unseres Lebens, in denen sich manche Spur Gottes zeigen mag, die wir bisher vielleicht übersehen haben. Unter dem Eindruck des Stephanus und dem Eindruck des Weihnachtsfestes mögen wir neuen Grund finden, auch wenn der Grund manchmal schwankt.



Prof.em.Dr. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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