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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Weihnachtstag, 26.12.2016

Wahr und wahrhaftig
Predigt zu Johannes 8:12-16, verfasst von Matthias Wolfes

„Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du zeugst von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir [Schneider: über mich; Becker: für mich] selbst Zeugnis gebe, so ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wißt nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Ihr richtet nach dem Fleisch; ich richte niemand. So ich aber richte, so ist mein Gericht recht; denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat.“

 

Liebe Gemeinde,

„Jesus als das Licht der Welt“ – das ist der Titel, unter dem unser Abschnitt in vielen lutherischen Bibelausgaben steht. Dementsprechend lauten auch die ersten Worte Jesu: „Ich bin das Licht der Welt.“ Darauf folgt die Verheißung, daß sein Licht das Leben all derer erleuchten werde, die bereit sind, ihm „nachzufolgen“: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Das „Licht der Welt“ und das „Licht des Lebens“ stehen hier zunächst nebeneinander, und doch sind sie aufeinander bezogen. Der Sinn ist: Für wen er, Jesus, das Licht der Welt ist, dem wird der Glaube daran zum Licht des Lebens.

Dies sind die beiden Seiten: das, was gesagt wird, und die Weise, wie es aufgenommen wird. Ihr Verhältnis zueinander ist die Grundlage für alles, was überhaupt zum Thema Glaube und Glaubenswahrheit gesagt werden kann. Der Glaube ist das eine. Ihn kann man beschreiben; Leute können sagen, woran sie glauben; in der Verkündigung kann der Glaube bekanntgemacht und verbreitet werden. Doch ob wirklich geglaubt wird, ob Menschen sich das zueigen machen, was als Glaube mitgeteilt wird, gewissermaßen als sein Inhalt, das entzieht sich dem Blick von außen, und es entzieht sich vielfach auch der Beschreibung durch die Mittel der Sprache. Diese Seite ist viel schwerer zu fassen, und das liegt einfach daran, daß sich das Glauben im Fühlen und Denken abspielt, nicht aber auch einer betrachtbaren Oberfläche.

 

I.

Das kurze Streitgespräch, das Jesus im Anschluß an seine ersten Worte mit den Pharisäern führt, geht genau um dieses Thema. Mit der Frage, ob ein Zeugnis „wahr“ bzw. „nicht wahr“ sei und welche Kriterien unter Umständen zur Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen geltend gemacht werden können, beziehen beide sich auf das Gegenüber von Glaube und Glauben. Wir wollen nun heute den vielen Aspekten und Problemen, die sich dahinter verbergen, nicht weiter nachgehen. Dazu gehört auch die Berechtigung Jesu – jedenfalls des Jesus des Johannesevangeliums –, sich als den Messias zu bezeichnen. Diese Berechtigung bestreiten die Pharisäer, während Jesu Entgegnung in einer erneuten Selbstoffenbarung und einer Bloßstellung des Unglaubens besteht. Dieser Punkt also soll heute für uns nicht im Mittelpunkt stehen. Wie sind ja hier versammelt, weil wir für uns selbst in Anspruch nehmen, nicht nur etwas zu wissen von dem, was man „Glaube“ nennt, sondern auch selbst zu glauben. Wir sind die christliche Gemeinde, die sich an diesem Tag versammelt hat, die Gemeinde, die unter dem Eindruck des Weihnachtsfestes steht und die weiß, was es bedeutet, daß Jesus oder auch Christus „das Licht der Welt“ ist.

Allerdings müssen wir auch in Rechnung stellen, daß die Auskünfte über diese Bedeutung sehr vielfältig ausfallen würden, und zwar selbst dann, wenn nur wir, diese heutige Gemeinde an diesem besonderen Ort, dazu befragt werden würde. Aber das ist gerade das Entscheidende: Man kann die Wahrheit des Glaubens gar nicht erfassen, wenn man sie sich nicht selbst zueigen gemacht hat. Und das meine ich in unbedingtem Sinne: „Selbst“ heißt hier: für sich selbst. Eine Wahrheit, die man einfach nur nachspricht, weil andere sie als Wahrheit ausgeben oder behaupten, sie sei es, oder sie gar gesetzesartig vorschreiben, ist keine Wahrheit mehr. „Wahr“ kann Jesu Selbstzeugnis für uns nur werden, wenn und soweit wir sie uns zueigen machen, wenn wir sie uns an- und zueignen, sie zu unserer Wahrheit werden lassen.

Sie muß das Herz bewegen, so wie überhaupt der Glaube das Herz bewegen muß, um wahrhaft Glaube zu sein. Ob das geschehen ist oder nicht, kann man von einer Beobachterposition aus nicht beurteilen. Über den Glauben anderer zu urteilen ist unmöglich und sollte auch nicht geschehen. Vielleicht ist es sogar auch dem, der von sich sagt, er glaube, gar nicht völlig klar, in welcher Weise er sich das, was er zu glauben bekennt, wirklich zugeeignet hat. Aber das muß er mit sich selbst abmachen. Es ist eben sein Glaube, um den es geht, und die Frage: Was ist es eigentlich, das ich glaube? ist dann die Form, in der ich mich mit meinen eigenen religiösen Vorstellungen beschäftige.

Mir scheint, wir kommen bei diesem ganzen, zugegebenermaßen schwierigen Thema nur dann weiter, wenn wir ganz konsequent darauf verzichten, den Glauben mit dem Bekennen bestimmter Wahrheitssätze gleichzusetzen. Es gilt, zu erkennen, daß der Glaube eben eine sehr individuelle Sache ist, bei der es sich von vornherein verbietet, Maßstäbe des „Richtig“ oder „Falsch“ anzulegen.

 

II.

Unser Text weist uns denn auch eine ganz andere Richtung. Wir wollen einmal so vorgehen, daß wir das Gewicht nicht so sehr auf die besondere christologische Einkleidung legen. Sie stammt von dem Evangelisten Johannes. Seine Komposition der „Ich bin“-Worte – sieben sind es im ganzen – diente diesem Theologen dazu, das messianische Bewußtsein Jesu zum Ausdruck zu bringen. Die anderen Evangelisten haben das gleiche Ziel auf andere Weise verfolgt, sind mit ihm aber darin einig, daß es darum gehen müsse, die besondere Auszeichnung dieses Jesus von Nazareth, seine unbeeinträchtige Verbindung mit Gott, herauszustellen. Alle vier Evangelien sind Bekenntnisschriften. Und ebenso kann auch unser eigenes Zeugnis von unserem Glauben, einschließlich all dessen, was wir über Jesus zu sagen haben, nichts anderes sein als Bekenntnis. Es ist aber nicht irgendein Bekenntnis, das so oder auch anders lauten könnte, sondern es ist unser Bekenntnis.

Das ist der entscheidende Punkt: Ein gesprochener Satz über den eigenen Glauben ist dann ein Bekenntnis, wenn er wahrhaftig ist. Die Pharisäer werfen Jesus vor, sein „Zeugnis“ sei „nicht wahr“. Dabei gehen sie von einem objektiven, tatsachenbedingten Verständnis von Wahrheit aus. Seine Aussage sei nicht wahr, weil sie nicht den Tatsachen entspreche. Dies ist die Ebene im Umgang mit Glaubensaussagen, die mit dem Maßstab des „Richtig“ und „Falsch“ arbeitet. Sie muß aber überwunden werden. Auf diesem Wege wird alles Sprechen von Wahrheit im Bereich des Glaubens unmöglich. Um so wichtiger ist für uns daher der Umstand, daß Jesu Antwort mit folgenden Worten einsetzt: „Auch wenn ich von mir selbst Zeugnis gebe, so ist mein Zeugnis wahr [...].“

„Wahr“ ist Jesu Zeugnis gerade deshalb, weil er von sich selbst Zeugnis gibt. Wahr ist jedes religiöse Sprechen gerade dann, wenn es ein wahrhaftes Bekennen des eigenen Glaubens ist. Es ist sogar nur dann wahr – das ist es, worum es bei unserem Text für uns heute geht.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Wir stellen uns in die gleiche Richtung, das heißt: wir folgen Jesus nach nicht einfach, indem wir den Satz „Er ist das Licht der Welt“ aussprechen, sondern indem wir ihn als eine wahrhaftige Aussage unseres eigenen Glaubens sprechen. Wir tun es als Christen, indem auch wir – so wie er gegenüber den Kontrahenten – aus uns selbst heraus sprechen. Dann erst stehen wir mit dem, was wir als Glaubende bezeugen, auf der Seite des wirklichen Glaubens.

Ein jeder soll das Seine „getreu“ verrichten, also in Wahrhaftigkeit, und das gilt in ganz besonderer Weise für alles Glaubenszeugnis. Es kann nur erfolgen im Vertrauen auf Gott, und es bewährt sich in der Weise, wie wir unser Leben bestehen. Das Leben aus und in Gott leben – das bedeutet: es in Wahrhaftigkeit führen, vom Glauben getragen, in selbstbewußter, verantwortungsvoller Gestaltung.

 

III.

Das Prinzip der „Wahrheit“ aber sollten wir in diesem Zusammenhang auf sich beruhen lassen. Was nun meint dieser Begriff überhaupt? Ihm haftet eine Tendenz zu bedingungslosen Geltungsansprüchen an. Der brutale Wahrheitsabsolutismus eines ethischen Rigoristen jedenfalls führt in die Irre. Wahrheit kann nicht nur lebensfremd, sondern auch lebensfeindlich sein. Kein Mensch hat ein Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.

„Wahrheit“ ist ein hohes Wort und bezeichnet eine noch höhere Sache. Sie wird aber auch, sobald wir uns ihrer bemächtigen, sehr rasch zwiespältig und problematisch. Gibt es sie überhaupt? Gibt es sie jedenfalls in unserem Empfinden, Wahrnehmen und Denken? Gibt es sie in dieser hiesigen Wirklichkeit? Wer wollte sich hinstellen und in den Dingen des Lebens sagen: „Dies oder das ist wahr“? Aus seiner Sicht mag es das sein, aber die Möglichkeit ist immer gegeben, daß ein anderer mit seinen Geltungsbehauptungen dagegen auftritt.

Vielleicht ist es ganz gut, Wahrheit dem Reich der Ideen vorzubehalten, etwa dem der Mathematik mit ihren schlechterdings unbezweifelbaren Sätzen, die aber eben deshalb ja auch keine Geschichte haben und überhaupt außerhalb der Vernunft- und Tatsachenwahrheiten stehen. Vorzubehalten also dem Reich der Ideen, wie es auch nach dem Evangelisten Johannes der Fall ist, wo der Erlöser spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6). Daß damit weder der Weg noch das Leben gemeint sein kann, das wir Hiesigen in dieser Vorläufigkeit und Bedingtheit führen, eingemeißelt in unsere Perspektivität und Verstandesbegriffe, das versteht sich von selbst.

Mit der Wahrhaftigkeit aber verhält es sich ganz anders. Für sie sind wir selbst verantwortlich. Auf sie können wir festgelegt werden und uns selber festlegen. In der Unwahrhaftigkeit verletzen wir selbst uns in unserer moralischen Unversehrtheit. Denn Wahrhaftigkeit fällt in unseren Denk- und Handlungshorizont. Das Subjekt der Wahrheit ist sie selbst; das Subjekt der Wahrhaftigkeit aber sind wir.

Jeder wird die Erfahrung machen, daß es nun aber auch mit dieser Verantwortung nicht so einfach bestellt ist. Es gibt Situationen, in denen es sehr schwer fällt, dem Maßstab der Wahrhaftigkeit zu genügen. Wahrhaftigkeit muß man sich leisten können. Und der Ausweg, zu sagen: Die Hauptsache ist, daß der Maßstab als solcher bestehen bleibt, und dann hast Du die Richtschnur, die Gewissensvorgabe, an der Du eben gegebenenfalls auch Deiner Unzulänglichkeit Dir bewußt wirst – solch ein Vorgehen hat etwas Zweideutiges. Das Gute, aus dem heraus der, der auf Gott vertraut, sein Leben führen will, spiegelt sich in nichts anderem als dem guten Willen.

Es ist nun eben die Erfahrung des Glaubens, daß der Glaube diesen Willen stützt, ermutigt und belebt. Für uns jedenfalls ist das der Weg, wie wir, als derart fragile Wesen, die wir sind, die Kraft haben, an der Wahrhaftigkeit festzuhalten. Dann gilt auch, was an anderer Stelle, im Matthäusevangelium, zum Stichwort „Licht der Welt“ zu lesen ist: „Ihr seid das Licht der Welt. [...] So laßt Euer Licht leuchten vor den Menschen, damit die Eure guten Werke sehen und Euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5, 14a. 16).

Amen.

 

Verwendete Literatur:

Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1 – 10. Dritte, überarbeitete Auflage (Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament. Band 4/1), Gütersloh / Würzburg 1991.

Johannes Schneider: Das Evangelium nach Johannes. Aus dem Nachlaß herausgegeben unter Leitung von Erich Fascher. Zweite Auflage (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament. Sonderband), Berlin [DDR] 1978.



Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes
Berlib
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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