Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Epiphanias, 29.01.2017

Predigt zu Matthäus 14:22-33, verfasst von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

ihre Lage ist nicht gut. Ja, sie ist schlecht, richtig schlecht. Sie sind so wenige, dass ihre Treffen bisweilen ausfallen. Die Leute meiden sie, machen ihre Witze über sie. Gute Nachbarschaften sind zerstört, alte Freundschaften zerbrochen. Es ist schwer geworden, Arbeit zu finden und den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Ordnungshüter sehen in ihnen Störenfriede und gehen bisweilen streng gegen sie vor. Einige von ihnen sind ohne Urteil in Haft, andere in den Untergrund gegangen. Die Zahl derer, die bei der Stange bleiben, nimmt stetig ab, die Zahl der Wankelmütigen genauso stetig zu.

Das Gegenteil sollte, müsste der Fall sein, doch sie erfahren Gegenwind aus allen Richtungen und von allen Seiten. Immer kleinlauter werden sie und sehen den Tag schon kommen, an dem sie gänzlich verstummen. Denn der tägliche Kampf ums Überleben zermürbt, zehrt an Kräften und Nerven und macht müde. Führt sie immer näher an den Rand der Resignation, der Selbstaufgabe. Einander aufmuntern, sich gegenseitig Mut machen - das können sie nicht mehr. Wenn und wo sie sich treffen: Ein Klagen, ein Jammern, und ihre Zukunftsangst ist mehr als berechtigt. Wie Ertrinkende sind sie, die ihre letzten Kräfte schwinden fühlen. Und kein Strohhalm weit und breit.

Einer von ihnen hält sich aus allem heraus. Früher war er sehr angesehen, hatte Einfluss und Bedeutung. Nun ist hoch betagt, Hören und Sehen sind ihm fast vergangen. Viel hat er erlebt in seinem langen Leben, und nichts kann ihn verwundern. „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, kommentiert er gelegentlich das Klagen der anderen. Die zweifeln bisweilen, ob er ihre Worte überhaupt gehört hat, und schieben seine Gleichmut auf sein hohes Alter. In fast einfältiger Freundlichkeit lässt er sie reden.

Doch er macht sich so seine Gedanken, macht sich Sorgen. Nicht Angst vor einer ungewissen, bedrohlichen Zukunft beschäftigt ihn; die kennt er nicht. Er sucht Antwort auf die Frage, wie die Wenigen, die sie noch sind, wieder nach vorn, wieder nach oben blicken können. „Man soll den Kopf nicht hängen lassen, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht“, wird gesagt. Nun ja, das ist zwar richtig, aber Appelle helfen selten gegen Angst, und Ratschläge sind auch Schläge. Nein, er will die Leute dran erinnern, dass ihre Angst überwunden, zumindest ganz klein werden kann. Nur weiß er noch nicht, wie und wodurch er das erreichen kann. Weiß nur, dass er ihr Selbstvertrauen stärken muss und ihr Gottvertrauen. Denn eins hängt am anderen.

Ein altes Buch fällt ihm ein. Vor Jahrzehnten hat er es für viel Geld erworben und viel darin gelesen. Da stand, so erinnert er sich, manches drin, das ihm Kraft gegeben hat, wenn er sich schwach fühlte, Mut, wenn er verzagen wollte, Trost auch, wenn er traurig war. Er müsste versuchen, es zu finden – ein schwieriges Unterfangen, denn seine Augen sind so trübe. Im Haus erkennt er nur noch schemenhafte Umrisse. Da ist ein Buch, von Staub und Alter grau, kaum zu erkennen.

Er erinnert sich an die eine und andere Geschichte aus dem Buch, bildhafte Geschichten von Situationen, wie Menschen sie erleben können. Geschichten, in denen es darum geht, lähmende Angst zu überwinden, aus Krisen herauszufinden, Geschichten, um Leben zu gewinnen.

Trauer überkommt ihn, dass er diese Geschichten nicht mehr lesen kann und er das Buch wohl nie wiederfinden wird. Er lässt sich auf seinen Sessel fallen und sinkt in sich zusammen. Kann eine Träne des Selbstmitleids nicht verhindern. Er hört die Tür gehen und dann die Stimme seines Enkels. „Der kommt ja wie gerufen“, denkt er und wischt schnell die Träne ab, setzt sich aufrecht. Nach den üblichen Begrüßungsfragen nach Eltern und Schule bittet er den Enkel, ihm doch aus einem Buch vorzulesen, das er aber zuvor finden müsse. Er beschreibt das Buch, der Enkel kennt es und bekennt, dass er es sich ausgeliehen habe. „Soso, ausgeliehen“, schmunzelt er, „dann bring es mir bald zurück, ich brauch es.“ Der Enkel verspricht es und bringt es ein paar Tage später. Schnell findet er die Geschichte, zu der der Großvater ihm ein paar Stichworte gegeben hat, und liest sie vor.

„Genau das ist es, was die Leute brauchen“, sagt der Großvater „und jetzt lauf zum Gemeindevorsteher. Sag ihm, dass ich zur nächsten Versammlung komme und etwas zu sagen habe. Und er möge das allen ausrichten lassen.“

Ganz wie er es erwartet hat, sind eine bemerkenswerte Zahl von Gemeindemitglieder gekommen. Er bedankt sich für ihr Erscheinen und bittet seinen Enkel, die Geschichte vorzulesen. Der steht auf, nimmt das Buch zur Hand und liest langsam und deutlich:

„Gleich darauf drängte er – Jesus - seine Jünger, ins Boot zu steigen und ihm ans andere Ufer vorauszufahren, während er die Leute entlasse. Und als er die Leute entlassen hatte, stieg er auf den Berg, um ungestört zu beten. Am Abend war er allein dort. Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt, als es von den Wellen hart bedrängt wurde, denn der Wind stand ihnen entgegen. In der vierten Nachtwache kam er zu ihnen; er ging über den See. Als die Jünger ihn auf dem See gehen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Sogleich aber redete Jesus mit ihnen: Seid getrost, ich bin es. Fürchtet euch nicht! Petrus aber entgegnete ihm: Herr, wenn du es bist, so heiße mich über das Wasser zu dir kommen! Er sprach: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot, und er konnte auf dem Wasser gehen und ging auf Jesus zu. Als er aber den Wind spürte, fürchtete er sich, und als er zu sinken begann, schrie er: Herr, rette mich! Sogleich streckte Jesus seine Hand aus, hielt ihn fest, und er sagt zu ihm: Du Kleingläubiger! Warum hast du gezweifelt? Und als sie ins Boot stiegen, legte sich der Wind. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sagten: Ja, du bist wirklich Gottes Sohn!“

Nach einer kleinen Pause und einem Gebet fordert er Anwesenden auf, in kleinen Gruppen über die Geschichte zu sprechen. Besonders darüber, wie und wo diese Geschichte Menschen Mut machen, Zuversicht geben, Trost spenden kann, die vor Angst zu versinken drohen. Menschen, die Gespenster sehen oder, wie Petrus, einem Sturm nicht standhalten. „Vielleicht“, schließt er, „erinnern Sie sich zunächst einmal, wo Sie schon mal ins Schwanken geraten sind, Gespenster gesehen haben oder in irgendeinem Sumpf zu versinken drohten. Und wie Sie dann aus der Gefahr herausgekommen sind und es um Sie herum und in Ihnen wieder ganz ruhig wurde. Dafür haben Sie jetzt 15 Minuten Zeit.“



Landespfarrer a.D. Paul Kluge
Leer
E-Mail: Paul-Kluge@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)