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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahrsabend (Silvester), 31.12.2007

Predigt zu Hebräer 13:8-9b, verfasst von Henning Kiene

Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.

 

Astrid Lindgren, deren Geburtstag sich vor einigen Wochen zum einhundertsten Mal gejährt hat, war eine Meisterin der Stimmungen. Die Erzählungen und Romane mit denen die Schwedische Schriftstellerin Kinder und Erwachsene gleichermaßen anrührt, macht sie unsterblich: Es gelingt ihr das, was zwischen Menschen wirkt, deren Lebensgeschichten und die Landschaft ihrer Heimat Schweden so zum Klingen zu bringen, dass Ihr Lebenswerk sie längst überlebt hat.

 

Wie würde Astrid Lindgren so einen letzten Abend wie wir ihn heute erleben, in einer Erzählung einfangen? Die schwedische Dichterin würde auf die Betrachtung alles Allgemeinen verzichten. Sie würde einen einzigen Tag, vielleicht nur eine Stunde des Jahres in den Blick nehmen. Die Farben, die Geräusche, die Gerüche, die Stimmungen, die Gesichter der Personen würden durch Worte sichtbar werden und einem gleichsam vor Augen treten. Am Einzelnen würde sie das Ganze erkennbar machen. Und: Sie würde die Gegensätze, auch das Ungereimte, das immer auch über dem Leben vielleicht liegt, nicht verschweigen.

 

Der frühe Sonnenuntergang vom heutigen Nachmittag wäre zu erkennen. Ich sehe die Lust unserer Kinder am Licht und Lärm des Feuerwerks. Da ist eine letzte Begegnung, in der sich die vergangenen zwölf Monate noch einmal zu erkennen geben. Ein Wortwechsel, ein gezieltes Schweigen. Manches ließe sich in einer Erzählung wiedergeben. Die handelt für den einen von einer Trennung, die er vollzogen hat. Andere werden die neuen Bindungen, die sie eingegangen sind, sehen. Da werden Gefahren wieder durchlebt und so etwas wie ein großer Schutz, der sich über das Leben legen will, wäre deutlich zu erkennen. Lassen Sie es uns heute Abend der große Erzählerin nachtun und das Klima dieses Jahres in einem Abschnitt festhalten. Denn Vergangenes kann einen fesseln und die Zukunft behindern. Doch wer es will, kann durch Gewesenes auch zur Zukunft geleitet werden. So wirkt der Glaube: Vergangenes öffnet Zukunft. So wie Jesus Christus Geschichte ist und dennoch das Leben heute aktiv gestaltet.

 

In jedem Fall leuchtet das Ganze dieses Jahres im Abschied noch einmal auf. So machen es viele von uns, wenn das Vergehen der Zeit spürbar ist. Heute Abend sowieso. Jetzt, auch hier in der Kirche sollten wir es tun: beim Singen und Beten, jetzt während des Zuhörens, dürfen die Gedanken das Jahr wieder absuchen. Wollen wir aus den einzelnen Szenen, die uns vor Augen treten, das Ganze noch einmal erkennen.

 

Ein Bild baut sich in uns auf.
Eine Szene hat sich uns eingebrannt, die spielt sich noch einmal ab.
Menschen treten in das Blickfeld.
Ihre Gesichter spiegeln Situationen.
Gerüche, Gefühle, Licht und Schatten.
Landschaften sind zu erkennen.
Die Wolkenbilder des Sommers bilden eine große Kulisse.
Das alles ist noch lebendig,
doch schon will es Geschichte werden und könnte für immer vergehen.
Dazu kommen das Licht und die Schatten, die unsere Seele erreichen.
Hell und Dunkel gibt der Erinnerung auch in mir ihre Kontur.
Doch es ist immer auch Gottes Gnade zu erkennen.
Sie lässt einen eigenen Strang in der Erinnerung erkennen.

Gerade an diesem Sylvestertag ist deutlich, wie sich die Dinge, die waren, mit dem Moment, den die Gegenwart schenkt, ineinander schieben. Man kann mit den Händen greifen, was einmal war. Man möchte streicheln, festhalten und auch weglegen. Und manches erscheint auch in einem anderen, neuen Licht. So genau und zuverlässig funktioniert das Gedächtnis, das die Zeiten in ihm verschmelzen. Vergangenes ist nicht einfach Vergangenheit, vieles, was war, ist auch noch Gegenwart. Wer sich zu Jesus Christus bekennt, kennt diese Wirkung: Die schon lange der Vergangenheit zugerechnete Geschichte Jesu Christi verleiht der Gegenwart eine ungeahnte Tiefenschärfe. Da wirkt was Bleibendes aus dem heraus, was schon lange vergangen ist und reicht mit seiner Kraft in die Gegenwart hinein. Ähnlich arbeitet der Glaube. In ihm kommen Vergangenes und Gegenwärtiges in einen Wirkungszusammenhang.

 

Seit dem ersten Generationenwechsel nach dem Leben Jesu, als die unmittelbaren Zeugen aus der ersten Gemeinde gestorben waren, wissen Christinnen und Christen, dass Vergangenes nicht einfach verschwindet. Gewesenes lebt wieder auf und wirkt weiter und gewinnt sogar eine eigene Kraft. In der Bibel kann man das erkennen und die Bilder sehen, die in kurzen knappen Worten aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein gezeichnet werden. Vergangenes gewinnt eine die Gegenwart gestaltende Kraft.

 

Auch der Hebräerbrief hat diese Erfahrung gemacht. Er gibt dem Bild von Jesus Christus eine neue Kontur. Und der Christus, den er zeigt, bringt die Versöhnung noch aktiver in das Leben jeder und jedes Glaubenden ein, als man es sonst in der Bibel liest. Jesus Christus steht für eine grundlegende Heilung der Geschichte der Menschen und der Geschichte Gottes durch ihn, durch Jesus Christus selber. Jede einzelne Lebensgeschichte, jedes Schicksal, alle Schuld und aller Ruhm, den ein Mensch erwerben kann, alles wird durch Jesus Christus versöhnt. Er gestaltet die Gegenwart. Das ist die Landschaft, in der der Glaube leben will. Die Versöhnung der Welt und jedes Lebens gibt dieser Landschaft eine vertiefte Dimension, die man braucht damit man in ihr frei leben kann. Wer Versöhnung kennt, kann frei und sogar offen aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die muss nichts verschweigen und die eigenen Fehler, sogar die Sünde nicht leugnen. Die braucht aber auch den Erfolg nicht zu verschweigen. Vergangenes wird also nicht mit voller Last an dem Leben jedes einzelnen Menschen festgebunden oder einem noch zusätzlich auf die Schulter gelegt.

 

Auch Astrid Lindgren sparte weder Leid noch Schuld aus. Sie erzählte alles so liebevoll und bis ins kleine Detail verliebt, dass die Lasten niemanden erdrücken. Diese Schriftstellerin muss geahnt haben, was Versöhnung sein kann.

 

So kann einem auch der Nachklang, den das das Jahr 2007 jetzt hat, leicht werden. Auch die von Vergangenem belasteten Menschen spüren, dass die Erinnerung an Tiefe gewinnt, wenn die Versöhnung in sie hineingelassen wird. So kann das ganze Jahr in nur einer Szene in einem anderen Licht noch einmal vollständig aufleuchten. Und die Weihnachtsstimmung in unserer Kirche ist heute nicht nur Kulisse vergangener Zeiten. Sie lässt die Versöhnung Jesu Christi in der Welt anklingen: Die Krippe und die Figuren, der Menschen, die zur Krippe kommen, tun ihr Erinnerungswerk. „Christ ist erschienen um uns zu versühnen!" Das singen wir auch heute.

 

Ich bleibe dabei: Ich ermutige Sie in stiller Zwiesprache mit sich selber oder gemeinsam mit anderen es einer guten Erzählung nachzutun. Genau sein! Sich voller Mut auch dem zu stellen, was niemand gerne sehen mag, auch die eigene Schuld nicht aussparen. Die Landschaft, in der wir Menschen leben, gewinnt ihre Tiefe, wenn in ihr etwas von der Versöhnung sichtbar ist. Dass Jesus Christus im Leben wirkt, macht das Hinsehen und Erzählen oft erst möglich.

 

Er wirkt auf vielfältige Weise mit: An keinem meiner Erfolge war nur ich alleine beteiligt. Es sind in meiner Erinnerung immer auch andere Menschen und Mächte zu erkennen, die ihre Kraft hinein gegeben haben. An den Krisen, die ich durchmessen musste, bin ich gereift. Ich höre aber auch ein gelungenes Wort wieder, es hatte die Kraft eine Brücke zu bauen. Kam das Wort von mir? Ist es mir nicht doch geschenkt worden? Wenn Verbindungen und Versöhnungen gelingen, dann fließen Gottes Wort und Menschenwort oft ineinander. Da ist der Bogen vom Leben Jesu in das Leben heute hinein eng gespannt. So kann sich die böse Kluft, die sich zwischen unterschiedlichen Interessen auftut, überbrücken lassen. Die Menschen, denen es seit Monaten gelingt die GDL und die Bahn immer wieder an einen Tisch zu bringen, konnten mitten im Konflikt wenigstens den Gesprächsfaden aufrecht halten. Wäre das, was in diesem Tarifstreit immer wieder möglich ist, in manchem Betrieb oder sogar in der Familie möglich gewesen, dass im schwersten Konflikten immer wieder jemand für eine Fortsetzung des Gespräches sorgt, viel Schaden wäre von vielen Menschen abgewendet worden. Beflügelt durch die noch immer lebendige Geschichte Jesu Christi bleiben wir dabei und suchen Verbindung zu Menschen, zu unserer eigenen Geschichte, zu diesem Jahr, zu Gott.

 

Wie in einem Moment noch einmal alles, was vergangen ist aufleuchtet, lässt Astrid Lindgren auf den letzten Seiten ihres Buches „Ferien auf Saltkrokan" am Abschiedsabend vor der Abreise aus den Inselferien noch einmal die ganze Geschichte erscheinen. Da haben der Vater Melcher Melcherson und seine Kinder ganz und gar nicht unbeschwerte Ferien verlebt. Es waren Wochen, in denen nichts richtig rund lief: Ein Fuchs hat gewildert, Familienhund Bootsmann sollte dafür büßen. Malin, die geliebte, nun erwachsene Schwester, die ihrer Familie die verstorbene Mutter lange Jahre ersetzt hat, findet ihre große Liebe. Ein Fremder tritt in die Familie ein. Die kleinen Brüder müssen nun den Abschied von der großen Schwester fürchten. Und das alte, verwunschene Ferienhaus, das sie zwei Sommer lang mieten konnten, soll nun auch noch verkauft und abgerissen werden. Den Melchersons fehlt das Geld, es selber zu kaufen. Doch wie durch ein Wunder füllt sich die sonst leere Familienkasse und es kommt doch noch zum Hauskauf auf der Ferieninsel.

 

Am letzten Tag auf der Insel steht Melcher Melcherson mit der Angel an der Felsküste. Pelle und Tjorven kommen zu ihm. „Weshalb sitzt du dann hier?", fragte Tjorven. Und Melcher deklamierte mit derselben träumerischen Stimme ein Gedicht: „Die Abendsonne sank, er sah in ihren goldenen Glanz ..." ... „Am liebsten wollte er die Hand ausstrecken und alles streicheln." „.., ich bleib die ganze Nacht hier sitzen", sagte Melcher. „... Und schaue mir die Morgenröte an." Und dann zitiert er die Bibel: „Nähme ich Flügel der Morgenröte, machte mir eine Wohnung zu äußerst im Meer...". (siehe: Astrid Lindgren, Ferien auf Saltkrokan, Hamburg 1992, S. 271 f)

 

Astrid Lindgren hat über ihren eigenen Glauben nur selten gesprochen. Doch hier klingt Psalm 139 mit. Die Familie, in der alles in auf Veränderung angelegt ist, besitzt jetzt auf der Insel ein altes Haus. Sie werden alle wieder zurückkehren. Auch wenn sich in der Familie alles verändert haben sollte, so bleibt die Geschichte der „Ferien auf Saltkrokan" erhalten, die großen Veränderungen werden das Vergangene nicht verdrängen können. Im Gegenteil, Vergangenes beflügelt die Zukunft. So zeigt die Schriftstellerin die vier Menschen am Strand, sie taucht die vier in das Licht des Sonnenuntergangs. Sie bleiben bis in die Morgenstunden um den neuen Sonnenaufgang auch zu sehen.

 

So auch wir heute Abend: Das letzte Tageslicht erlischt, die letzte Nacht dieses Jahres bricht an. Vor unserem inneren Auge ziehen Bilder und Szenen des ablaufenden Jahres vorüber. Was bleibt und was nicht? Das steht nicht nur in unserer Verantwortung. Sicher ist Vergangenes wird die Gegenwart auch in Zukunft beeinflussen. Versöhnung, gerade die, die Jesus Christus möglich gemacht hat, lenkt über Generationen hinweg die Geschicke unseres Lebens. Und vielen von uns geht es in dieser Stunde wie den Melchersons am letzten Tag auf der Insel Saltkrokan, man möchte die Hand ausstrecken und alles streicheln.



Propst Henning Kiene
Meldorf
E-Mail: henning@henning-kiene.de

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