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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 26.02.2017

Eins aber tut not
Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von Ulrike Weber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen. 

 

 

Liebe Gemeinde,

der Predigttext ist eine oft diskutierte und heftige Emotionen auslösende Geschichte. Ich lese aus Lukas 10 „Maria und Marta“:

 

Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.

 

Liebe Gemeinde,

ob Lukas schon ahnte, welcher Zündstoff in seiner Geschichte steckt? Es geht nicht nur um das rechte Tun in einer bestimmten Situation, sondern auch um die Rollenverteilungen und Zuständigkeiten von Frauen und Männern und – ganz kritisch – auch um das Miteinander von Frauen. Lukas hält uns den Spiegel vor. Vordergründig sieht alles gut aus: Marta lädt ein, öffnet ihr Haus, bietet Gastfreundschaft und bewirtet. Und die Schwester Maria widmet sich dem Gast, öffnet ihm ihr Herz, schenkt ihm ungeteilte Aufmerksamkeit. Nun kommt das große ABER und der Hintergrund tut sich auf. Marta ärgert sich über ihre Schwester, die sich so sittenlos zu Jesu Füßen legt und nichts anderes zu tun hat, als in aller Seelenruhe dem Gast zuzuhören. Dabei könnte sie so gut Hilfe gebrauchen, - ihre ganzen Mühen werden überhaupt nicht wahrgenommen, weder von Maria noch von Jesus. Sie macht ihrem Ärger Luft und erwartet jetzt, dass sich alles so fügt, wie sie sich das vorstellt, dass Jesus nämlich Maria bittet, ihrer Schwester doch zu helfen.

Bis hierher können wir alles gut verstehen. Bis hierher können wir sogar mit unseren eigenen Erfahrungen mitschwingen. Ja, genauso haben wir es schon oft erlebt. So wie Marta. Wir mühen uns ab, während andere zusehen. Wir sind immer diejenigen, die die Arbeit machen, während andere glänzen. Wir eilen ruhelos hin und her, damit alles perfekt läuft.

Wir kennen auch die andere Erfahrung, die Maria erlebt: die Freude über eine unerwartete Begegnung, die Faszination und Anziehungskraft, die von einem Menschen ausgeht, dem wir uns ganz widmen möchten. Eine Situation, die unsere ganze Aufmerksamkeit fordert, weil wir spüren, dass es uns ganz betrifft. Und während wir so gefesselt zuhören, rennt jemand im Hintergrund hin und her und bringt Unruhe.

Als Marta sich bei Jesus beschwert und ihn auf ihre Seite ziehen will, erreicht sie nicht, was sie sich vorgestellt hat. Auch wenn die Antwort Jesu Marta gilt, haben beide Frauen von ihr zu lernen. Beide hören „eins aber ist not“.

Von den vielen Dingen, die wir tun und die getan werden müssen, ist aber nur eines das wirklich Notwendige. Jesus will mit seiner Antwort auf die Priorität hinweisen. In den vielfältigen Situationen des Lebens gibt es immer eine Vielfalt von Möglichkeiten. Dann das Richtige tun, ist eine Entscheidung, die uns nicht immer leichtfällt. Ist es nun das Engagement für andere oder das Sorgen für sich selbst? Ist es die fremde Not, die mich antreibt oder die eigene Not? In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.

Manchmal stehen uns aufgrund unserer Persönlichkeit nicht so viele Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, die denkbar wären. Dann können wir nicht anders, als so zu reagieren und zu agieren, wie wir es immer getan haben. Aber auch hier müssen wir uns Jesu Wort sagen lassen: „Eins aber ist not“ und nach diesem Notwendigen suchen.

 

Diese Frage, nach dem einen Notwendigen, beschäftigt mich in meiner Arbeit sehr. Als Pfarrerin der Ev. Kirche deutscher Sprache in Nord- und Mittelgriechenland bin ich Situationen ausgesetzt, die mich ständig zwischen Marta und Maria pendeln lassen, immer begleitet von der Frage nach dem einen Notwendigen.

Die Situation der immer noch über 60.000 Flüchtlinge in Griechenland wird nicht leichter. Der letzte Winter ist mit Macht und Härte auf Griechenland zugekommen. Es gab im Januar Minus-Temperaturen, die es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Die Bilder mit den schneebedeckten Zelten von den Inseln Samos und Lesbos waren überall in den Medien zu sehen. Schon im Sommer gab es die ersten Überlegungen, die Flüchtlingslager und Camps winterfest zu machen. Es standen finanzielle Mittel zur Verfügung und Strategien wurden entwickelt. Nun zeigte sich aber in der Praxis, dass der verbleibende Zeitraum bei weitem nicht ausreichte, um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die Menschen vor der Kälte zu schützen. Die viel zu unbewegliche Bürokratie, die oft nicht funktionierende Kommunikation und fehlende Koordination hatten fatale Folgen. Der UNHCR hat Listen veröffentlicht, aus denen man ersehen kann, in welchem Zustand sich welche Camps befinden. Es sollten Container aufgestellt werden, die mit Strom zu beheizen sind. Von den Containern, die dann tatsächlich aufgestellt wurden, hatten einige Stromanschluss andere aber nicht, einige hatten eine Einrichtung andere nicht. Dort saßen die Menschen dann auf dem Betonfußboden, ohne Licht und Wärme. Und dort, wo die die Flüchtlinge weiterhin in den Zelten bleiben mussten, gab es ein näheres Zusammenrücken. Die Fabrik-Hallen, in denen die Zelte stehen, schützten zwar vor Schnee aber die Kälte drang durch die großen Tore ungehindert hinein. Die Kälte führte dazu, das die Körperhygiene vernachlässigt wurde und sich Krankheiten ungehindert ausbreiten konnten.

Für die Alten, Kranken und vor allen für die Mütter mit ihren kleinen Kindern wurde die Situation lebensgefährlich.

Viel zu spät wurden dann Hotels und Ferien-Apartments angemietet, um die Menschen ins Warme zu bekommen und zu versorgen. So haben sich die Zahlen der Flüchtlinge in den Camps verringert. Ich frage mich allerdings, ob diejenigen, die in Hotels untergekommen sind, im Frühling wieder die Camps füllen, aus Kostengründen.

Was ist das eine Notwendige?

Ich sehe das Spannungsfeld zwischen Aktivismus und Ohnmacht. Aktivismus, der zuweilen seltsame Maße annimmt, und Ohnmacht, die nach außen wie Ignoranz aussieht.

Es zeigt sich, dass Griechenland im Engagement für Andere, für die Fremden im Land überfordert ist, weil die Sorgen für sich selbst schon viel zu groß sind.

 

In meinem Büro sitzt mir eine griechische junge Frau gegenüber. Ihre alten Eltern haben durch einen Hausbrand fast alles verloren. Es gibt keine Versicherung, die Rente ist sehr klein. Die 50.000 Euro, die der Wiederaufbau kosten würde, habe auch ich nicht. Aber das braucht es auch nicht. „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben“, sagt mir die junge Frau unter Tränen, „das ist schon mehr als genug!“ Sie macht einen erleichterten Eindruck und mir scheint, dass sie wieder Kraft gefunden hat, sich den Sorgen zu stellen.

 

Dem jungen Aussteiger, der auf seiner Tour durch Griechenland die falschen Freunde getroffen hat, ausgeraubt wurde und ohne Papiere und Geld hoffnungslos verloren war, bekommt noch am Silvestertag vom Konsulat Ersatzpapiere und von uns das Flugticket zurück nach Deutschland. Er bleibt als dankbarer Mensch in meiner Erinnerung.

 

Unser „Offener Kleiderschrank“ beherbergt inzwischen Frauen-, Männer- und Kinderbekleidung in allen möglichen Größen. Wir geben, was gebraucht wird. Oft kommen griechische junge Mütter, die alleinerziehend sind und finanziell keine Absicherung haben. Sie suchen noch Winterkleidung für sich und die Kinder. „Meine Mutter ist gestorben. Ich habe für die Beerdigung nichts Passendes anzuziehen!“ Der junge Grieche stand hilflos vor uns. Wir konnten ihm einen schwarzen Anzug beschaffen, ein weißes Oberhemd und nach längerem Suchen fanden wir auch noch eine dunkle Krawatte. Mit einem Lächeln standen wir alle mit ihm vor dem großen Spiegel.

 

Liebe Gemeinde, wenn Jesus kommt, entscheidet sich, was zu tun ist. Wenn Jesus gegenwärtig ist in einem von diesen geringsten Brüdern und Schwestern, die uns begegnen, dann ist es nicht egal, was wir tun. Es gibt Momente, da geht es um alles für den anderen, so wie Marta. Dann wiederum ist das eine Notwendige, dass wir unsere eigene Bedürftigkeit im Blick haben und uns beschenken lassen, wie Maria.

 

In unseren Gottesdiensten sind das Hören auf Gottes Wort und die Fürbitte für uns die wichtigsten Elemente. Im Bibelwort suchen wir Orientierung und den Maßstab unseres Handelns. In der Fürbitte geben wir unserer Ohnmacht Raum und legen alles, was uns auf dem Herzen liegt in Gottes Hände. Wir zünden Kerzen an und vertrauen darauf, dass Gott unsere Gebete erhört. Nur so lassen sich die Situationen und Schicksale ertragen, mit denen wir konfrontiert sind. Wir ahnen die Bedeutung von Luthers Wort: „Ich habe heute viel zu tun, darum muss ich heute viel beten!“ Gestärkt und wieder neu ermutigt, gehen wir in unseren Alltag zurück.

 

Ich saß in meinem Büro und grübelte darüber nach, wie ich unsere neue Flüchtlingswohnung mit Betten und Kleiderschränke fülle, ohne alles kaufen zu müssen. Da meldeten sich zwei unbekannte Männer zum Gespräch an. Nun saßen sie mir gegenüber. „Wir haben Ihren Gemeindebrief gelesen - und ich glaube, Sie brauchen uns!“ Die Männer kamen von einem deutschen Verein, der gerade mehrere Wohngruppen aufgelöst hatte und boten mir ohne Gegenleistung das nun nicht mehr benötigte Inventar an: Etagenbetten, Bettzeug, Kleiderschränke, Tische, Stühle ….

 

Wenn wir uns nun von Marta und Maria inspirieren lassen für unser Handeln, dann dürfen wir uns getrost beide gleichermaßen zum Vorbild nehmen und von ihnen – scheinbar – Gegensätzliches lernen:

 

Marias anerkennende Liebe und Martas bekennenden Glauben,

Marias Ohnmacht und Martas Handlungsstärke,

Marias Sammlung und Martas Auseinandersetzung,

Marias Ergriffensein und Martas Begreifen wollen,

Marias Sprache der Sinne und Martas Sprache des Verstandes,

Marias Platz zu Füßen Jesu, in Demut und Verehrung, und Martas aufrechte, selbstbewusste Begegnung mit Jesus auf Augenhöhe.

Gott schenke uns die Weisheit zu erkennen, was jetzt dran ist und helfe uns, dieses dann auch zu tun.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Pfarrerin Ulrike Weber
56626 Thessaloniki / Sykies Griechenland
E-Mail: pfr.u.weber@googlemail.com

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