Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 26.02.2017

Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von Paul Kluge

Besuch ist gekommen, unerwartet, unangemeldet. Der Besucher ist gern gesehen, doch der Tagesrhythmus ist gestört, die geplante Arbeit nicht mehr zu schaffen. Etwas ratlos stehen die beiden Schwestern ihrem Gast gegenüber. Die ältere der beiden bittet ihn in die gute Stube, gibt der jüngeren ein Zeichen, mitzugehen. Die versteht sich besser auf Small Talk. „Ich komm gleich“, sagt die Ältere, und verschwindet in der Küche. Die Jüngere geht dem Besuch voran in die gute Stube und fragt nach dem Woher, dem Wohin. Der Besucher beginnt zu erzählen. Erzählt von Begegnungen mit Menschen, von Anhängern und von Gegnern und von dem, was er ihnen gesagt hat. Dazwischen ab und an Geschirrklappern aus der Küche.

Der Gast erzählt, die jüngere Schwestern lässt dann und wann ein „Hm“ hören, ein „Aha“, ein „Ach?“ Doch sie hört nicht zu, sondern ärgert sich über sich selbst und ihre Schwester: „Immer das Gleiche“, denkt sie, „meine Schwester zeigt sich mal wieder von ihrer besten Seite, und ich lass es mir gefallen. Sitze hier untätig herum, als wäre ich zu nichts nütze. Allenfalls als Deko. Und sie macht wieder einen auf tüchtige Hausfrau. Ich könnte wetten, dass sie nicht nur eine kleine Erfrischung vorbereitet, sondern auch ein tolles Essen. Und dann stehe ich wieder da als die Dumme, die Untüchtige, vielleicht sogar als die Faule. Wie lange will ich mir das eigentlich gefallen lassen!“

Die Ältere erscheint. Bringt das beste Geschirr, Tee und kalte Getränke. Sogar gebacken hat sie in der kurzen Zeit. Die Jüngere will ihr zur Hand gehen, handelt sich aber ein „Ich mach das schon, bleib du nur sitzen“ ein. Sie empfindet das als Demütigung, protestiert aber nicht. Will sich im Beisein des Gastes nicht mit ihrer älteren Schwester streiten. Weiß auch, dass sie dabei den Kürzeren ziehen würde. Dies Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Älteren macht sie noch wütender.

Die versorgt den Gast, wendet sich dann an die Jüngere: „Du nimmst dir selber, oder soll ich dir auch eingießen?“ Ohne die Antwort abzuwarten, schenkt sie der Jüngeren ein. Wieder so eine Erniedrigung. Die Jüngere könnte schreien oder heulen. Bleibt aber stumm; ist mit der Zeit abgestumpft.

„Du hast bestimmt Hunger“, stellt die Ältere gegenüber dem Gast fest, „ich mach uns schnell eine Kleinigkeit.“ Damit entschwindet sie wieder in die Küche. „Erzähl doch bitte weiter“, bittet die Jüngere den Gast. Das irritiert ihn ein wenig, und er sagt: „Es tut mir gut, dass du mir zuhörst, einfach nur zuhörst. Viele Sorgen anderer Menschen bekomme ich zu hören, Anfeindungen und Verleumdungen auch. Dass ich die mal aussprechen kann – einfach wohltuend.“

Die Jüngere schämt sich, dass sie ja gar nicht zugehört hat. Tröstet sich ein wenig damit, dass sie wenigstens den Eindruck erweckt hat. Nun will sie ihm zuhören – wer weiß, wann der Gast mal wiederkommt. Es gelingt ihr, ihren Ärger zu verdrängen, ihre Wut herunter zu schlucken. Die Erlebnisse des Gastes mit Armen und Kranken und wie er ihnen hat helfen können, fesseln sie. Das möchte sie auch können, tun können. Das würde ihr Freude bereiten, würde ihr die Bestätigung geben, die ihre Schwester ihr schon immer verweigert und sie dadurch hilflos gemacht hat.

Doch sie will sich nicht schon wieder über ihre Schwester ärgern. Sie will dem Gast zuhören. Seine Offenheit ihr gegenüber, sein Vertrauen tun ihr gut. Der Gast erzählt, die Jüngere hört mit halbem Ohr zu. Denn in der Küche klappern Schranktüren und Töpfe. Doch das Vertrauen des Gastes, seine Offenheit tun ihr so gut. Der Gast spricht mit ihr als einem gleichwertigen Menschen. Das ermöglicht ihr, ihm gegenüber Vertrauen zu haben, offen zu sein. Mehr und mehr verliert sie ihre Zurückhaltung, ihre Scheu, und bald sind sie in einem lebhaften Gespräch.

Da steckt die Ältere den Kopf durch die Tür: „Du solltest so langsam mal das Geschirr abräumen und am besten auch gleich abwaschen. Das Essen ist bald fertig!“ – „Wir unterhalten uns gerade“, sagt der Gast, „Das wird noch ein bisschen dauern.“ Etwas lauter als nötig fällt die Tür ins Schloss, und die Ältere stapft wieder in die Küche.

„Immer das Gleiche“, denkt sie, „alles bleibt an mir hängen, an alles muss ich denken, um alles mich kümmern, für alles bin ich zuständig und verantwortlich. Keine Verschnaufpause gönne ich mir. Und wer dankt es mir? Meine Schwester bestimmt nicht. Obwohl sie den größten Nutzen davon hat. Von Kind auf hab ich mich um sie gekümmert, bin wie eine Mutter für sie gewesen. An meiner Hand hat sie laufen gelernt; ich hab sie getröstet, wenn sie sich wehgetan hat; ich hab sie geschützt, wenn sie etwas Unrechtes getan hat. Und was hab ich jetzt davon? Arbeit und Ärger und eine Schwester, die nichts kann!“

Sie wendet sich wieder dem Essen zu. Töpfe und Geschirr klappern lauter als vorher. „Ich müsste ihr das alles mal sagen“, denkt sie, „aber was nützt das? Bis die eine Arbeit erledigt hat, bin ich drei Mal damit fertig. Also mache ich das doch lieber selber, das geht schneller und wird besser. Das kostet auch weniger Nerven, als ihre Hilflosigkeit, ihr Ungeschick ansehen zu müssen. Aber alles Schimpfen nützt nichts, sie lernt es einfach nicht. Im Gegenteil, sie wird immer hilfloser, ratloser. Bald sitzt sie nur noch mit den Händen im Schoß, und ich rackere mich kaputt.“

Das Essen erfordert wieder ihre Aufmerksamkeit. Es ist fast fertig, und sie stellt Schüsseln zurecht. „Wenigstens beim Auftragen könnte sie mir helfen“, denkt die Ältere und setzt sich schon in Bewegung. Kehrt aber um, denn ihr Trotz ist erwacht: Jetzt kann sie ihre kleine, dumme Schwester einmal so richtig vorführen. Und zugleich ihre eigene Tüchtigkeit unter Beweis stellen. Die Gelegenheit wird sie sich nicht entgehen lassen und das Essen ganz alleine servieren.

Ein bisschen muss sie noch warten, dann füllt sie die Schüsseln mit dampfenden, duftenden Köstlichkeiten. Sie stellt sie auf ein Tablett, balanciert damit in Richtung gute Stube und öffnet die Tür mit dem Ellenbogen. Ihre kleine Schwester sitzt versonnen und verträumt auf ihrem Platz, scheint die Ältere gar nicht zu bemerken.

„Wo ist denn …?“ stammelt die Ältere, und die Jüngere sagt: „Einen schönen Gruß soll ich dir bestellen, er musste weiter. Ich soll dir sagen, dass er gern auch mit dir gesprochen hätte, aber du hattest ja keine Zeit. Wann und ob überhaupt er wiederkommt, konnte er nicht sagen. Sagte nur: Vielleicht bin ich zum letzten Mal hier gewesen.“ Amen



Landespfarrer Paul Kluge
Leer
E-Mail: Paul-Kluge@t-online.de

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