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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 26.02.2017

Jenseits von Maria und Marta
Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von Dieter Splinter

38 Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.

 

I.

Liebe Gemeinde!

Die ganze Welt ist ein Markt mit allerlei Waren; voll von diesen, die jene Waren auch verkaufen, kaufen, schauen; aber die wenigsten von ihnen wissen das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden. Da ist bunt und durcheinander Gutes und Schlechtes, Notwendiges und Überflüssiges, Nützliches und Schädliches, Kostbares und Wertloses ausgestellt und angepriesen, verkauft und gekauft. Und was noch mehr verwunderlich und beklagenswert ist, man bringt häufiger überflüssige Dinge als nötige, häufiger schädliche als nützliche und häufiger schlechte als gute; man preist sie an, verkauft und kauft sie.“

Diese Worte klingen nach linker Konsumkritik. Sie klingen so als ob Karl Marx sie im 19. Jahrhundert geschrieben haben könnte. Doch sind sie älter, viel älter. Sie stammen aus der Feder von Johann Amos Comenius. Er hat sie 1668, zwei Jahre vor seinem Tod, an den Kurfürsten der Pfalz geschrieben. Comenius wurde 1592 in Nivnice (Mähren) geboren. Er war einer der führenden Theologen und Pädagogen seiner Zeit – und der letzte Bischof der Böhmischen Brüder. Im Zuge des 30jährigen Krieges mussten die Böhmischen Brüder Böhmen verlassen. Comenius musste immer wieder fliehen und weiterziehen. Trotzdem wurde er zu einem überaus angesehenen Gelehrten. Die letzten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte er in Amsterdam. Dort starb er 1670.

Die vorhin zitierten Worte fanden Eingang in eines seiner zahlreichen Bücher: „Unum Necessarium“. Das einzig Notwendige. Comenius hat den Titel dieses Buches der Geschichte von Maria und Marta entnommen: „Eins aber ist not.“ übersetzt Luther die entsprechende Stelle. „Unum Necessarium“ - Comenius meint darin: An der Geschichte von Maria und Marta lassen sich die Maßstäbe gewinnen, um das Nötige vom Unnötigen zu unterscheiden. Diese Maßstäbe erwachsen aus der Begegnung mit Jesus Christus.

 

II.

Diesem Zugang zur Geschichte von Maria und Marta will ich folgen. Wahrscheinlich ist das ein eher männlicher Zugang: Nach den Maßstäben für die Unterscheidung zwischen dem Nötigen und dem Unnötigen zu fragen. Frauen jedenfalls nähern sich der Geschichte von Maria und Marta häufig anders. Stellvertretend sei diese weibliche Stimme zitiert:

Marta – die tagein, tagaus schuftende Hausfrau ohne Entlohnung und Wertschätzung! Welche Frau trägt nicht ihre Geschichte in sich und trägt sie weiter? Bitterkeit und Zorn werden wach, wenn sich Frauen an Generationen von Martha-Müttern, -Ehefrauen und -Frauen erinnern. Sicher, mit unserem Wissen haben wir Martha inzwischen zur Würde und Achtung der Herrin in ihrem Haus verholfen. Doch die generationenlange Abstufung in die abgekanzelte bürgerliche Hausfrauenpraxis sitzt in den Knochen, ist vielfach noch gesellschaftliche Realität. …

Sicher, wir haben Jesus aus dem Bild eines patriarchalischen, abkanzelnden Richters befreit und die Gleichsetzung von Jesus – Mann – Beurteiler gelöst; und auch die stillschweigend dieses Bild unterstützende Maria schweigt nicht mehr. Aber ihre lange Geschichte sitzt noch in uns.Wir können gar nicht umhin, immer wieder zu entdecken, wie sehr sie uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie langsam sich unser Fühlen und Handeln ändert im Vergleich zu unserem Wissen.“1

Diese weibliche Stimme, die ich hier zitiert habe, hat sich so vor gut 25 Jahren geäußert. Noch heute werden viele Frauen feststellen, dass ihr Fühlen und Handeln ihrem Wissen hinterherlaufen. Alleinerziehende Mütter zumal wissen davon ein trauriges Lied zu singen. Und auch in den Vorständen großer Firmen in unserem Land sind Frauen eher selten zu finden. Gleichwohl hat sich in den letzten 25 Jahren viel getan, wenn es um die Gleichberechtigung von Männern und Frauen geht. Gerade in den evangelischen Kirchen Deutschlands ist das festzustellen. Wohl gibt es nur eine Landesbischöfin (Frau Junkermann in der EKM), dafür aber zahlreiche Regionalbischöfinnen und Oberkirchenrätinnen. Und selbstverständlich viele Pfarrerinnen oder Prädikantinnen – Frauen, die das Wort Gottes ehrenamtlich verkündigen. Die Frauen schweigen schon längst nicht mehr in den Gemeinden. Und das ist gut so! Und wenn Frauen auf der Kanzel stehen, sitzen Männer ihnen zu Füßen und hören ihnen zu. Zudem wären in vielen Gemeinden Vieles ohne die tüchtigen Martas nicht mehr, oder kaum mehr möglich. So verwundert es kaum, dass in den meisten evangelischen Landeskirchen in den Leitungsgremien der Gemeinden mehr Frau als Männer sitzen. Manche fragen sich inzwischen, wo denn Markus und Maximilian, wo denn die Männer in der evangelischen Kirche geblieben sind.

 

III.

Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen mag in der evangelischen Kirche große Fortschritte gemacht haben. Wenn es um die Geschichte von Maria und Marta geht, gibt es immer noch Vorbehalte. Manchen von Ihnen wird der „Bibliolog“ vertraut sein – oder Sie werden schon einmal davon gehört haben. Unter „Bibliolog“ versteht man das Angebot, in einer Gruppe beim Erarbeiten einer biblischen Geschichte sich in die in dieser Geschichte vorkommenden Personen hinein zu versetzen. Wenn Frauen sich auf diese Weise der Geschichte von Maria und Marta nähern, identifizieren sich viele Frauen mit Marta. Das mag damit zusammenhängen, dass etliche Frauen in der Rolle der Marta immer noch ihre eigene Benachteiligung entdecken. Oder einen Schwesternkonflikt in ihrer eigenen Biographie in der Geschichte von Maria und Marta dargestellt sehen: Wenn man zum Beispiel selber die ältere Schwester war und überall anpacken musste, während die jüngere Schwester in der Familie immer geschont wurde. Dass viele Frauen sich in einem „Biblolog“ eher mit Marta als mit Maria identifizieren, hat für mich aber vor allem diesen Grund: Die Antwort Jesu an Marta wird als eine ungerechte Zurücksetzung empfunden. Das aber passt nicht zum Bild vom gütigen Jesus.

Früh schon hat man darum in der Kirche versucht, die Gegensätze zwischen Maria und Marta zu harmonisieren. Darin ist dann Maria das Sinnbild für die kontemplative, die nachdenkliche Seite des Christenlebens: Marta hingegen steht für die aktive, handelnde Seite eines Christenmenschen. Und beide gehören selbstverständlich zusammen. Das mag alles richtig sein. Doch gibt es auch andernorts in der Bibel Geschichten, die erst einmal die Aussage nahelegen: Ungerecht! Ungerecht! So etwa im bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der kommt, nachdem er sein Erbe verprasst hat, nach Hause. Doch der Vater nimmt ihn wieder auf, feiert sogar ein Fest. Dem anderen Bruder, der zu Hause blieb und sich immer redlich verhalten hat, wird diese Ehre nicht zuteil. Ist das nicht ungerecht?Oder das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Da bekommen die, die später anfangen, denselben Lohn wie jene, die den ganzen Tag geschuftet haben. Ist das nicht ungerecht? Und schließlich Marta: Was, wenn Jesus nicht bloß allein, sondern mit seinen zwölf Jüngern in ihrem Haus eingekehrt ist und sie nun die einzige ist, die sich um alle zu kümmern hat? Warum hilft ihr die Schwester nicht? Auch hier stellt sich die Frage, ob das gerecht ist.

Was aber, wenn diese Geschichten so gemeint sind, wie sie dastehen? Und es in ihnen nicht vordringlich um die Frage von gerecht oder ungerecht geht, sondern um etwas ganz anderes: nämlich um die Frage nach den Maßstäben für das, was in bestimmten Situationen nötiger zu tun oder zu sagen ist als anderes? „Eins aber ist not.“ Das unbedingt Notwendige! Aber was ist das?

 

IV.

Die ganze Welt ist ein Markt mit allerlei Waren; voll von diesen, die jene Waren auch verkaufen, kaufen, schauen; aber die wenigsten von ihnen wissen das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden.“ Das hat Comenius vor fast 350 Jahren geschrieben. Es gilt noch heute; ja, sogar noch weit mehr als zur Zeit des Comenius. Das Warenangebot ist heutzutage hierzulande vielfältig und unübersichtlich. Zugleich erhöht sich die Wahlfreiheit, die allerdings vom Umfang des eigenen Geldbeutels begrenzt wird. Das Warenangebot und der Zwang zur Wahl ist zugleich ein Sinnbild für die Welt, in der wir leben. Welcher Weltanschauung soll ich folgen? Welche Politik vertreten? Also immer wieder die Frage: Welche Wahl soll ich treffen? Wie soll ich mich entscheiden?

Marta fordert Jesus auf, Maria zu sagen, sie möge ihr gefälligst helfen. Jesus entgegnet: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ Jesus erkennt das Anliegen der Marta an: „Du hast viel Sorge und Mühe.“ Zugleich besteht er darauf, dass Maria die für sie richtige Wahl getroffen hat. Sie hat das Hören auf Jesu Rede dem Tischdienst vorgezogen. Der Konflikt wird nicht ausgeräumt. Jesus lässt die Gegensätze stehen. Banal aber wahr: Was gut ist für die eine Schwester muss noch lange nicht gut für die andere Schwester sein.

Kluge Frauen, die sich mit der Geschichte von Maria und Marta besonders beschäftigt haben, sind auf die Ursache dieses Konflikts gestoßen: Maria sitzt Jesus zu Füßen. Das entspricht der Haltung, die im Judentum der damaligen Zeit Schüler bei ihrem Lehrer, dem Rabbi, eingenommen haben. Schüler konnten aber nur Männer sein. Maria nimmt also eine neue Rolle in Anspruch. Marta möchte, dass Maria bei ihrer angestammten Rolle als Frau bleibt und ihr zur Hand geht. Das beschwört einen Konflikt herauf. Doch ohne Konflikte sind Veränderung und Befreiung offenbar nicht zu haben.

Diese Konflikte spielen im Neuen Testament immer dann eine Rolle, wenn es um die Frage geht, wem in welcher Situation zu helfen ist. Wer oder was hat Vorrang? „Eins aber ist not.“ Was aber ist das?

Der barmherzigen Samariter hilft selbstverständlich dem unter die Räuber Gefallenen. Am Sabbat heilt Jesus den Kranken. Not kennt zwar auch das Gebot, doch die Beseitigung der Not kommt vor dem Gebot. Als der verlorene Sohn nach Hause kommt, feiert der Vater ein Fest. Dem Sohn, der zu Hause bleibt und sich darüber beschwert, sagt der Vater: Vergebung ist wichtiger als Geld! Und bei den Arbeitern im Weinberg bekommen die Tagelöhner, die später anfangen deshalb den gleichen Lohn, weil sonst ihre Familien abends hungrig zu Bett gehen müssten. Wer aus welchen Gründen auch immer nicht genug arbeiten kann, muss trotzdem leben können. Und schließlich Maria. Ohne die Rolle Martas als Herrin des Hauses und als Gastgeberin zu schmälern, ermuntert Jesus Maria das zu ändern, worunter sie leidet – vom Lernen ausgeschlossen zu sein. Allen, die das Leben menschenwürdiger gestalten wollen und dabei in Konflikte verstrickt werden, sei darum der Satz ins Stammbuch geschrieben, den Jesus einst zur Situation der Maria sagte: „Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Amen.

 

1So Heidemarie Langer, in: Estomihi(Sonntag vor der Passionszeit), Lukas 10, 38-42: Maria und Martha: eine Geschichte – ein Traum; Predigtstudien für das Kalenderjahr 1992/1993, Perikopenreihe III – erster Halbband, hrsg. Von Peter Krusche et al., Stuttgart 1992, S. 179.



Pfarrer Dr. Dieter Splinter
Freiburg i.Br.
E-Mail: dieter.splinter@ekiba.de

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