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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 01.01.2008

Predigt zu Philipper 4:10-13, verfasst von Wolfgang Vögele

Gotteslob aus dem Gefängnis

„Ich bin aber hoch erfreut in dem Herrn, daß ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat's nicht zugelassen. Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluß haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht." (Phil 4,10-13)

 

Liebe Gemeinde,

Jetzt geht's los, das neue Jahr.
Vielleicht sind Sie noch müde von der langen Silvesternacht und Ihnen dröhnen die Ohren von bunten Raketen und explodierenden Knallern. Sie haben sich den tiefen Schlaf aus den Augen gerieben und sind neugierig in den Gottesdienst gekommen.
Jetzt geht's los, das neue Jahr.
Es beginnt das neues Jahr, das zweitausendundachte nach Christi Geburt.
Wir lassen ein altes Jahr hinter uns und wagen neue Anfänge, ganz unterschiedliche. Neujahr heißt neu anfangen.
Schlechte Gewohnheiten aufgeben.
Gute Vorsätze fassen.
Weniger Fernsehen, um die Zeit tot zu schlagen.
Mehr Sport im Park für die vom Weihnachtsessen gequälte Gesundheit.
Weniger Schokolade auf der Couch.
Mehr freie, verfügbare Zeit für die Familie.
Weniger Gaspedal beim Autofahren.
Mehr Fahrrad zum Brötchenholen.
Weniger Fahrstuhl.
Mehr Treppenhaus.

Gute Vorsätze können schützende Leitplanken sein, die den Neujahrsanfänger sicher auf eine gesunde und kommunikative Lebensbahn hinaus geleiten. Gute Vorsätze können aber auch den Weg zum Neuanfang verstellen.

Der italienische Schriftsteller und Lyriker Cesare Pavese hat einmal geschrieben: „Die einzige Freude auf der Welt ist: anfangen. Es ist schön zu leben, weil Leben anfangen ist, immer in jedem Augenblick. Wenn dieses Gefühl fehlt - Gefängnis, Krankheit, Gewohnheit, Dummheit - möchte man sterben."

Neujahr bedeutet kleine und große Anfänge, in den Himmel steigende Hoffnungen, Mut zur Offenheit, unverplante Zukunft, weite Zeiträume, die sorgfältig zu gestalten und zu durchleben sind.

Mich wundert die Sicherheit, mit der Pavese behauptet, im Gefängnis fehle das Gefühl neu anzufangen. Denn das, was Paulus im Predigttext des Philipperbriefs schreibt, hat er aus verzweifelter Gefangenschaft heraus geschrieben. Nun muß man sich Gefangenschaft in einer kleinasiatischen Stadt im 1.Jahrhundert nach Christus sicher anders vorstellen als den längeren Aufenthalt in einer deutschen Justizvollzugsanstalt im 21.Jahrhundert.

Dennoch kann man sagen: Gerade in der Beschränkung und Begrenzung der Gefangenschaft kann man mit Paulus anfangen lernen. Mit dem Anfang des gefangenen Paulus verbinden sich Freude, Geduld und eine durch nichts zu trübende Gewißheit.

Sie alle haben im letzten Jahr in den Nachrichten einiges über die Geschichte von Marco W. aus Uelzen gehört. Im Urlaub in der Türkei wurde er wegen sexueller Nötigung verhaftet und saß dann monatelang in türkischer Untersuchungshaft. Im Dezember kam er dann nach vielen Protesten überraschend frei.

Die Medien stürzten sich auf ihn, und er erzählte exklusiv wie es ihm im türkischen Gefängnis ergangen war: „Die ersten Monate waren schwerer, wenn man gar nicht weiß, warum das alles so abläuft. Am Anfang stellt man sich jede Minute die Frage: ,Warum? Warum ist das so passiert?‘ Nach fünf Monaten fragt man nicht mehr, ,Warum?‘, sondern ,Wozu?‘. Man hat sehr viel Zeit zum Überlegen und kann über die Zukunft nachdenken, was man im Alter von 17 eigentlich noch gar nicht so macht. Man fragt sich, was lerne ich daraus, was kann ich daraus mitnehmen. Man denkt anders. Jetzt überlegt man auch immer die Hintergründe." So weit Marco W.

In trockenen, nüchternen Worten nimmt Marco auf, was er gelernt hat. Er hat gelernt, nicht über die Vergangenheit zu grübeln, sondern in die Zukunft zu blicken. Die Frage nach dem Warum verwandelt sich in die Frage nach dem Wozu. Bei Paulus ist diese Frage nach der Zukunft nicht so deutlich zu spüren. Er scheint eher zu sagen: Ob es mir gut geht oder schlecht, ob ich gefangen bin oder mich in Freiheit bewege, ich habe gelernt, das alles in Geduld und Gelassenheit zu ertragen. Mich kann nichts mehr schrecken. „Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluß haben und Mangel leiden (...)." Da spricht im Gegensatz zum sehr jungen Marco der ältere Mann, der sich getragen weiß von Jahrzehnten der Lebenserfahrung, klug geworden aus Niederlagen, Rückschlägen und seltenen Erfolgen. Er weiß, worauf er sich verlassen kann. Es ist gut, mit dem gefangenen Paulus in ein neues Jahr zu blicken und seine geduldige Weisheit auf die nächsten 365 Tage anzuwenden.

Niemand von uns weiß, was das neue Jahr bringen wird: Gesundheit oder eine schwere Erkrankung, Arbeit oder Arbeitslosigkeit, freudige Überraschungen und bittere Katastrophen. Der gefangene Paulus ermuntert uns zu Demut und Gelassenheit: Laßt euch nicht schrecken! Seid geduldig! Ihr habt schon viel Schlimmeres ertragen!

Für Marco ersetzte die Planung der Zukunft das Grübeln über die Vergangenheit: also Zukunftswerkstatt statt Jahresrückblick. Bei Paulus fließen Vergangenheit und Zukunft ineinander: Auch am Ende des Jahres 2008 wird der Jahresrückblick keine anderen Erfahrungen erbringen als 2007, 2006, 2005.

Ich will noch eine weitere Gefängniserfahrung in diese Predigt einschalten. Von der Politikerin und Arbeiterführerin Rosa Luxemburg ist ein Brief erhalten. Diesen Brief schrieb sie aus dem Gefängnis an Karl Liebknecht. Ich möchte daraus zitieren, nicht wegen der politischen Einstellung, sondern wegen der schön formulierten Sehnsucht, die daraus spricht: „Da liege ich still, allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters. Und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln des Lebens, wie wenn ich irgendein zauberndes Geheimnis wüßte, das alles Böse und Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück verwandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muß wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst. Die tiefe, nächtliche Finsternis ist so weich wie Samt, wenn man nur richtig schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben, wenn man nur richtig zu hören weiß. "

Schön gesagt ist das. Aus der engen und vergitterten Gefängniszelle schweifen die Gedanken Luxemburgs heraus und finden zwanglos zu dem, was man theologisch das Geheimnis des Lebens nennen könnte. Das Geheimnis hat zu tun mit Tiefe, mit Innerlichkeit, mit einer sehnsüchtig empfundenen Freude, die sich plötzlich aus beschwerend empfundener Langeweile und Finsternis herauswickelt.

Auch dafür läßt sich eine Parallele bei Paulus finden: Das Geheimnis des Lebens, von dem Rosa Luxemburg gesprochen hatte, verdichtet sich bei Paulus zu einem einzigen Satz: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht." Das ist der Spitzensatz, zu dem sich Paulus durch seine Gefängniserfahrungen hinschreibt. Unbeirrbar sagt er: Egal was mir geschehen ist, Gutes oder Schlechtes, ich habe die Erfahrung gemacht. Gott ist größer und mächtiger als das Schicksal, als all das Gute und Schlechte, was mir zugestoßen ist. Nicht meine Erfahrungen und Erlebnisse bestimmen den Sinn meines Lebens. Gott bestimmt den Sinn meines Lebens. Er gibt mir diesen Sinn. Über dem Leben und jenseits des Lebens steht dieser allmächtige und segensreiche Gott, der größer und mächtiger ist als das Schicksal. Zu ihm kann ich Vertrauen haben, ganz gleich was mir geschieht oder passiert.

„Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht." Das ist der Gipfel. Und wer mit Hilfe dieses Gipfelsatzes das neue Jahr betrachtet, der gewinnt die Ruhe, die Geduld und die Gelassenheit, nach der sich alle sehnen. Wer diesen Satz zum ersten Mal und die Hintergründe nicht kennt, dem mag das überheblich und fast angeberisch erscheinen. Aber so meint es Paulus nicht. Er will nicht angeben, und er will sich nicht aufspielen. Er schöpft aus seinen Gefängniserfahrungen die Erkenntnis: Heil oder Unheil entscheidet sich nicht daran, wie es mir im Leben ergeht.

Es ist nicht so, daß Gott die Reichen glücklich macht und die Armen noch bestraft. Der soziale Status, den ich mir zugelegt habe, entscheidet nicht über mein Ansehen bei Gott - ganz im Gegenteil. Paulus hat eingesehen, daß es ein Fehler wäre, aus dem, was einer erlebt, erleidet, aus seinem Erfolg oder Mißerfolg auf Gottes Beistand oder Abstand zu schließen.

Gott wendet sich gerade den Schwachen, den Armen, den Gescheiterten, den Benachteiligten zu. Gottes Barmherzigkeit und Gnade zeigen sich daran, wie er das kleine Kind in der Krippe segnend begleitet. Und das hat Paulus auch verstanden: An Jesus Christus, dem Kind in der Krippe, sehen wir, was Gott barmherzig mit den Menschen vorhat. In der schutzbedürftigen Ohnmacht des Kindes finden wir die Allmacht Gottes, die nichts anderes ist als seine Barmherzigkeit. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht."

Gut, diese Gefängnissätze am Anfang eines neuen Jahres zu hören. Gut, über diese Weisheiten aus dem Gefängnis nüchtern nachzudenken. Die Enge der Gefängniszelle weitet sich bei Paulus zum Lobe des allmächtigen und barmherzigen Gottes. So gestärkt, gehen wir getröstet und geduldig ins neue Jahr.

Amen.

 

EG 37,1-4 Ich steh an deiner Krippen hier; EG 58,1-7 Nun laßt uns gehn und treten; EG 64,1.4-6 Der du die Zeit in Händen hast.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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