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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Palmarum, 09.04.2017

Er war dabei
Predigt zu Markus 14:3-9, verfasst von Sven Keppler

Er war dabei

 

Nach unzählbaren Toden,

durch brutalste Barbarei,

schrei’n die Worte durch den Boden:

Er war dabei! Er war dabei!

 

Er war eines von den Kindern,

liquidiert im letzten Schrei,

dieser Wahn war nicht zu lindern –

doch da war er auch dabei.

 

Zwischen vielen in den Booten,

auf der Flucht vor Tyrannei,

unter all den ungezählten Toten,

war er auch dabei!

 

Er leidet, wir versagen –

sein Kreuz – so lange schon vorbei,

bei Millionen, die danach erlagen,

war er immer auch dabei!

 

Mit! – nicht Gegen! – heißt die Religion,

doch wie sie heißt, ist einerlei

ein Vater opfert seinen Sohn –

wie lange noch bleibt es dabei?

 

Wie soll’n wir unser Leben leben,

in der ganzen Raserei –

ist es uns möglich zu vergeben?

Wer ist dabei?

 

(Hartwig Kuhn, in: ders., Gedanken fassen. Fotolyrik, Versmold 2017)

 

–––––––––––––––––––

I. Vor unserem Nachbarhaus steht eine große Mulde. Voll mit Bauschutt und Müll. Das alte Fachwerkhaus steht leer. Es wird gerade renoviert. Neulich abends sehe ich an der Mulde drei Jugendliche. Einer hat einen Werbekatalog zerrissen. Die Seiten liegen auf dem Boden, er ist gerade dabei, sie anzuzünden. Die anderen stehen neben ihm und feixen. Sie wollen die Mulde zum Brennen bringen. Wenige Meter neben dem denkmalgeschützten Fachwerkhaus.

Als ich sie ansprechen, zucken sie zusammen. „Denkt Ihr, das ist eine gute Idee, die Mulde anzuzünden?“ „Nein,“ antworten sie. „Und was soll das dann?“ „Ich war’s nicht!“ sagt der Erste. „Ich auch nicht!“ der Zweite. „Ich war’s auch nicht!“ meint sogar der mit dem Feuerzeug in der Hand. „Ja, ja,“ spottet der Erste. „Aber sie war’n dabei!“ zischt der mit dem Feuerzeug. „Und er auch!“, geben die anderen zurück, „und er hat Schuld!“

Er war dabei!“ Das hat mit Schuld zu tun. Eine Anklage. Ein Schuldspruch. Mindestens eine Mitschuld. Wer dabei war, kann seine Hände nicht in Unschuld waschen. Und vielleicht war er sogar der Hauptschuldige. Der eigentliche Urheber.

 

II. In der ersten Strophe von Hartwig Kuhns Gedicht höre ich zunächst auch diesen Vorwurf. Diese Anklage: „Er war dabei! Er war dabei!“ Unzählbare Tode, durch brutalste Barbarei. In Kriegen. Raubzügen. In all dem Horror, den Menschen einander schaffen. Aus den Gräbern ruft es: „Er war dabei!“

Ich höre darin eine Anklage Gottes. Er ist dieser er. Gott war dabei! Er hat all das zugelassen. Wie konnte er das nur? Wenn er doch allmächtig ist. Wenn er doch angeblich so liebevoll ist. Wie kann er all das immer wieder zulassen?

Viele sind an dieser Frage irre geworden. Viele haben an der so genannten Theodizee-Frage ihren Glauben verloren. Manche benutzen die Frage auch, um ihre Gleichgültigkeit gegenüber Gott zu entschuldigen. Aber für viele ist es eine echte, bohrende Frage. Auf die sie keine Antwort finden. „Wie kann Gott bei alldem dabei sein? Ohne es zu verhindern?“ Dahinter steht die Voraussetzung: Obwohl er es doch könnte – wenn es ihn überhaupt gibt.

 

III. Liebe Gemeinde, es gibt keinen besseren Zeitpunkt als heute, um über diese Frage nachzudenken. Am Palmsonntag, zu Beginn der Karwoche. Ich möchte Sie einladen, einen gedanklichen Weg mit mir zu gehen. Das Gedicht von Hartwig Kuhn soll uns dabei begleiten. Und der heutige Predigttext. Er steht im Evangelium nach Markus, im 14. Kapitel. Ich lese die Verse 3-9.

Was soll diese Vergeudung?“ Dreihundert Silbergroschen, also 1,2 Kilogramm Silber. Heute 660 Euro wert. Einfach vergossen. Was hätte man damit Gutes tun können?! Eine verständliche Frage. Mir kam sie zuletzt, als ich am Aschermittwoch in Rom war und die Pracht der dortigen Kirchen sah. Wie passt das eigentlich zu unserem Evangelium? Was hätte man mit all dem Marmor und Gold erreichen können, wenn man es für die Armen verkauft hätte! Auch der Papst fragt heute so.

Da ist sie wieder, diese Frage: Wo ist Gott eigentlich, wenn Menschen leiden? Sitzt er auf einem prunkvollen himmlischen Thron und lässt sich von den Engeln huldigen? Lässt er sich sozusagen von ihrem Gesang wie mit Nardenöl übergießen? Ergötzt er sich am Anblick barocker Kirchen? Und vergisst dabei das Leid seiner Geschöpfe?

Hat Jesus sich königlich salben lassen? So wie er beim Einzug in Jerusalem als König ausgerufen wurde, am Palmsonntag? Ist auch er den Versuchungen der Macht erlegen, dem königlichen Luxus? Und hat die Armen darüber vergessen? War er dabei, und hat eben auch nichts getan?

Ja, Jesus hat sich salben lassen. Er hat die Frau in Schutz genommen, die das kostbare Öl über ihn goss. Aber er hat die Salbung anders gedeutet. Er sagt: Die Frau hat im Voraus meinen Leichnam gesalbt! Sie hat das getan, was auch die Marias am Ostermorgen vorhatten. Aber die kamen zu spät, das Grab war leer. Die Frau mit dem Nardenöl war rechtzeitig bei Jesus.

Die Botschaft ist klar: Jesus hat die Armen nicht vergessen. Er war solidarisch mit ihnen. Er ist der Ärmste geworden. Nicht nur während seiner Wanderung durchs Land, als Obdachloser. Sondern als geschmähter, verspotteter Ausgestoßener. Als Hingerichteter am Kreuz. So war er dabei. Das ist seine paradoxe Königswürde: Seine Königssalbung ist eine Totensalbung.

 

IV. Jesus war dabei. Mit den Worten von Hartwig Kuhn: Er war eines von den Kindern, liquidiert im letzten Schrei. Er war nicht nur unsichtbar dabei. Geheimnisvoll abwesend anwesend. Und das Unglück zulassend, obwohl er es allmächtig hätte verhindern können.

Sondern er war selbst ein vergastes Kind in Auschwitz. Selbst ein vor den Napalmwolken flüchtendes Mädchen in Vietnam. Selbst eines der Ungeborenen, das die perversen Halbstarken des IS in ihrem teuflischen Blutrausch aus den aufgeschlitzten Mütterleibern gerissen haben.

So, wie er es selbst im Gleichnis gesagt hat: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.

Er selbst ist ein Bootsflüchtling im Mittelmeer. Seine Kreuzigung endet nicht um 15 Uhr am Karfreitag des Jahres 30. So, wie Hartwig Kuhn es sagt: sein Kreuz – so lange schon vorbei, bei Millionen, die danach erlagen, war er immer auch dabei!

Und dann kommt im Gedicht dieser eine Vers, der alles auf den Punkt bringt. Ein Satz, scheinbar so einfach. In dem jedoch der tiefe Kern unseres Glaubens ruht: Mit! – nicht Gegen! – heißt die Religion. Für diesen Satz bin ich Hartwig Kuhn sehr dankbar. Der Satz hat eine menschliche Seite: Wahre Religion ruft zum Miteinander auf, nicht zum Gegeneinander.

Und diesem Satz liegt noch eine viel tiefere Erkenntnis zugrunde. Unser Gott ist ein Gott des Mit. Nicht des Gegen. Immanuel heißt er, Gott mit uns. Nicht Alnuel, Gott gegen uns. Wenn wir leiden, ist Gott mit uns. Wenn wir zum Opfer werden, ist Gott mit uns. Und wenn wir sterben, ist er auch mit uns. Er ist immer auch dabei.

 

V. Jetzt könnte man sagen: Ja, das gilt für Jesus. Für den Menschgewordenen. Für den Sohn, in dem Gott sich erniedrigt hat. Der seine Macht aufgegeben hat und mit uns gelitten hat. Er ist unser Bruder, ist mit uns immer dabei.

Aber gilt das auch für den Vater? Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Treffen den Vater nicht doch all die Fragen: Wo ist er in seiner Allmacht, wenn Menschen zu Opfern werden?

Liebe Gemeinde, hier sind wir in einen Bereich vorgedrungen, in dem es keine einfachen Antworten geben kann. Keine klaren, eindeutigen Aussagen. Sondern nur vorsichtiges Tasten. Wer darf sich anmaßen zu sagen: So ist unser Vater, und so auf keinen Fall? Wir sollten nicht versuchen, das Geheimnis Gottes anzurühren.

Und dennoch gibt es einen Weg, wie wir den Vater erkennen können. Im Evangelium nach Johannes ist überliefert, dass Jesus sagt: „Wer mich sieht, der sieht den Vater!“ Und: „Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ Das sagt Jesus, als er von seinem Tod redet.

Liebe Gemeinde, ich möchte hier einen Schritt wagen, der in der Theologie selten getan wird. Könnte es nicht sein, dass wir auch im Leiden des Sohnes etwas von seinem Vater sehen? Dass die Solidarität des Sohnes mit den Leidenden auch die seines Vaters ist? Dass nicht nur der Sohn sich ausgeliefert hat, sondern auch der Vater?

Ist das denkbar: Der Vater, der Schöpfer der Welt, ist vielleicht nicht der steuernde Herrscher des Alls, der alles in der Hand hat? Er steht vielleicht gar nicht hinter einem Schicksal, das die einen schuldlos leiden lässt und die anderen grausam triumphieren.

Hat sich unser Schöpfergott vielleicht auf einen genauso ungeschützten Weg begeben wie sein Sohn? Die Allgewalt aus der Hand gegeben. Sich der Schöpfung ausgesetzt. Solidarisch mit ihr im Leiden. Trauernd mit den Opfern. Auf einem Weg durch den Tod hindurch in die Heilwerdung der Schöpfung hinein.

Der Vater, unser Schöpfergott, wäre dann wie sein Sohn eindeutig auf der Seite der leidenden Geschöpfe. Mit ihnen auf dem Weg. Ein Freund und Anwalt des Lebens. Ein Kämpfer für die Gerechtigkeit. Ein Gott auf dem Weg, hin zu einer geheilten Schöpfung. Ein gerade auf diese Weise starker Gott, neben dem wir uns gesichert fühlen dürfen auf dem Weg.

Und eben keiner, der seine Stärke darin zeigt, dass er diese Welt auf unbegreifliche Weise grausam regiert. Kein Gott, der ungerührt auf seinem Herrscherthron sitzt und sich vom Nardenöl der Engelschöre die Ohren einsalben lässt. Sondern einer, der genau hinhört. Der mitten in der Schöpfung, mitten in ihrem Leid mit ihr auf dem Weg ist. Der all seine Macht einsetzt, um seine Schöpfung zurecht zubringen. Als ein Arbeiter, der mitten im Werk steht. Der nicht fädenziehend darüber thront.

Nicht: Ein Vater opfert seinen Sohn. Sondern: Der Vater ist bei seinem Sohn, der zum Opfer wurde. Er duldet das Leid nicht einfach im Sinne von: Er lässt es zu. Sondern auch der Vater muss es erdulden. Der Vater, der den Tod seines Sohnes erleiden muss.

 

VI. Liebe Gemeinde, solche Dinge kann ich nur tastend fragen. Am Ende seines Gedichtes fragt auch Hartwig Kuhn: Ist es uns möglich zu vergeben? Wer ist dabei? Es klingt wie eine Aufforderung: Wer macht mit? Wer ist dabei, wenn es gilt, zu vergeben?!

Ich für mich kann nur sagen: Mir fällt es leichter, zu vergeben, wenn Gott an meiner Seite ist. Der Sohn. Und auch der Vater. Amen.



Pfarrer Dr. Sven Keppler
Versmold
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

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