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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 14.04.2017

Du stellst meine Füße auf weiten Raum!
Predigt zu Lukas 23:33-49, verfasst von Gert-Axel Reuß

Liebe Gemeinde,

die Bäume blühen. Die Vögel zwitschern. Die Tage werden länger. Der Frühling kommt mit Macht. Wir gehen auf Ostern zu. Das alles ist verständlich. Nach dem Winter sehnen wir uns nach der Wärme der Sonne, nach ihrem Licht, und freuen uns daran.

Mancher ist in den Osterurlaub gefahren. Kraft schöpfen für die Aufgaben, die vor einem liegen. Oder einfach etwas entspannen, die Seele baumeln lassen.

Das alles ist nur zu verständlich. Aber da ist noch etwas anderes. In dieses Aufatmen schiebt sich sperrig und kantig, fast wie ein Fremdkörper, dieser Tag hinein, dieser Karfreitag: der Tag, auf dem der dunkle Schatten von Golgatha liegt.

 

Warum musste Jesus sterben?

Wir können diese Frage natürlich beiseite schieben. Als eine dieser Fragen, die zu nichts führen.

Jesus ist am Kreuz gestorben. So ist es gewesen. Eine Tragödie. Ein Unglück. Natürlich hoffen wir, dass wir von einem solchen Schicksal verschont bleiben. (Und unsere Chancen stehen nicht schlecht, in diesem Teil der Welt, dass wir von einem solchen Schicksal verschont bleiben.)

Aber irgendwann begegnet sie uns wieder, diese Frage: Wie kann Gott das zulassen? Dass Kinder in Syrien durch einen Giftgasangriff sterben. Dass ein LKW in Stockholm in eine Menschenmenge rast, um möglichst viele in den Tod zu reißen. Warum?

Der Karfreitag ist ein Tag, an dem wir solche Fragen nicht einfach wegschieben können.

Ein Tag, an dem wir nicht einfach wegschauen können, sondern dem Dunklen standhalten wollen. Ihm gedanklich und glaubend begegnen – nicht aus der Perspektive unbeteiligter Zuschauer, sondern als Menschen, denen das Schicksal anderer nicht gleichgültig ist. Als Menschen auch, die möglicherweise selbst ein Unglück erfahren haben: den Tod eines geliebten Menschen, eine lebensbedrohende Krankheit, den Verlust des Arbeitsplatzes und große Sorgen um die Zukunft.

 

Der Karfreitag ist kein Tag wie die anderen.

Weil wir – wenn wir nicht wegschauen, nicht verdrängen, nicht vergessen – erkennen, wie bedürftig wir sind: angewiesen auf Trost und Liebe. Angewiesen auf Zeichen der Hoffnung, auf die Stärkung unseres Glaubens. Denn alleine schaffen wir es nicht. Auch wenn wir das gute Ende – Ostern – kennen, glauben, hoffen.

Alleine schaffen wir es nicht. Aber: wir stehen auch nicht alleine unter diesem Kreuz! Das ist die Botschaft des Lukas. Deutlicher als die anderen Evangelisten malt er uns ein Bild, das nicht nur den Todeskampf Jesu in den Blick nimmt.

Etwas zugespitzt könnte man sagen: Lukas ist der Evangelist der Schaulustigen. Aber das wäre ungerecht, denn hier geht es nicht um die Gaffer, die die Bemühungen der Lebensretter behindern. Die Kreuzigung war eine Machtdemonstration der römischen Besatzungsmacht mit dem Ziel der größtmöglichen Einschüchterung: ‚Wenn ihr euch unseren Anordnungen entgegenstellt, dann wird es euch genauso ergehen!‘

Deshalb wurde der Verurteilte in aller Öffentlichkeit so grausam zugerichtet. Damit alle es sehen konnten, sehen mussten.

„Und alles Volk stand da und sah zu.“ (V. 35) berichtet Lukas.

Was auf den ersten Blick wie eine Randnotiz erscheint, stellt sich bei genauerer Betrachtung als eine Aufforderung des Evangelisten heraus: „Seht nicht weg! Seht nicht weg, als ginge euch das alles gar nichts an! Was hier geschieht, ist die Antwort auf all eure Fragen. Was hier geschieht, ist der Schlüssel zu euer Rettung!“

Jemand hat einmal bemerkt, dass alle Figuren unter dem Kreuz nicht nur für sich selbst dort stehen, sondern dass sie sozusagen Repräsentanten der Menschheit sind. Stellvertreter auch für uns Heutige.

[Das zentrale Bild im Apostelaltar des Ratzeburger Doms ist eine Art „Wimmelbild“. Es enthält in den vier Szenen der Passions- und Ostergeschichte, die dargestellt werden, insgesamt 54 Figuren.]

Zu anderen Zeiten hatten die Menschen keine Hemmungen, sich selbst in die Kreuzigungsszene hineinmalen zu lassen – andächtig betend wie etwa der Bischof Krummediek, der unter dem Triumphkreuz des Bernt Notke im Lübecker Dom kniet.

 

[Im Ratzeburger Dom gibt es mehrere, weniger berühmte Altarbilder, in denen die Stifterfamilie auf diese Art dargestellt ist.]

Wenn ein sogar Verbrecher, der seine Strafe verdient hat, Erlösung erfährt – so will es doch Lukas sagen – dann gilt der Zuspruch Jesu doch ganz bestimmt auch uns: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (V. 43)

Ich erinnere mich, dass mich gerade dieses Wort an einen der beiden anderen Hingerichteten stark beeindruckt hat. In diesem Wort leuchten Gnade und Vergebung auch für die, die schwer gesündigt haben. „Mit Recht empfangen wir, was unsere Taten verdienen.“ (V. 41) hatte einer der beiden ‚Übeltäter‘ gerade gesagt. Und an Jesus gewandt: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ (V. 42)

Darauf Jesus: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Das hat sich mir tief eingeprägt: Gott ist barmherzig und gnädig. Mein Glaube an Gottes Güte ist eng verbunden mit der Passionsgeschichte des Lukas, der predigt: ‚Gott ist ein verzeihender, ein vergebender Gott.‘

Sogar über die römischen Soldaten, die ihr grausames Handwerk verrichten, sagt Jesus: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (V 34) – Ich vermute, dass mir als Kind die Tragweite dieser Worte so wenig bewusst war wie die Grausamkeit dessen, was am Karfreitag geschah. Aber die Botschaft ist angekommen: ‚Auch wenn wir Menschen schrecklich irren und Furchtbares anrichten, Gott wird uns nicht dem Bösen überlassen sondern Wege bahnen, die uns herausführen aus den Sackgassen unseres Lebens.

[„Vere filius Die erat iste.“ So steht auf einem Spruchband, das der Hauptmann, in der Hand hält. So sieht man auf unserem Altar im Ratzeburger Dom.]

„Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen.“ (V. 47) Der Hauptmann, der das Hinrichtungskommando befehligte, preist Gott, so berichtet es Lukas. Und weiter: „Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an die Brust und kehrten wieder um.“ (V. 48)

‚Umkehr ist immer möglich.‘ Lukas liegt alles an dieser Predigt. ‚Es gibt kein zu spät!‘ Das ist seine Botschaft. ‚Wie die Schaulustigen und der Hauptmann, so kannst auch du dich ändern. Und sei es in der Stunde deines Todes.‘

Lukas stellt unser Ratlosigkeit und unserem Erschrecken im Angesicht des Kreuzes sein Gottvertrauen gegenüber. Nicht im Stil großer Forderungen oder intellektueller Zumutungen. Er sagt nicht: ‚Lass das Zweifeln sein!‘ Und auch nicht: ‚Du bist ja selber schuld!‘

Sondern er schildert das Schicksal eines ‚Übeltäters‘, der alles falsch gemacht hat, so dass sein Leben am Kreuz endet. Gerade ihn lässt er sagen: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“

Und von dem römischen Kommandanten, der gerade einen Unschuldigen gehenkt hat, berichtet er, dass dieser beginnt, zu Gott zu beten. Und dass sein Beispiel bei allen, die dabei waren, ein Umdenken einleitet, so dass ihr Leben eine neue Richtung gewinnt, ein neues Ziel. ‚Warum‘, so fragt uns Lukas, ‚sollten wir das nicht auch können?‘

 

Ein Letztes:

Das dritte Kreuzeswort, das Lukas mitteilt, ist ein Gebet Jesu: „In deine Hände befehle ich meinen Geist.“ (Ps 31, 6)

Jesus betet einen Psalm. Dieses jahrtausendealte Gebet stammt, wie in den anderen Evangelien auch (Mk 15, 34 vgl. Mt 27, 46), nicht von Jesus selbst.

Es ist allerdings eine anderer Psalm, inhaltlich ganz ähnlich, aber weniger missverständlich (bei Lukas fehlt Mk 15, 35+36 par; auch deshalb, weil er das zuschauende Volk ganz anders darstellt, als Markus und Matthäus dies tun).

Und weiter heißt es im 31. Psalm: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott. Meine Zeit steht in deinen Händen!“ (Ps 31, 15+16)

Lukas schildert uns Jesus als einen Menschen, dessen Gottvertrauen ungebrochen ist. Und meint damit auch: ‚Wenn Jesus, den das ärgste Schicksal, das man sich vorstellen kann, getroffen hat, so betet, dann kannst du es auch!‘

Die Nachfolge Jesu wird hier als etwas Einfaches, beinahe Alltägliches geschildert. Etwas, das auch in unsere Zeit, auch in mein Leben passt. „HERR, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zuschanden werden, errette mich durch deine Gerechtigkeit! Neige deine Ohren zu mir, hilf mir eilends! … Denn du bist mein Fels und meine Burg, und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.“

(Ps 31, 2 – 4 i.A.)

Noch einmal erscheint Jesus hier als der vorbildliche Mensch. Er ist nicht nur so, wie wir sein sollten. Er weist uns zugleich einen Weg, den auch wir gehen können. Den Weg des Gottvertrauens.

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ (Lk 23, 46 vgl. Ps 31,6) Jesus betet diesen Psalm. Er kennt ihn. Darin auch dieser Vers: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Ps 31, 9)

Wenn uns das Herz eng wird – Gott führt uns ins Weite. Er öffnet uns neue Möglichkeiten. Wenn wir ihm vertrauen, dann verwandelt sich Furcht in Mut und Trauer in Freude.

Amen.

 



Pfarrer Gert-Axel Reuß
Ratzeburg
E-Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

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