Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Osternacht, 15.04.2017

Predigt zu Jesaja 26:13-19, verfasst von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

da ist es wieder – dies Gefühl, nichts erreicht zu haben, nichts erreichen zu können. Alles Mühen vergeblich, und nur tauben Ohren gepredigt. Wozu das alles!

Aufhören? Das Land verlassen und sich in Sicherheit bringen? Oder aushalten, durchhalten? Er weiß keine Antwort - wie immer, wenn er nur noch müde ist. Wenn er einfach nicht mehr kann.

So sitzt er da auf einem Hügel im Schatten eines Feigenbaumes. Vor und unter ihm die Stadt mit ihrem Treiben. Eilige Menschen und Müßiggänger, zahlreich in den großen Straßen, vereinzelt in den Nebengassen. Sie kommen irgendwo her und gehen irgendwo hin. Auf dem Markt das übliche Gedränge, und aus den Werkstätten dringen Arbeitsgeräusche. Ein ganz normaler Alltag.

Er schüttelt den Kopf über diese Menschen, die ihre Lage nicht wahrhaben wollen. „Sie kaufen und verkaufen“, denkt er, „bauen an und bauen auf, lachen und weinen, lieben und streiten wie immer. Und als ob es immer so weiterginge.“ Er schüttelt noch einmal den Kopf, kann nicht begreifen, was er sieht.

Mit Politikern hat er gesprochen, sie haben ihn mit wohlgesetzten Worten ignoriert. Wirtschaftsleute haben auf die gut gehenden Geschäfte verwiesen. Die kleinen Leute haben ihn verständnislos angesehen, wenn er mit ihnen sprach, oder darauf verwiesen, dass es ihnen doch gut gehe. Andere hatten mit den Schultern gezuckt: „Was können wir schon machen! Die da oben machen ja doch, was sie wollen.“

Nein, er hat nichts erreicht, gar nichts. Alle Anstrengung vergebens. Seine Warnungen vor Bedrohung und konkreter Gefahr: In den Wind gesprochen. Seine Appelle an die Innenpolitik: Verhallt ohne jedes Echo. Seine außenpolitischen Analysen: Makulatur. Seine Vorstellungen von einer besseren, friedlichen Welt: Als Spinnerei abgetan und verlacht.

„Sehen die denn nicht, was ich sehe?“ fragt er sich. Kann sich nicht vorstellen, dass alle anderen blind sind. Zu offensichtlich ist doch, wohin die Entwicklung führt: in den Untergang. Er kann, er darf doch all diese Menschen nicht untergehen lassen. Diese Menschen, die leben, lieben, glücklich sein wollen.

Oder ist er, wie ein Geschäftsmann ihm einmal gesagt hat, verrückt? Ein krankhafter Schwarzseher mit einer ungesunden Freude an Katastrophenbildern? Musste man die anderen gar vor ihm schützen? Dann wäre es wohl besser, er zöge sich zurück, irgendwo aufs Land, fernab vom Zentrum der Macht. Dann hätte er seine Ruhe und müsste nicht versuchen, andere zu beunruhigen.

Diese Vorstellung vom Rückzug hat etwas Verlockendes: Ruhe haben, Muße. Entspannung statt Krampf und Kampf. Doch auch etwas Erschreckendes, Abschreckendes hat die Vorstellung vom Rückzug: Einsam würde er sein, sich nutzlos fühlen, überflüssig. Verantwortungslos gegenüber den Menschen. Und mit seinem Rückzug, mit seiner Flucht würde er seinen Auftrag verraten.

Ein tiefer Seufzer steigt in ihm auf. Mit ihm weitet sich die Enge in seiner Brust ein wenig, er atmet durch. Blickt auf die Stadt vor seinen Augen und auf die Menschen in ihr, wie sie eilen und bummeln, handeln und werken. „In diesem Augenblick“, denkt er, „geschieht in einer solchen Stadt wohl alles, was im Leben eines Menschen vorkommen kann. Alles findet gleichzeitig statt, auch die Gegensätze. Sie heben einander nicht auf, sie ergänzen einander zur Fülle des Lebens.“

Der Gedanke beschäftigt ihn noch eine Weile. Fast merkt er nicht, wie nach und nach gute Erinnerungen in ihm wach werden. An Menschen, die ihm zugehört und zugestimmt haben, die ihn unterstützen. An Krankheiten, von denen er genesen ist, an Gefahren, die er überstanden hat. An Freude, die er erlebt, an Freundschaft, die er erfahren hat.

Er verspürt Hunger, hebt ein paar Feigen auf, die neben ihm am Boden liegen. Sie stillen auch seinen Durst etwas, und ein wenig fühlt er sich gestärkt. Seine Gedanken kehren zu den Menschen in der Stadt zurück und gehen von diesen zu allen im Land. Wie er haben auch sie Gutes erlebt in ihren Leben, das Land in seiner Geschichte. Und dass sie Schweres ertragen und überstehen konnten, ist doch auch gut. Als Erfahrung vielleicht sogar wichtiger als das Leichte.

Dieser Gedanke lässt ihn aufstehen. Er streckt sich, atmet tief durch. Es geht gegen Abend, die Luft ist frisch und erfrischt auch ihn. Er will nach Hause gehen und dann tun, was er immer tut, wenn er sich ganz unten gefühlt hat: Seine Gedanken zu einem Gedicht formen, zu einem Psalm.

Er geht zurück, zurück in die Stadt, zurück zu den Menschen. Für manche mag der Tag leichter gewesen sein als für ihn, für andere wohl auch schwerer. An einem Tag, in einer Stadt. Wie an jedem Ort. Die es schwer hatten mit dem Tag, werden neue Kraft schöpfen, neuen Mut fassen. So wie er.

Während er seinem Haus zu schlendert, sieht er sich die Menschen genauer an, sieht in ihren Gesichtern ihr Leben, ihr Hoffen und Bangen, ihre Schwächen und ihre Stärken. Sieht ihre Müdigkeit und ihre Träume vom Glück.

Erste Worte seines Liedes formen sich in ihm zu Sätzen, und als er zu Hause ist, schreibt er:

„Herr, unser Gott, neben dir haben andere Herren uns beherrscht,

dich allein, deinen Namen preisen wir!

Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf.

Darum hast du sie heimgesucht und vernichtet und jede Erinnerung an sie getilgt.

Noch mehr hast du der Nation gegeben, Herr, du hast die Nation zahlreicher gemacht,

hast dich verherrlicht und alle Grenzen des Landes erweitert.

Herr, in der Not haben sie dich aufgesucht,

sie haben geschrien, entkräftet - du hast sie gezüchtigt.

Wie eine Schwangere sich kurz vor dem Gebären windet, in ihren Wehen schreit,

so waren wir, fern von deinem Angesicht, Herr:

Wir waren schwanger, wir wanden uns - es war, als hätten wir Wind geboren:

Dem Land bringen wir keine Rettung, und dem Erdkreis werden keine Bewohner geboren.

Deine Toten aber werden leben, ihre Leichname stehen wieder auf.

Wacht auf, und jubelt, ihr Bewohner des Staubs! Denn ein Tau von Lichtern ist dein Tau, und die Erde wird die Schatten gebären.“

Er würde noch mehr schreiben, aber später. Das Wichtigste stand schon. Amen



Landespfarrer Paul Kluge
Leer
E-Mail: Paul-Kluge@t-online.de

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