Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 14.04.2017

Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Predigt zu Markus 15:34, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

ein vertrautes Kreuz steht vor einem außergewöhnlichen Hintergrund: ein Strahlenkranz in Himmelsfarben. Friedensreich Hunderwasser hat diese Kirche in Bärnbach in Österreich gestaltet. „Eine Kirche muss schön sein“, sagte er. „[…] man muss sich in ihr geborgen fühlen und es soll in ihr eine Atmosphäre herrschen, in der man eine Brücke […] zur Schöpfung und zu Gott findet. Gott soll gerne in ein Gotteshaus gehen, das die Menschen gebaut haben, um ihm dort zu begegnen."

Und dann steht da das Kreuz. Wie wir es kennen. Nicht in Hundertwasser-Art. Aber umgeben von seiner Kunst. Mitten in dem Strahlenkranz.

Ist das die Art, wie Gott in der Kirche anwesend ist? Und in unserem Leben?

Der Hintergrund drängt sich fast in den Vordergrund. Durch seine kräftigen Farben. Weiß gehört dazu. Leuchtendes Weiß. Die Farbe der Engel. Auch Silber. Und Gold. Kleine Kacheln und größere Flächen.

Fugen durchziehen die Strahlen. Auffällig abgesetzt. Die Formen kommen gut zur Geltung. Als ob sich die Vielfalt des Lebens darin spiegelt: Glattes und Kantiges, Großes und Kleines, Strahlendes und Anderes. Auch das Dunkle hat Platz. Neben dem Himmelsweiß, dem Gold und dem Silber. Auch das Dunkle gehört dazu.

In dem mittleren Rund: Himmelblau. Davon gehen die Strahlen aus. Hundertwasser hat lange gebraucht, bis er dieses Blau gefunden hat, wird berichtet. Kein Wunder: Es geht schließlich um die himmlische Mitte. Um den himmlischen Hintergrund des Gekreuzigten.

Im Strahlenkranz ist ein goldener Ring zu sehen. Nicht durchgehend und doch klar. Aus kleineren und größeren Mosaiksteinen. Unterbrochen und mit eigenem Glanz. Der Goldkranz lenkt den Blick auf den Christuskörper und strahlt zugleich nach außen. Dort nehmen Mosaiksteine das goldene Licht auf und tragen es weiter. Der Himmel versprüht seinen Glanz. Er bleibt nicht für sich.

Vor dem Strahlenkranz steht ein Kruzifix, wie wir es häufig sehen können. In vielen Kirchen. Oder an Wegkreuzen. Das Kruzifix verbindet das Himmlische mit dem Irdischen. Diesem Christus kann keiner seine Stärke nehmen. Auch durch das Leiden nicht, das Menschen ihm zufügen. Und durch grausame Qualen nicht. Er hat im Sterben seine eigene Würde. Göttliche Würde.

Kreuze wie diese zeigen etwas von der Lebenskraft, die sich in der Auferstehung Bahn brechen wird. Sie zeigen etwas von Gottes Gegenwart mitten in der Sterblichkeit der Welt. Nicht zufällig spiegelt der Christuskörper das Licht wider, das von links und rechts durch die Fenster fällt. Himmelslicht.

Man könnte sagen: Letztlich ist es das Kreuz, von dem die himmlischen Farben ausgehen. Und zugleich sind es diese weißen und blauen, silbernen und goldenen Spiegelungen des Himmels, die das Kreuz in ein besonderes Licht tauchen. In das Licht der Gegenwart Gottes. Das ist ja das Geheimnis dieses Todes: dass Jesus als Mensch unseren Tod stirbt und dass zugleich Gott in diesem Tod gegenwärtig ist.

Jesus stirbt – wie jeder von uns. Das ist die eine Wirklichkeit. Die vordergründige und sichtbare Wirklichkeit. Der Tod kann offiziell festgestellt werden. Dahinter gibt es noch eine andere Wirklichkeit, die mit bloßem Auge nicht zu sehen ist. Und die doch ihre eigene Wirksamkeit hat. Für die wir ein Gespür ausbilden können. Hinter dem Sichtbaren ist eine Gotteskraft der besonderen Art verborgen. Sie kann durch einen schweren Grabstein nicht eingeschlossen werden. Sie entfaltet gerade im Sterben ihre Stärke. Das ist Gottes Lebenskraft, die sich in der Auferstehung durchsetzen wird. Die dem Tod seine End­gültigkeit nimmt. Es ist die Kraft des Samenkorns, das in der Erde abstirbt und dabei neues Leben aufkeimen lässt. Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt...

 

Nicht nur unser Leben, sondern auch unser Sterben und unser Tod sind durchdrungen von Gott. Er ist in unserem Leben und Sterben gegenwärtig. Gottes Gegenwart verdichtet sich dort, wo das Leben und Sterben ihr hässliches Gesicht zeigen. Wo die Not am größten ist. Und die Schmerzen bald nicht mehr zu ertragen sind. Genau dort ist Gott gegenwärtig – und nimmt die Abgründe dieser Welt in sich auf. Natürlich ist er auch dort, wo das Leben schön und leicht ist. Das ist ein anderes Mal wieder Thema. Heute an Karfreitag haben Schmerz und Leid ihren besonderen Raum. Nicht nur in uns, sondern in Gott!

Die Einladung des Karfreitags ist, Schmerz, Not und Leid einmal so anzuschauen, wie wir es sonst selten tun. Die Einladung ist, mit all dem, was uns drückt und schmerzt – in unserem Leben oder um uns herum – uns auf Gott auszurichten. Und zu sagen:

„Hier bin ich, Gott. Mit meinen Verletzungen, mit meinen Schmerzen, mit meiner Not.“

Die Einladung des Karfreitags ist es, die Himmelsfarben nicht zu vergessen.

Gottes Gegenwart durchdringt auch meine Not und meinen Schmerz hier und heute. Gerade dort, wo das Leben besonders dunkel erscheint, ist Gottes Keimkraft neuen Lebens verborgen. Das Schwere, der Schmerz, die Not sind voller verborgener Gotteskraft, auch wenn wir am Karfreitag noch nicht sehen, was sich an Ostern seinen Weg bahnen wird. Das tröstet und mutet uns etwas zu.

Die Gottesgegenwart im Kreuz hilft mir, meine eigene Not und meinen Schmerz erst richtig anzuschauen. Ich weiß: Ich habe meinen Platz in Gott, mit allem, was zu mir gehört und was ich mitbringe. Mit den Nöten, die mich bedrücken. Und den Schmerzen, unter denen ich leide. Und nicht nur mit meinem Schmerz und meiner Not. Der Schmerz der Welt hat seinen Ort bei Gott. Der Schmerz der Giftgasopfer in Syrien. Der Schmerz der Angehörigen in Stockholm. Der Schmerz der Trauernden, Ängstlichen und Verzweifelten.

Mit diesem Rückhalt kann ich mich der Not und dem Schmerz besser zuwenden. Einschließlich der Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Auch die hat Raum in Gott. Und die Angst, auf Abgründe zu stoßen, bei mir oder bei anderen. Oder Angst, dass die Narben wieder zu schmerzen anfangen. Das Kreuz zeigt mir: Das alles ist in Gott aufgehoben. Mit dem Kreuzestod nimmt Gott das Leiden in sich selbst hinein. Es gibt in Gott nichts Menschliches, das keinen Platz finden würde. Und nicht nur das. In Gott sind Lebenskräfte verborgen, die stärker sind als der Tod. Und die dem Tod nicht das letzte Wort lassen werden.

Das Bild aus der Kirche in Bärnbach ist eine Einladung, mit allem in diesen Kreuz-Himmel zu treten. Und die Not nicht für sich zu behalten, sondern vor Gott auszusprechen. In dem Wissen: Der Himmel umgibt mich schon, auch wenn ich ihn vielleicht im Moment nicht sehen kann. Weil mein Blick gerade an den Schmerz geheftet ist. Ganz gleich, ob ich das sehe oder nicht: Die Himmelfarben umgeben das Kreuz und tauchen es in ihr eigenes Licht. Gott ist gegenwärtig und durchdringt das Kreuz damals – und mein Kreuz und die unzähligen Kreuze unserer Welt. Das ist Trost und Zumutung zugleich. Was hilft mir, in diese Gegenwart Gottes zu kommen, wenn der Schmerz mich lähmt und ich wie erstarrt bin?

Ein Seufzer, eine Klage, ein Hilfeschrei können lösende Wirkung haben. Weil sich Luft verschafft, was tief in uns ist. Und weil es zu Gott hin gesprochen wird, der unsere Lebenskraft ist. Jesus selber macht es uns vor:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46 nach Ps 22,2)

Er schreit es hinaus. Er hat noch nicht einmal eigene Worte dafür. Wahrscheinlich ist er dem Tod schon viel zu nah. Mit dem Hauch der letzten Energie greift er nach Worten, die schon viele gebraucht haben. Er tut, was Menschen tun, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen. Wenn die letzten Hoffnungsfunken verglühen. Er schreit zu dem Gott, der so unendlich weit weg scheint. Und der doch „sein“ Gott ist.

Ein Seufzer, eine Klage, ein Hilfeschrei können lösende Wirkung haben. Gleichzeitig mutet uns Gott einiges zu. Vor allem, dass er den Schmerz nicht einfach wegmacht. Gott mutet uns zu, dass Jesus auf Gewalt verzichtet und sich nicht gegen seine Ankläger und Vollstrecker wehrt. Er mutet uns zu, dass Jesus seine Stärke nicht demonstriert und nicht einfach vom Kreuz steigt und seine Gegner bloßstellt. Und dass er all die unsäglichen Schmerzen dieser Welt nicht einfach beseitigt.

Wir können nach Gründen suchen, warum Gott auf verborgene Weise wirkt. Wir finden auch welche. Zum Beispiel: Gott will in seiner Liebe Menschen gewinnen und nicht zwingen. Er ringt um die Herzen der Menschen. Deshalb kommt er in den Schmerz, statt ihn einfach zu beseitigen.

Aber das alles hat nur eine begrenzte Kraft. Es gibt Situationen, in denen solche Überlegungen nicht helfen: Wenn die Ohnmacht noch unerträglicher wird, als sie ohnehin schon ist. Wenn die Schmerzen bald nicht mehr auszuhalten sind. Gott mutet uns zu, dass er nicht schneller, unmittelbarer, offensichtlicher Not beseitigt. Gott mutet uns zu, dass er seine verborgene Keimkraft neuen Lebens in diesen Schmerz und in dieses Leid und in diese Not legt. Und dass nach Karfreitag erst noch Karsamstag kommt, bevor es Ostern wird.

Darin – in seiner Gegenwart – gewinnt der Trost erst an Kraft. In Zu-mut-ung steckt auch: Da wächst uns Mut zu. Dieses Ineinander von Zumutung, Mut und Trostkraft gehört zu Gottes Geheimnis. Eines ist nicht ohne das andere zu haben. Und alles zusammen liegt darin verborgen, dass Gott mitten in unserer Not anwesend, gegenwärtig, hintergründig wirksam ist. Das gehört zu der Art, wie er kraftvoll ist. Es gehört zum Wesen Gottes. Darauf richten wir uns aus. Schreien unsere Not hin zu Gott. Und spüren: uns wächst Kraft zu, Kraft von Gott.

Jesus ruft mit letzter Kraft:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!?“

Er ruft, als ob er spürt, dass seine Verbindung zu Gott, zu seiner Lebenskraft jetzt abreißen könnte. Und gleichzeitig ist es diese göttliche Lebenkraft, die aus ihm herausschreit. Und die ihn verbindet mit der Lebensenergie Gottes. Gott ist in ihm und um ihn herum, auch wenn er das fast nicht mehr glauben kann. Die Auferweckung wird zeigen, dass Gottes Kraft stärker ist als der Tod.

Ob wir Gottes lebenschaffende Worte gerade hören oder nicht. Ob wir seine Gegenwart gerade glauben können oder nicht. Ob wir den Strahlenkranz aus Himmelsfarben – mit dem Blau und dem Weiß und dem Gold – sehen können oder nicht. … Die Botschaft von Karfreitag ist: Gottes heilvolle Himmelskraft wirkt schon. Sie wirkt: verborgen in unserer Not und in unserem Leiden. Und um uns herum. Und sie wird sich entfalten. So gewiss, wie Christus auferstanden ist. Amen.



Pfrin. Prof. Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

(zurück zum Seitenanfang)