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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ostermontag, 17.04.2017

Ihr werdet meine Zeuginnen und Zeugen sein.i
Predigt zu Lukas 24:35-48, verfasst von Gert-Axel Reuß

Liebe Gemeinde,

 

ein Mann steht auf dem Balkon und schaut in den Park. Ich habe meinen Patenonkel eingeladen. „Das wäre doch schön,“ so dachte ich bei mir, „ihn dabei zu haben bei dem lange verabredeten Nachmittag mit meinen Geschwistern. Als ‚special guest‘ sozusagen.“ Nicht aus Absicht, sondern mehr aus Nachlässigkeit hatte ich ihnen (meinen Geschwistern) nichts davon gesagt. „Die werden sich bestimmt freuen, Onkel Uwe zu sehen.“

 

Als wenig später mein Bruder eintrifft und das Wohnzimmer betritt, wird er plötzlich ganz bleich. „Wer steht da auf dem Balkon?“ fragt er mich entgeistert. „Onkel Uwe, du kennst ihn doch. Mein Patenonkel und der beste Freund unseres Vaters.“ „Hättest Du mir das nicht vorher sagen können?“

 

Für einen Moment hatte mein Bruder Martin den Mann auf dem Balkon für unseren vor einem Jahr verstorbenen Vater gehalten. Es gibt so vieles, was die beiden Männer verbindet, Onkel Uwe und meinen Vater: Alter und Schicksal, Aussehen und Ansichten. Gerade deshalb hatte ich ihn zu meinem Geschwistertreffen eingeladen. Aber mein Bruder war davon wenig begeistert. Die Begegnung traf ihn völlig unvorbereitet. i

 

Liebe Gemeinde,

 

da liegt ein Geruch in der Luft und ich drehe mich auf der Straße um. Versuche herauszufinden, wer da an mir vorübergegangen ist. Irgendetwas hat tiefe Erinnerungen in mir geweckt, aber da ist niemand, den ich kenne.

 

Da sehe ich im Urlaub eine Frau im Straßencafe sitzen und denke: „Was macht den Babette hier?“ Aber als ich schon zum Café gehen will, ums sie nach langer Zeit zu begrüßen, dreht sie sich zu mir um. Eine wildfremde Frau, die ich noch nie gesehen habe.

 

Erinnerungen kommen und gehen. So wie bei den Jüngern von Emmaus . Ein Mann begleitet sie auf ihrem Weg, sie sprechen über die Ereignisse der letzten Tage. Über den Tod Jesu am Kreuz, eine Katastrophe. Am Ende des Tages, als sie in einem Gasthaus einkehren, bitten sie ihren Begleiter, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen. Die Getränke kommen, dazu etwas Brot. Der Fremde bricht ein Stück davon ab … Plötzlich ist alles wieder da. So, als ob Jesus selbst mit am Tisch sitzen würde. Die Jünger gucken sich an. Erkennen, dass sie dasselbe denken … Aber da ist keiner mit ihnen am selben Tisch.

„Eben war er doch noch da.“ Denken, fühlen sie: „Lebendig unter uns.“

 

Im Lukasevangelium schließt sich hier eine Ostergeschichte an, die uns in ihrem Realismus merkwürdig vorkommen muss.

 

36 Als sie aber davon redeten, trat er selbst mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! 37 Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. 38 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? 39 Seht meine Hände und meine Füße, ich bin's selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. 40 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. 41 Da sie es aber noch nicht glauben konnten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? 42 Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. 43 Und er nahm's und aß vor ihnen. 44 Er sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen. 45 Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden, 46 und sprach zu ihnen: So steht's geschrieben, dass der Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; 47 und dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Von Jerusalem an 48 seid ihr dafür Zeugen.

(Lk 24, 36 – 48)

 

Liebe Gemeinde,

 

wir suchen Beweise für unsere Überzeugungen und meinen, dass wir uns so selbst vergewissern und auch andere von der Richtigkeit unserer Ansichten überzeugen könnten. Das will ich nicht völlig diskreditieren, das naturwissenschaftliche Denken hat uns einen enormen Fortschritt und Wohlstand gebracht. Trotzdem ist die Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse selbst unter Wissenschaftlern hoch umstritten.

 

Da gibt es immer noch Forscher und Politiker, die die durch den Menschen verursachten Faktoren des Klimawandels leugnen. Da gibt es Wissenschaftler und Konzernlenker, die kein Problem mit der so einseitigen Verteilung von Reichtum und Ressourcen in dieser Welt haben. Da gibt es von sich selbst besessene Machthaber, die nicht unterscheiden können zwischen ihren eigenen Interessen und denen ihrer Völker, so dass sie keine Skrupel haben, Menschen ihrer Macht zu opfern.

 

Das alles ist doch nicht vernünftig, so denken wir. Und trotzdem geschieht es. Ihre Irrtümer kann doch jeder erkennen. Trotzdem machen sie weiter, bis ihnen jemand anderes Einhalt gebietet.

 

Das ultimative Beweisstück für die Auferstehung Jesu wird es nicht geben. Einer, der nicht dabei gewesen ist wie der Jünger Thomas (vgl. Jh 20, 24), wird immer zweifeln. Wie oft soll Jesus denn noch erscheinen? Welche Beweise vorlegen für seine Auferstehung? – Ein sinnloses Unterfangen.

 

Da tritt Jesus in den Kreis seiner Jünger und die denken, sie sähen einen Geist. (V 37)

Da zeigt er ihnen seine Hände und Füße mit den Nägelmalen und fordert sie auf, ihn anzufassen – und sie wollen’s nicht glauben. (V 41)

Da verlangt er von ihnen etwas zu essen und verspeist einen Fisch vor ihren Augen. (V 41-43)

Die Reaktion der Jünger ist nicht überliefert. Sie scheint auch völlig uninteressant. Denn der entscheidende Satz der Geschichte lautet: Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden. (V 45)

 

Ist er es wirklich? – Mein Bruder war über das Erscheinen meines Onkels sichtbar irritiert. Weil plötzlich – man könnte sagen: Der Geist meines Vaters im Raum war.

Was habe ich mit dem Geruch auf der Straße verbunden? Ja nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit. Irgendetwas wurde in mir wachgerufen, lebendig.

Wen habe ich im Cafè sitzen sehen? Ja nicht nur eine alte Freundin, sondern ein Stück von mir, das vergessen schien.

 

Ist er es wirklich?

 

Im Lukasevangelium reden die Frauen und Männer, die Jesus nachfolgten, miteinander. Und sie haben viel zu bereden. Zu betrauern und zu bereden:

- Wie konnte es so weit kommen? Jesus ist tot. Ein schrecklicher Tod. Das Ende all unserer Hoffnungen von einer besseren Welt.

- Was soll aus uns werden? Bleiben wir zusammen? Oder kehren wir in unsere Dörfer und Familien zurück? Zurück in unser vorheriges Leben? Als Gescheiterte.

 

Und während sie so reden, wird plötzlich etwas vom Geist Jesu lebendig. Nennen wir es Trotz:

- Das kann doch nicht alles gewesen sein!

- Wollt ihr jetzt einfach aufgeben?

- All das, wofür Jesus mit seinem Leben eingestanden ist, verraten?

 

Und die Männer und Frauen werden zu Zeuginnen und Zeugen für die Wahrheit der Verkündigung Jesu. Man könnte auch sagen: Seine Predigt ‚verselbständigt‘ sich, seine Botschaft breitet sich weiter aus: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein.“ lässt Lukas Jesus etwas später sagen. (Apg 1, 8)

 

Liebe Gemeinde,

 

das WIE können wir nicht erklären, es gibt weder Fotos noch Fingerabdrücke von Jesu Auferstehung. Die kann auch Lukas nicht beibringen. Aber das ist auch gar nicht sein Ziel. Ihm geht es nicht um Beweise. Er beschreibt das Wunder, dass der Tod Jesu nicht das Ende, sondern der Anfang, dass „in Jesu Namen Buße gepredigt wird zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Von Jerusalem an seid ihr dafür Zeugen.“ (V 47+48)

 

Immer wieder gibt es Hellsichtige unter uns gibt, Zeuginnen und Zeugen des auferstandenen Christus. Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen. Denen diese Welt keine gottlose Wüste ist, sondern Gottes wunderbare Schöpfung, die es zu erhalten gilt. Die sich nicht zufrieden geben mit der Armut in dieser Welt und nicht aufhören, für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen einzutreten, damit alle eine Lebensperspektive haben. Die in jedem Menschen die Schwester, den Bruder erkennen und deshalb der Gewalt widerstehen. Menschen, die sich nicht zufrieden geben damit, wie die Welt ist, sondern die alles im Licht von Gottes Verheißungen sehen, daran glauben und dafür arbeiten.

 

Martin Luther King gehört für mich zu diesen Zeugen: „I have a dream. - Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.“

 

Aber auch die Frauen und Männer, die sich in unseren Städten und Dörfern um Kontakt zu den Flüchtlingen bemühen, mit ihnen Einkaufen gehen, Arztbesuche und Behördengänge organisieren. Freiwillig und unentgeltlich. Als Zeuginnen und Zeugen der Humanität. Und die sich davon auch nicht abbringen lassen, trotz der schrecklichen Anschläge von Stockholm und London.

 

Ostern ist ein Prozess in Gang gekommen, der bis heute wirkt und weiterwirkt. Immer wieder muss die Macht des Bösen gebrochen werden – und dies geschieht, wenn Menschen aufstehen, Unrecht beim Namen nennen und Barmherzigkeit üben. Das können sie nicht von allein und müssen es auch nicht aus eigener Kraft, sondern sie können es, weil der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihnen ist.

 

Wir können uns nicht damit zufriedengeben, dass nur Jesus von den Toten auferstanden ist. Wir müssen aufstehen, nicht erst in der jenseitigen Welt sondern in diesem Leben – das ist der Sinn der Osterbotschaft. Weil wir das gute Ende kennen, weil wir glauben, dass Gott alles in allem ist, deshalb brauchen wir die Augen nicht zu verschließen vor dem, was noch nicht erlöst ist. Was noch der Liebe Gottes entgegensteht.

 

Sondern können und wollen wir uns hineinnehmen lassen in die große Bewegung, durch die Gott diese Welt verwandelt. Wir sind Zeuginnen und Zeugen seiner Liebe. Darin, dass wir liebesbedürftig sind und bleiben. Darin, dass Gottes Verwandlung an uns noch nicht abgeschlossen ist. Aber auch darin, dass er uns immer wieder befähigt, zu lieben. Dass Er uns von den Zwängen des Bösen befreit zum Guten.

 

Amen.

i Die geschilderte Szene hat sich wirklich ereignet – in etwas anderer Form; die beteiligten Personen waren andere.



Domprobst Gert-Axel Reuß
Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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