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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 14.04.2017

"...ich bin dein und du bist mein" - "Nun freut euch, lieben Christen g´mein" -Evangelisches Gesangbuch 341
Predigt zu Apostelgeschichte 8:26-39, verfasst von Bernd Schröder

„Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.“

 

Liebe Gemeinde,

Luthers Lied „Nun freut Euch, liebe Christen g’mein“ ist kein Karfreitagslied: Es besingt nicht an erster Stelle den Kreuzestod Jesu und es gibt nicht an erster Stelle der „Kara“, der Trauer und Klage über diesen Tod Raum. Es ist übrigens auch nicht im Blick auf den Karfreitag und dessen liturgische Gestaltung geschrieben und komponiert worden. Und es ist, seitdem evangelische Gesangbücher entlang des Kirchenjahreskreises gestaltet werden, auch nicht dem Karfreitagsgottesdienst zugeordnet worden – wie sollte es das auch mit dieser Melodie und diesem Anfangsvers „Nun freut Euch, liebe Christen“?

Und doch ist es ein Karfreitagslied, ja, ein radikaler Versuch, das Geschehen an einem Freitag im Monat Nissan, (mit dem Johannesevangelium, aus dem die heutige Evangeliumslesung stammt), am Rüsttag des Pessach-Festes wohl des Jahres 30 n.u.Z., nicht als historisches Ereignis, sondern als Geschehen uns zugute auszulegen. Mehr noch: Es ist ein radikaler Versuch, dieses Geschehen als ein Geschehen Luther zugute auszulegen. Und wenn es Luther zugute geschieht, so das hermeneutische Gefälle, geschieht es jedem und jeder von uns zugute.

       Das ist die Pointe dieses Karfreitagsliedes – und sie wird von Luther nicht zaghaft eingeflochten im Verlauf der Strophen, sondern in aller Deutlichkeit vorangestellt:

 

     Lasst uns „getrost und all in ein

     mit Lust und Liebe singen,

     was Gott an uns gewendet hat“ (Str. 1).

Wie radikal diese Pointe gesetzt wird, zeigt der Fortgang des Liedes: Es besingt nun keineswegs zunächst, „was Gott an uns gewendet hat“, sondern es springt in die literarisch-biographische Perspektive Luthers. Die Strophen 2 und 3 schildern eindrücklich, wie Luther sich selber sah, bevor er das Karfreitagsgeschehen als Geschehen ihm zugute erkannte:

 

   „Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren […].

   Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben

   mein, die Sünd hatt‘ mich besessen.“ (Str. 2)

   „[…] die Angst mich zu verzweifeln trieb,

   dass nichts denn Sterben bei mir blieb […]“. (Str. 3)

Wir würden vielleicht sagen: Dieser „junge Mann Luther“ (Erik H. Erikson) steht neben sich; er kann nicht anders als mit „Ekel“ auf sich selber schauen, denn was er sieht, ist kein inneres Gleichgewicht, kein Gelingen, keine Lebensfreude, sondern was er sieht, ist nichts als Scheitern, Sich-Verfehlen, Daseinsangst. „Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich […] Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“ – so hatte diese Erfahrung der Entfremdung von Gott und von sich selbst knapp 1.500 Jahre zuvor der Apostel Paulus formuliert (Röm 7, 15.18).

       Dies ist also die geistliche Situation Luthers vor seiner refor-matorischen Wende, wie er sie rückblickend versteht. Dass er diese niederschmetternde Erfahrung in einen Liedtext kleidet und zwar keineswegs in ein Lied für „das stille Kämmerlein“, sondern für die Ekklesía, die Gemeinschaft der Getauften, und darüber hinaus für alle Welt, das zeigt: Was er am eigenen Leib und im eigenen Gemüt erfahren hat, hält Luther für exemplarisch, vielleicht sogar für typisch – in den ersten Gesangbuchausgaben war dieses Lied denn auch überschrieben mit den Worten „wie der sunder zur gnade kompt“. Und Luther hält es eben für so umwerfend und für so aktuell, er hält es so sehr für Evangelium, dass er dieses Lied als „Zeitungslied“, als „liedhafte Neuzeitung“, als „gutt gschrey, davon man singet, saget und frolich ist“ (Vorrede zum Septembertestament, 1522), dichtet und komponiert. Luther erzählt darin auf dieselbe Weise von dem Heil, das ihm widerfahren ist, wie er kurz zuvor, im Sommer 1523, in seinem allersten Lied Zeitgeschehen aufgegriffen hatte.[1]

Die Sprache, in der Luther seine Situation, die Situation des Menschen vor dem Evangelium schildert, mag in unseren Ohren fremd klingen, v.a. weil Luther all die Worte metaphysischer Theologie verwendet, die wir mit dem Mittelalter assoziieren mögen: „Teufel“, „Sünde“, „Gottes Gericht“, „Hölle“. Doch sie zeigen zuallererst den existentialen Ernst an, mit dem Luther selbstkritisch denkt, sie zeigen an, dass hier nichts weniger als das Heil auf dem Spiel steht.

Ist das, was er hier beschreibt, wirklich so weit entfernt von den Selbstzweifeln und Ängsten von Menschen in postmodernen Gesellschaften, die ihre Lebensorientierung verlieren, am Zuviel der Optionen leiden und deren psychisches Gleichgewicht so sehr aus dem Lot geraten ist, dass sie sich nicht selten selbst töten (etwa 10.000 Menschen pro Jahr allein in Deutschland)?  

Mit Strophe vier ändert sich die Perspektive. Zwar geht es immer noch um Luther, um das „Ich“ dieses Liedes. Es geht sogar in einer so exponierten Weise um dieses „Ich“, dass Luther, der Lieddichter, das Heilsgeschehen in Jesu Tod und Auferweckung so darstellt, als sei es um dieses „Ich“ willen geschehen:

   „Da jammert Gott in Ewigkeit, mein Elend übermaßen,

     er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen“  

     (Str. 4, Kursivierung nicht im Original)

Wo sonst wird so ernst gemacht mit der subjektorientierten Wende theologischen Nachdenkens? Es geht hier nicht um das Heil der Welt, nicht um das Nachzeichnen einer objektiven Heilsgeschichte, sondern darum, dass hier etwas mir zugute geschieht, etwas unvertretbar für mich eine grundlegende, mein Dasein umkrempelnde Bedeutung hat: „es war bei ihm fürwahr kein Scherz“ (Str. 4).

Es geht also weiterhin in einem strengen Sinn um „uns“, aber der Fokus liegt von hier, von Strophe vier an, auf Gott. Luther fährt also nicht fort in seinem biografischen Berichten, etwa so:

 

   Doch dann erfuhr ich Gottes Lieb, die mir, nur mir sich zuge-

   wandt, aus Sünden Not, aus bitter‘m Tod, wurd‘ ich befreit,

   Gott lob, Gott lob, was früher galt, gilt nun nicht mehr, im

   Glauben seh ich’s anders nun, mein Leben und mein Sterben.

Nein, er berichtet fortan aus der Perspektive Gottes, leiht ihm seine Stimme und lässt Gott sprechen.

Man wird nicht fehlgehen, wenn man darin nicht nur ein Stilmittel erkennt, sondern eine theologische Pointe: Aus der Klemme, in der sich Luther sieht, kann ihn kein Mensch befreien – sondern nur Gott allein. In dieser existentiellen Not hilft kein positives Denken allein und kein Gut-Zureden allein, sondern Gottes Interaktion.[2]

Wie ungeheuerlich das ist, was hier geschieht, lässt sich den sprachlichen Bildern abspüren, die Luther hier verwendet:

   Hier vollzieht sich ein Sprung aus Gottes Ewigkeit in die Jetzt-Zeit: „Da jammert Gott in Ewigkeit“ (Str. 4) – „Die Zeit ist hier zu erbarmen“ (Str. 5).

   Hier erinnert sich Gott – gewissermaßen drauf und dran ‚andere Saiten aufzuziehen‘ – an die Wesenszüge, die er für sich selbst als maßgeblich erkannt hat: „Barmherzigkeit“ (Str. 4), Lebensfreund-lichkeit (vgl. Str. 5, Schlussvers), „Hingabe“ (Str. 7).

   Hier lässt sich Gott selbst – der Frühkapitalismus des 16. Jh’s lässt grüßen – auf einen Handel ein: „Er ließ’s sein Bestes kosten“ (Str. 4).

 

Mit Strophe sieben hebt dann der Höhepunkt dieses Liedes an – wieder angezeigt durch einen Perspektivwechsel: Ab hier spricht Jesus Christus direkt zu Luther und uns; vier Strophen wörtlicher Rede!

Und auch dem Inhalt nach stehen wir hier am Zenit dieses Liedes, dem fröhlichen Wechsel:

 

   „Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen,

   ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen,

   denn ich bin dein und du bist mein,

   und wo ich bleib, da sollst du sein,

   uns soll der Feind nicht scheiden.“ (Str. 7)

Der Gottessohn gibt sich hin, er erleidet den Tod, der Luther zugedacht war, er ringt an seiner Statt mit dem „Feind“, der hier namenlos bleibt. Und genau so kommt es zum fröhlichen Wechsel – der Sünder erhält die Unschuld des Sich-Opfernden („mein Unschuld trägt die Sünde dein“, Str. 8), der Todgeweihte die Seligkeit dessen, der eigentlich nicht von Sünde und Tod bedroht war („da bist du selig worden“, Str. 8), der vom Teufel Gefangene wird von seinem Häscher befreit („den Teufel wollt er fangen“, Str. 6).

Besiegelt wird dieser fröhliche Wechsel mit einem Versprechen, das Luther selbst kurz zuvor, 1522, als Eheversprechen vorgeschlagen hatte: „denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein“.

 

Noch einmal tritt uns hier vor Augen, wie radikal dieses Lied gestaltet ist: das Geschehen, das sich an jenem Freitag des Jahres 30 zutrug, das Geschehen, das an jedem Karfreitag erinnernd vergegenwärtigt wird, kommt in diesem Lied als zukünftiges Geschehen zur Sprache – als zukünftiges Geschehen, für das jetzt die Stunde der Entscheidung naht:

 

   „Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen“ (Str. 7);

   „vergießen wird er [sc. der Feind] mir mein Blut, dazu mein  

   Leben rauben, das leid ich alles dir zugut, das halt mit festem

   Glauben“ (Str. 8)

           Und

 

   „Gen Himmel zu dem Vater mein, fahr ich von diesem Leben,

   da will ich sein der Meister dein, den Geist will ich dir geben,

   der dich in Trübnis trösten soll, und lehren mich erkennen  

   wohl, und in der Wahrheit leiten.“ (Str. 9)

 

So geht es Luther keineswegs darum, ein Geschehen der Vergangenheit zu erinnern, es geht ihm auch nicht darum, eine objektivierende Lehre vollendeten Heils vor Augen zu stellen, sondern er ruft in und mit diesem Lied hier und jetzt dazu auf, sich all dies sagen zu lassen, anzueignen, „mit festem Glauben [zu] halten“ (Str. 8). Daraus erklärt sich denn auch der Imperativ des Anfangs:  

 

   „Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und lasst uns fröhlich

   springen, daß wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe

   singen“ (Str. 1).

Allerdings kommt an dieser entscheidenden Stelle auch die Eigenart des Singens ins Spiel. Dieser Aufruf sich zu freuen (Str. 1), sich an Jesus zu halten (Str. 7) und sich sein Leiden uns zugute „mit festem Glauben“ geschehen zu lassen (Str. 8), baut sich nicht vor uns auf wie ein Gebirge an Forderungen und Imperativen, es stellt sich auch nicht dar als ein abstrakter, angestrengtes Nachdenken provozierender „Ruf in die Entscheidung“, sondern dieser Aufruf kommt schon zum Ziel, wenn ich anhebe zu singen, wenn ich Atem hole, den Mund aufmache und einstimme in die Worte und die Melodie, die Luther diesem seinem ersten Lied gegeben hat.

Zu singen „freut euch“ und sich freuen, sind eins – Singen ist ein performativer Akt, indem sich realisiert, wovon die Rede ist.

Das gilt auch von Strophe 10 – und hier wird es Zeit, auch einmal etwas Kritisches zu Luthers Dichtung anzumerken. Da heißt es – wir werden es gleich singen – :

 

     „Was ich [= Jesus] getan hab und gelehrt, das sollst du tun und

     lehren, damit das Reich Gotts werd gemehrt, zu Lob und sei-

     nen Ehren […]“ (Str. 10).

 

Gewiss, so soll es sein.

Doch hätte es in der performativen Logik, um die Luther ja wusste, ohne diesen Terminus zur Verfügung zu haben, nicht besser geheißen: „Was ich [= Jesus] getan hab und gelehrt, das kannst du tun und lehren“ oder „das wirst du tun und lehren“?

   Ja und Nein.

Ja, weil es eben der fröhliche Wechsel ist, der überhaupt erst dazu befähigt, so zu tun und zu lehren.

Nein, insofern in dem „Soll“, das Luther gewählt hat, zutreffend zum Ausdruck kommt, dass dieses Tun und Lehren nicht schon realisiert ist, indem ich dieses Lied singe und memoriere. Dieses Tun und Lehren ragt gewissermaßen hinaus über den gottesdienst-lichen Rahmen und über den Kreis der Gemeindeglieder – hinein in die Öffentlichkeit der alltäglichen Lebensführung.

 

Wir singen uns getrost, fröhlich und klug,

wir fangen hier im Gottesdienst an zu „springen“ (Str. 1),

im Wissen darum, dass wir außerhalb dieser Mauern, außerhalb des Klangraums dieses Liedes keinesfalls klüger, getroster, dynamischer auftreten – im Gegenteil: Dort, außerhalb dieser Mauern und dieses Klangraums neigen wir dazu, „der Menschen Satz“ zu befolgen, „davon verdirbt der edle Schatz“ (Str. 10).

Das „Sollen“ dieser vierten Strophe hält uns also bewusst, dass es einen „Graben“ gibt zwischen Sein und Sollen.

Es ist kein „garstiger Graben“, der besagt, dass das Sollen uneinholbar größer ist als das Sein, dass also die Realität immer hinter dem Ideal zurückbleibt.

Vielmehr ist es ein Graben, über den die Brücke schon gebaut wurde. Denn in Anbetracht der Strophen 1- 9 ist hier mehr Sein als Sollen. Im Licht dessen, was sich an einem Freitag des Jahres 30 zugetragen hat und was sich an diesem Freitag bei Ihnen und mir zuträgt, sind wir weit mehr als wir sollen. Wir sind „getrost“ und dürfen deshalb „mit Lust und Liebe singen“, ja, „fröhlich springen“. Es ist allein die Pietät vor der Tradition des Karfreitags, die uns daran hindert, sogleich loszulegen.

Amen, das ist: Möge dies auch an uns allen wahr werden!  

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unserer Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

[1] Dazu Gerhard Hahn: Nun freut euch, lieben Christen g’mein, in: Martin Evang, Ilsabe Seibt (Hg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Nr. 19, Göttingen 2014, 44-52, hier 45f.

[2] Martin Rößler, Art. Luther, Martin, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs, Göttingen 1999, 204-208, hier 205.



Prof. Dr. Bernd Schröder
Goettingen
E-Mail: Bernd.Schroeder@theologie.uni-goettingen.de

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