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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 14.05.2017

Predigt zu Matthäus 21:14-17, verfasst von Manfred Wussow

Mitten im Mai, noch in der österlichen Freudenzeit, trägt unser Sonntag einen schönen Namen: Cantate! Singet! Am letzten Sonntag hieß der Aufruf: Jubilate! Lobet, jubiliert! Und der nächste Sonntag steht unter dem Motto: Rogate! Betet, bittet! Was die drei Sonntage gemeinsam haben? Das große Vertrauen, jubeln und loben zu können, von Hoffnungen zu singen und im Gebet Gott nah zu sein. In seiner Gegenwart sind wir geborgen – und frei! Oder mit den Worten von Hans Dieter Hüsch, der mehr war als der Kabarettist vom Niederrhein:

 

ich bin vergnügt

erlöst

befreit

gott nahm in seine hände

meine zeit

mein fühlen, denken

hören, sagen

mein triumphieren

und verzagen

das elend

und die zärtlichkeit.

 

Hans Dieter Hüsch nannte sein Gedicht „Psalm“. Als Psalm steht er nun in der großen Reihe der Psalmen, der Lieder, die im Volk Gottes von alters her eine Welt besingen, die größer und weiter ist als die, in die wir uns vergraben, die wir über unsere Köpfe wachsen lassen, die Menschen heimatlos macht. In jedem Gottesdienst singen wir von ihr – von der Welt Gottes. Und in jedem Lied kommt sie zu uns – die Welt Gottes. Sie wird nicht nur besungen. Sie verwandelt uns. Sie schenkt uns Worte und Melodien. Wir werden getragen – und gelegentlich weit weg getragen. Darf ich fragen: Haben Sie ein Lieblingslied? Im Schatz der Kirchenlieder – oder auch sonst? Geht Ihnen die Melodie durch Kopf und Herz?

 

 

Blinde und Lahme

 

Mit den Lieblingsliedern ist das so eine Sache. Davon weiß auch das Evangelium ein Lied zu singen!

Wir lesen heute im Matthäus-Evangelium (21,14-17):

 

Und es kamen zu Jesus Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie.

Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich

und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen?

Jesus sprach zu ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?

Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

 

Jesus heilt Blinde und Lahme. Mit Jesus heißt, ist Gottes Zeit angebrochen. Die Propheten haben diese Verheißung in die Welt gesetzt. Es bleibt nichts, wie es ist. Egal, wie wir Wunder beschreiben – oder bestaunen: Wenn Blinde sehen und Lahme gehen, sind wir in der Welt Gottes. Aber es ist nicht ausgemacht, was „blind“ ist und was „lahm“.

Ich weiß von Menschen, die gut sehen – aber mit Blindheit geschlagen sind. Sie glauben alles zu sehen und sehen doch nichts. Sie sehen nicht einmal ihren eigenen bösen Blick. Sind sie nicht – blind?

Ich weiß von Menschen, die bestens laufen können – aber sich verirren. Sie sind mal verzagt und kleinmütig, ein andermal verwegen oder auch voller Ressentiments . Sind sie nicht - lahm?

 

Im Evangelium ist von neuer Sicht die Rede, von neuen Schritten. Es sind Blicke der Liebe. Es sind Wege der Liebe. Wir sehen und wir gehen, die Welt Gottes um uns und vor uns. Manchmal bin ich blind. Ich sehe alles schwarz. Oder rosa-rot. Manchmal trete ich zu fest auf. Ich mache Angst. Manchmal laviere ich. Ich verliere mich. Jesus heilt Blinde und Lahme. Er heilt auch mich.

 

Noch einmal Hans Dieter Hüsch:

 

Was macht, dass ich so furchtlos bin

an vielen dunklen Tagen?

Es kommt ein Geist in meinen Sinn,

will mich durchs Leben tragen.

 

Das große Geschrei

Matthäus beschreibt tatsächlich ein Wunder! Klar, die Widerstände (und Widerständler) werden auch sichtbar. Sie mögen Hohepriester und Schriftgelehrte heißen – oder sich heute in den Medien tummeln (und verstecken). Weltweit gibt es ein großes Interesse, Menschen blind zu halten und zu lähmen. Das erste Opfer von Auseinandersetzungen, Hasstiraden und Schlammschlachten ist immer die Wahrheit. Das soll nur keiner wissen, nicht einmal ahnen. Überall werden weiße Westen auf die Leine gehängt. Und Sprechblasen durch die ganze Welt gehetzt. Es ist große Kunst und hohe Profession, Menschen zu verdummen und sie mit Ängsten zu fangen. Sogar ganz legal. Aber da kommen die Unmündigen und Säuglinge ins Spiel! Eine ganz andere Garde! Sie haben nicht nur nichts zu verlieren (und gleichzeitig alles) - sie haben Gottes Lob im Mund – sie heben die Welt aus den Angeln.

 

Matthäus zitiert Psalm 8:

Ein Psalm Davids, vorzusingen, auf der Gittit.

HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!

Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge / hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

 

Es ist ein Lobpreis: Herr, unser Herrscher! Wir hören, wir sehen das große Staunen. Unser Blick wird auf Unmündige und Säuglinge gelenkt. Auf Menschen, die nichts zu sagen haben. Die Unmündigen, von denen der Psalm zu singen weiß, sind die Menschen aus der Unterschicht. Die kleinen Leute. Harz IV. Tagelöhner. Obdachlose. Zwangsarbeiter. Flüchtlinge. Ein buntes Gemisch. Staat ist mit ihnen nicht zu machen. Und als ob das nicht genügen kann: Säuglinge, die gerade zu atmen anfingen, die Hunger haben, die mit großen Augen in die Welt schauen, werden mit den „Kleinen“ zu Sängern einer neuen Welt. Sie halten nicht nur die Sehnsucht wach, dass alle Menschen einen Platz finden, dass alle in der einen Welt zu Hause sind, dass alle geliebt werden – sie haben, unterschiedlich und vielfältig, Gottes Lob im Mund. Eine eigentlich ungeheure Behauptung, die sich nur dann bewahrheiten kann, wenn uns die Unmündigen und Säuglinge zu Zeugen der Liebe Gottes werden. Sie sind da – und wir sehen uns geliebt!

 

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

 

Was ist der Mensch … was bin ich? Ein Kind, angenommen und geliebt.

Die Unmündigen und Säuglinge werden zu Sympathieträgern und Botschafter der Welt Gottes.

Matthäus erzählt von dem großen Geschrei im Tempel. Tatsächlich: Es sind Kinder, die laut und ohne jede Hemmung rufen: Hosianna dem Sohn Davids! Sie wissen, wer Jesus ist! Ein Wunder im Wunder! Hohepriester und Schriftgelehrte, die klugen und gelehrten Menschen, die die Welt längst nach ihren Vorstellungen geformt haben, stehen wie Blinde da und gleichen Lahmen. Langsam geht mir auf, warum in dieser Geschichte die Blinden und Lahmen geheilt werden: Sie sollen sehen, wer Jesus ist. Sie sollen seinen Weg erkennen. Sie sollen wie die Kinder sein!

 

Ich muss wohl Kind sein. Und wenn ich es nicht bin, groß und erhaben über alles, muss ich es werden.

 

Geben wir Hans Dieter Hüsch noch einmal das Wort:

 

Was macht, dass ich so unbeschwert

und mich kein Trübsinn hält?

Weil mich mein Gott das Lachen lehrt

wohl über alle Welt.

 

 

Ein Singspiel

 

Mitten im Mai, noch in der österlichen Freudenzeit, trägt unser Sonntag einen schönen Namen: Cantate! Singet!

Schaut man in Wikipedia nach, wird dort Singen als der musikalische Gebrauch der menschlichen Stimme vorgestellt, als wahrscheinlich die älteste und ursprünglichste musikalische Ausdrucksform des Menschen. Vieles entzieht sich unseren Worten. Vieles können wir nicht sagen. Aber gesungen finden wir den richtigen Ton. Für uns. Für andere. Wir können trotzig sein. Wir können trösten. Wir können zärtlich sein. Klagelieder haben ihre Zeit. Liebeslieder die ihre. Eins ist ihnen gemeinsam: das Vertrauen, uns in Liedern zu finden. Eine gemeinsame Stimme zu haben. Nicht alleine zu sein.

In diesem Jahr gedenken wir in besonderer Weise der Reformation. Martin Luther hat viele Lieder gedichtet und das Evangelium singbar gemacht. Nicht nur er. Was vor 500 Jahren anfing, fand in immer neuen Liedern einen Weg in die Herzen der Menschen. Das Buch, aus dem wir singen, ist dick - so dick wie die Erfahrungen und Geschichten der Menschen, die hinter den Liedern stecken. Eine Vielfalt, die kaum beschrieben, aber gesungen werden kann.

 

Ein feste Burg ist unser Gott …

Ich steh an deiner Krippen hier …

Auf, auf mein Herz mit Freuden …

 

Auf dem Kirchentag werden wir viele Lieder entdecken. Auch unsere Zeitgenossen wissen Liedern zu dichten und zu komponieren. Wir werden sie singen! Wir werden sie gemeinsam singen! In Hallen. Auf Plätzen. Und abends unter Laternen. Lieder stecken an! Unmusikalisch wird dann keiner sein.

Unser Evangelium heute (Martin Luther hat gerne „liebes Evangelium“ gesagt), lässt Blinde neu sehen und Lahme neu gehen. Wenn das noch nicht Grund genug ist, von Herzen zu singen, dann sind es die Kinder: Sie beschenken uns mit lautem Geschrei. Hosianna, dem Sohne Davids!

Wir können auch den 8. Psalm singen! In unserem Gesangbuch finden wir ihn.

»Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«

 

Diese – andere – Welt kann ich sehen. Ich kann sie besingen.

Meine eigene kleine Welt fürchte ich jetzt nicht mehr.

Ich kann mich auch aus ihrem Bann lösen.

Aber ich liebe sie.

Ihr will ich ein Liebeslied singen.

 

Hans Dieter Hüsch’s Psalm begleitet die Gemeinden der „Evangelischen Kirche im Rheinland“ durch das Reformationsjahr. Der Psalm ziert sogar das Briefpapier und die Internetseite. Es gibt keine Veröffentlichung, keine Stellungnahme, die ihn nicht trägt:

 

Ich bin vergnügt erlöst befreit.

Gott nahm in seine Hände meine Zeit,

mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,

mein Triumphieren und Verzagen,

das Elend und die Zärtlichkeit.

 

Übrigens: Die Melodie dazu ist längst komponiert. Dieser Psalm will gesungen werden!

 

Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre unsere Herzen und Sinne,

in Christus Jesus,

unserem Herrn!



Prädikant Manfred Wussow
Aachen
E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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