Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 14.05.2017

Predigt zu Matthäus 21:14-17, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

selbstvergessen sitzt er im Kinderanhänger hinten am Fahrrad. Die Sonne scheint meinem zweijährigen Sohn ins Gesicht, es ist warm, wir kommen vom Spielplatz. Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne, singt er fröhlich. Vor zwei Tagen hatten wir es im Gottesdienst gesungen, das Lied hat ihm gefallen. Er freut sich über die Sonne und verleiht seiner Freude Ausdruck. Gerührt fahre ich weiter.

Ein paar Wochen später sitzt er im Supermarkt vorne im Wagen. Halleluja, praise the Lord, schmettert er an der Kasse. Die Leute schauen mich etwas irritiert an. Unser Lied beim Abendessen – thank you, Lord, for giving us food – muss ihm wohl eingefallen sein, weil er hier von so viel Nahrung umgeben ist. ich bin etwas peinlich berührt.

Ich habe gelernt: Kinder reagieren sofort. Sie staunen und verleihen ihren Gefühlen Ausdruck. Sie singen, wenn ihnen danach ist – ob es passt oder nicht. Sie haben noch nicht den Filter im Kopf, wann etwas angemessen ist. Von Jesus erzählen die Evangelien, dass er ein besonders inniges Verhältnis zu Kindern hatte. Er hat sie gesegnet – gegen den Widerstand der Erwachsenen. Er hat sie zum Vorbild genommen, wie wir das Reich Gottes empfangen sollen – staunend und dankbar, mit einem Blick für das Wunder mitten im Alltag, mit einem Loblied auf den Lippen und im Herzen.

Als Jesus am Palmsonntag auf dem Esel nach Jerusalem einzog, müssen auch Kinder am Wegrand gestanden haben. Hosianna dem Sohn Davids, haben sie gehört und in ihren Herzen bewegt. Hosianna in der Höhe! Kurze Zeit später geht Jesus in den Tempel. Es ist einige Tage vor dem Passahfest. Ganz Jerusalem ist auf den Beinen. Geschäftige Händler verkaufen im Tempelvorhof den Jerusalemer Hausfrauen und Pilgern die letzten Opfertiere vor dem Fest. Familien bereiten sich auf die Feiertage vor, Menschen sind gekommen, um zu beten, andere sind da, um Freunde zu treffen. Als Jesus die Händler im Tempel sieht, wird er zornig und wirft die Tische um. Mein Haus soll ein Bethaus heißen, zitiert er den Propheten (Jes 56,7), ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus!

Kinder sehen ihm zu. Sie erinnern sich an den Mann, der nach Jerusalem eingeritten ist. In ihnen steigen die Worte wieder auf: Hosianna dem Sohn Davids! Hosianna in der Höhe! Die ersten nehmen schon wieder Palmzweige in die Hand. Die Eltern sind vielleicht irritiert, erst recht aber diejenigen, die im Tempel das Sagen haben. Das Matthäus-Evangelium berichtet von folgender Szene – im Predigttext für den Sonntag Kantate.

 

Mt 21,14-17

14 Und es kamen zu Jesus Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus sprach zu ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

 

Matthäus stellt wie auf einer Bühne zwei Gruppen einander gegenüber: zuerst die, die richtig handeln gegen die, die richtig zu handeln meinen. Die Händler, die zwar nicht gegen Regeln verstoßen und sich im Recht wissen, weil der Handel im Vorhof des Tempels erlaubt und erwünscht war. Die aber mit ihrem Streben nach Gewinn, ihrem Feilschen und Handeln den Sinn des Tempels in Frage stellen. Denn das ist der Ort, an dem Menschen Gott begegnen – ohne dass sie sich diese Begegnung erkaufen und bezahlen müssten. Ich muss nichts in den Händen haben, damit ich in den Tempel eintreten kann, kein Täubchen, das geopfert wird, keinen vollen Geldbeutel und keine Opferkerze, sondern es genügt, dass ich da bin und mit leeren Händen eintrete. Die Händler sind die, die richtig zu handeln meinen, und nicht nur die Händler hinter den Tischen, sondern ebenso auch die Käufer und Feilscher – und nicht zuletzt die Priester und Theologen am Heiligtum, die den Handel ermöglichen und unterstützen.

Ihnen gegenüber stehen die anderen. Als die Händler den Tempel verlassen haben, richtet Matthäus unseren Blick auf die Blinden und Lahmen, die zu Jesus kommen. Menschen, die an einer bestimmten Stelle ihres Lebens bedürftig sind. Sie kommen einfach so, wie sie sind – und Jesus heilt sie. Das sind die, die es richtig machen. Die verstanden haben, dass ich nichts mitbringen muss, wenn ich zu Gott komme. Vielleicht hindern mich meine vollen Hände sogar daran, mich ganz auf Gott einzulassen. Ein Wunder kann ich erst erleben, wenn ich meine Verletzlichkeit und Bedürftigkeit wahrnehme – und sie mitnehme in mein Gebet zu Gott. Lass dir an meiner Gnade genügen, so sagt Jesus Christus zum Apostel Paulus, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig (2 Kor 12,7).

Ganz unspektakulär berichtet Matthäus von diesem Wunder. Nicht ein einzelner, sondern viele kommen wie nebenbei mit leeren Händen in den Tempel und werden geheilt. Blinde werden sehend und Lahme können wieder gehen. Dass das ein Wunder ist, wird nur im Nebensatz erwähnt.

Matthäus erzählt weiter, und wieder stehen zwei Gruppen einander gegenüber: diejenigen, die das Wunder erkennen und angemessen darauf reagieren, und diejenigen, die es nicht erkennen können – die im eigentlichen Sinne blind und lahm sind.

Mit ihren Familien sind Kinder in den Tempel gekommen. Das Passahfest ist ein Pilgerfest für Menschen jeden Alters. Natürlich sind Kinder im Tempel dabei. Und wie sie halt sind: ungefiltert und begeistert fangen sie an zu singen. In ihren Herzen klingt es noch: Hosianna dem Sohn Davids – und die Kinder, die nicht dabei waren, stimmen schnell ein, die Melodie ist einfach und ansteckend, die Worte eingängig. Kinder erkennen Jesus wieder und staunen: da werden Menschen gesund und heil, ein Wunder ist geschehen! Das Wort des Psalms wird mit Wirklichkeit und Leben erfüllt: Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! (Ps 98,1) Kinder singen, wenn ihnen danach ist, und es ist ihnen gleichgültig, ob der Moment passt oder nicht. Hosianna dem Sohn Davids!, klingt es, vor lauter Begeisterung, staunend und fröhlich.

Die Kinder zeigen sich damit als die wahren Theologen, nicht die Erwachsenen, die Matthäus ihnen gegenüber stellt: die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die sich entrüsten, einander anstoßen und fragen: hört ihr auch, was die sagen? Und ich kann ihre gerunzelten Stirnen und ihre missbilligenden Mienen vor mir sehen. Aber Matthäus stellt uns vor Augen: Studierte Theologen erkennen die Zeichen der Zeit nicht und können ein Wunder nicht als Wunder wahrnehmen. Sie können kein neues Lied singen, sondern bleiben in ihren alten Liedern stecken. Was soll das für ein König sein, der auf einem Esel daher kommt? Einem zu vertrauen, der die Tempelhierarchie in Frage stellt, könnte gefährlich werden. Denn wer weiß, welche Hierarchien er außerdem noch anzweifelt.

 

An alten Liedern zu hängen, ist eine Versuchung. Ich stelle mir vor, wie ein Älterer unter den Schriftgelehrten mit verschränkten Armen da steht. Er hat Angst, dass seine Welt in Frage gestellt wird. Alte Lieder geben Sicherheit. Ich kenne ihre Melodie, kann mich in den Texten bergen. Alte Hierarchien und Erwartungen geben Sicherheit, auch wenn sie nicht mehr tragen. Studien sagen, dass viele Menschen lange in Beziehungen verharren, die ihnen nicht gut tun, weil sie Angst haben vor dem Neuen, und weil sie Angst haben, bei einem Neubeginn ins Nichts zu fallen.

Kinder haben es da leichter. Sie haben noch nicht so viele Erfahrungen gesammelt und können sich unbefangener auf Neues einlassen – sie sind neugierig, eher bereit, neue Lieder aufzugreifen und zu singen. Fällt es ihnen leichter, Gott zu loben? Jesus scheint davon auszugehen, wenn er aus den Psalmen zitiert: aus dem Munde der Säuglinge und Unmündigen hast du dir Lob bereitet (Ps 8). Es braucht kein Theologiestudium, um die Wunder zu erkennen, die Gott tut. Manchmal stehen uns sogar der Kopf und die Bildung im Weg.

 

Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! Heute, am Sonntag Kantate, werden wir dazu aufgefordert, neue Lieder zu singen unserem Gott, der wunderbar an uns handelt. Es ist nicht immer einfach, die Wunder zu sehen, die Gott wirkt. Die eigentlichen Blinden in unserer Geschichte sind nicht die, die Jesus wieder sehend gemacht hat, sondern die, die es nicht erkennen. Und sie sind auch die Lahmen – sie werden von Jesus einfach stehen gelassen, als er den Tempel wieder verlässt. Sie gehen nicht mit ihm, folgen ihm nicht, sondern bleiben einfach unbeweglich stehen.

Wie entdecken wir Gottes Wunder in unserem Leben? Vielleicht indem wir es den Lahmen und Blinden und Kindern nachmachen: indem wir mit leeren Händen, bedürftig und verletzlich zu Gott kommen, uns überraschen lassen und ihm unsere schwache Seite zeigen. Indem wir uns dem Augenblick öffnen und schauen, was geschieht. Indem wir mal versuchen, unsere alten Lieder für den Moment nicht zu singen. Mal nicht zu denken: aber es war schon immer so... Vielleicht empfinde ich dann den Zweijährigen, der an der Kasse ein fröhliches Lied kräht, als Wunder. Oder die Sonne, die mein Gesicht wärmt, und den Regen, der meinen Garten grünen lässt, oder das Essen, das ich mit der Freundin teile.

Wunder sind unscheinbar und tarnen sich. wir entdecken sie nicht, wenn wir von Anfang an wissen, was wir suchen. Hilde Domin schreibt: Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten. Und wenn das Wunder sich dann auf unsere ausgestreckte, leere Hand setzt, dann ist die angemessene Reaktion darauf: zu singen. Amen.



Pastorin Dr. Sibylle Rolf
D-68535 Edingen-Neckarhausen
E-Mail: sibylle_rolf@web.de

(zurück zum Seitenanfang)