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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 14.05.2017

Predigt zu Matthäus 21:12-17, verfasst von Christiane Borchers

Liebe Gemeinde!

Wie jeden Morgen machen sich Andreas und Simon auf den Weg zum Tempel. In den kühlen Morgenstunden ist der Weg nicht ganz so beschwerlich als in der Hitze des Tages. Andreas und Simon helfen sich gegenseitig. Andreas kann nicht laufen. Das ist er nicht immer gewesen, das sagen ihm jedenfalls seine Verwandten, bei denen er im Haus lebt. „Böse Menschen haben dir die Beine gebrochen“, hat sein Onkel ihm erzählt „sie wollten mit dir Geld verdienen. Einem Bettler, der lahm ist, geben die Leute eher etwas, als einem gesunden kräftigen Jungen.“ Das ist lange her, als er das gehört hat. Andreas weiß, er ist kein Ausnahmefall. Im Laufe von Jahren hat er sich damit abgefunden, dass er nicht laufen kann. Er ist immer mal wieder bei Heilern gewesen, aber niemand hat ihm helfen können. Andreas hat sich mit Simon angefreundet. Simon hat ebenfalls ein Handicap, er ist blind, das ist er von Geburt an.

Andreas setzt sich auf sein Brett mit Rollen. Mit seinen Händen stützt er sich vom Boden ab und bringt das Gefährt in Bewegung. Simon tastet sich an der Mauer der engen Gassen entlang. Wenn Andreas eine Unebenheit mit seinem rollenden Brett nicht schafft, greift Simon ihm unter die Arme, hilft ihn über die Stelle hinweg. Umgekehrt macht Andreas Simon auf Hindernisse aufmerksam, wenn dieser Gefahr läuft, gegen einen Karren zu stoßen.

Andreas und Simon erreichen den Tempel. Sie setzen sich an ihren angestammten Platz im Vorhof der Völker. Aus ihrer Tasche holen sie einen kleinen Becher. Den stellen sie vor sich hin. Sie erbetteln sich ihren Lebensunterhalt. Etwas anderes als Betteln bleibt ihnen nicht übrig. Sie können weder Schafe hüten oder auf dem Feld arbeiten, noch ein Handwerk ausüben. „Wir haben hier einen guten Platz“, sagt Simon. „Viele gehen zum Stand von Anneus und wechseln ihr Geld in Tempelgeld. Sie kommen direkt an uns vorbei“. „Unser Standort hat Vorteile“, bekräftigt Andreas. „Die Leute wollen opfern. Die Opfertiere, die Tauben, können sie nur mit dem Tempelgeld, dem tyrischen Halbschekel bezahlen. Außerdem haben wir hier einen guten Überblick. Wir können die Leute beobachten, dann wird uns nicht so langweilig“ „Wo die alle herkommen!“, staunt Simon. „Ja“, sagt Andreas: „Viele kommen von weither, aus Phönizien und Arabien, aus Kyrene und Rom, aus Ägypten und Äthiopien. Das erkenne ich an der Kleidung.“ „Fromme Juden wollen im Tempel von Jerusalem ihr Opfer bringen“, sagt Simon, „es ist ein Segen, dass wir diesen Tempel haben. Nicht nur wegen des Geldes, das natürlich auch - wir brauchen es ja zum Leben. Nein, ich finde es schön, dass Gott hier gepriesen wird“ und zitiert seinen Lieblingspsalm „Gott, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt“ (Ps 26,8).

„Der Tempel selbst ist eine Pracht“, schwärmt Andreas „Er ist mit edlen Holz aus dem Libanon verziert, die hohen Säulen sind aus rotem oder schwarzem Marmor. Wenn die Sonne durch die Säulen scheint und der Tempel in einem goldenen Licht leuchtet, denke ich: Ich bin schon im Himmel.“ „Noch sind wir hier“, lacht Simon „Streng dich an, damit Geld in die Kasse kommt.“ „Habt Mitleid mit einem Armen“, ruft Andreas den Leuten zu, klappert dabei mit ein paar Münzen im Becher. Ein Pilger wirft einen Schekel in den Becher „Gepriesen sei der Allmächtige“, bedankt sich Andreas.

„Was ist denn das für ein Lärm!“ Andreas Augen halten Ausschau nach der Ursache des Lärms. Am Stand für die Opfertauben bahnt sich ein Tumult an. „Schert euch weg“ erbost sich ein Mann und stößt den Stand mitsamt den Opfertieren um. Aufgebracht läuft er von Stand zu Stand, schimpft und erhebt drohend die Hand: „Ihr Geldwechsler und Taubenhändler, seht zu, dass ihr verschwindet und nehmt eure Kunden gleich mit. Hier ist ein Tempel und keine Räuberhöhle. ‚Mein Haus soll ein Bethaus sein‘, das hat schon der alte Prophet Jesaja gesagt.“

Andreas und Simon haben die Szene mit verfolgt. Der Mann ist außer sich. „Die Händler packen tatsächlich ihre Waren ein“ bemerkt Andreas, „das wundert mich, denn ein Rabbi ist er nicht, auch kein Schriftgelehrter. Komm, wir gehen da mal hin.“ Andreas robbt sich über den Platz, Simon folgt ihm. Sie erreichen den Mann, der so eifrig und unerschrocken die Stände der Händler vertreibt. Andreas und Simon sind nahe bei ihm, sie können ihn mit ihren Händen berühren. Der Fremde dreht sich um, blickt auf Andreas und Simon, sieht, dass der eine lahm und der andere blind ist. Seine Wut verwandelt sich augenblicklich in Erbarmen. Der fremde Mann schaut die beiden behinderten Männer liebevoll an. Er legt ihnen die Hände auf ihre Gebrechen, lässt sie eine kleine Weile ruhen. Dann spricht er ein Gebet und dankt Gott. Andreas und Simon sind zutiefst berührt. Wer ist der Mann, der sie annimmt und keinen Bogen um sie macht? Wer ist der Mann, der sich ihnen zuwendet und ihnen Aufmerksamkeit schenkt? Andreas spürt eine Kraft in sich aufsteigen, die ihm Flügel verleiht. Simon fühlt, wie sich ein helles Licht in ihn ausbreitet.

Andreas und Simon sind erfüllt von dem, was sie erleben. Sie können nicht fassen, was mit ihnen geschieht. Hier ist einer, der sie nicht verachtet, hier ist einer, der sie nicht ausschließt, sondern teilhaben lässt. Für sie ist das Reich Gottes in diesem Moment angebrochen. Sie sind ganz in sich versunken und fühlen sich ein bisschen wie nicht von dieser Welt. Fast brutal werden sie aus ihren Gedanken und Gefühlen herausgerissen. Eine Kinderschar läuft mit Gejohle über den Tempelvorhof, ruft laut: „Hosianna dem Sohn Davids! Hosianna dem Sohn Davids!“

Was ist los? Was rufen die Kinder da? Andreas und Simon sind etwas durcheinander. Erst dieser Tumult mit den Händlern und Geldwechslern, dann die Begegnung mit dem fremden Mann, jetzt das Rufen der Kinder. „Sohn Davids, so dürfen wir nur den Messias nennen“ ruft Simon ehrfürchtig in Erinnerung. „Die Heilsrufe sind nur Gott und den Messias bestimmt.“ „Das sind doch bloß Kinder!“ winkt Andreas ab. „ Was wissen Kinder schon vom Messias und von Heilsrufen. Sie werden die Hosianna- und Sohn Davids-Rufe aufgeschnappt haben.“ Andreas nimmt das Geschrei der Kinder nicht ernst. Doch dann lassen ihn die Gedanken an ihre Heilsrufe nicht los. Die Kinder bejubeln den Mann als den Sohn Davids. Sollte der fremde Mann der Messias sein, der die Welt erlöst? Sollte er der sehnlichst Erwartete sein, von dem die heiligen Schriften sagen: ‚Lahme macht er gehend und Blinde sehend‘? „Ist dieser Mann nicht derselbe, der gestern auf einen Esel in die Stadt hinein ritt?“ kommt es Simon in den Sinn. „Den haben doch viele Menschen mit Palmblätter jubelnd empfangen und „Hosianna, dem Sohn Davids“ haben sie gerufen.“ Die Szenerie steht Andreas deutlich vor Augen.

Jetzt wird es den Pharisäern und Schriftgelehrten aber zu bunt. Sie haben das Treiben des Jesus von Nazareth versteckt hinter einem Mauervorsprung belauert. Sie dulden nicht länger, wie der sich aufführt und sich huldigen lässt. „Wir müssen diesen Mann stoppen. Er maßt sich an, der Messias selbst zu sein“, entrüstet sich der Oberste der Pharisäer. „Das können wir uns nicht gefallen lassen“, bestärkt ihm sein Kollege. „Täusche ich mich, oder sehe ich den Mann, der eben noch seine Beine hinter sich herzog, versucht, aufzustehen?“ „Der andere kommt mir ebenfalls verändert vor“, äußert sich ein anderer Pharisäer. „Er tastet nicht mehr unbeholfen herum, sein Schritt ist sicherer geworden.“

„Wir können nicht tatenlos zusehen, wie er womöglich Wunder tut“, ereifert sich verärgert Zebedäus. Und schon gar nicht können wir zulassen, dass er sich die Heilsrufe der Kinder gefallen lässt. Sie sind zwar nur Kinder, aber die Leute hören ihre Rufe. Die Leute werden verunsichert und könnten sich fragen, ob Jesus nicht wirklich der Messias ist.“ „Das bringt nur Unruhe mit sich“, empört sich Zebedäus. „Jesus ist der Sohn eines Handwerkers aus Nazareth. Ein Freund von mir kennt seinen Vater“, beruhigt ihn ein Schriftgelehrter, “Er ist ein gefährlicher Gotteslästerer, den wir beiseiteschaffen müssen“, fordert Amos aufgeregt. „Er lästert Gott, wenn er sie in dem Glauben lässt, dass er der Messias sei. Er lästert auch Gott, wenn er Wunder tut. Steht er mit dem Teufel im Bund? Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind sich darüber im Klaren: Sie müssen eingreifen, Jesu Heilungswunder verbieten, die Hosainna und Sohn Davids-Rufe müssen aufhören.

Die Pharisäer und Schriftgelehrten eilen mit schnellen Schritten auf Jesus zu, Unheil bahnt sich an. Es kommt zum Disput, Andreas und Simon erleben die Streitereien hautnah. Sie hören, wie die Pharisäer Jesus bedrängen, er soll schleunigst seine Heilungen einstellen und die ungehörigen Heilsrufe der Kinder abwehren. Andreas und Simon warten ängstlich gespannt, wie Jesus darauf reagiert. Erleichtert und mit Bewunderung stellen die beiden fest: Jesus lässt sich nicht einschüchtern. Stattdessen beruft er sich auf ein Wort aus der Heiligen Schrift: „Aus dem Munde der Unmündigen und Kinder hast du dir, Gott, Lob bereitet“ (Ps 8,3). Dann geht er weg und lässt seine Kritiker und scharfen Gegner einfach stehen.

Der Friede hat nicht lange dauert. „Schade“, bedauert Simon, „Jesus hat den Tempel für eine kurze Zeit in einen heiligen und heilen Ort verwandelt.“ Andreas und Simon gehen zu ihrem angestammten Platz, räumen ihre Sachen ein, geben das Geld, das im Becher liegt, in einen Opferstock. Sie brauchen nicht mehr zu betteln, sie können laufen und sehen. Sie werden ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Andreas will seinen Onkel fragen, ob er zwei gute Hirten brauchen kann. Oder Simon fragt seinen Nachbarn, dem Zeltmacher, ob ihm noch vier kräftige Hände zum Flicken der Zelte fehlen. Fröhlich verlassen die beiden Freunde den Tempel. Innerlich ist ihnen wie den Kindern zumute, die die messianischen Heilsworte rufen. Sie fühlen sich selbst wie Unmündige und Kinder, die nicht viel wissen, die aber aus vollem Herzen über Gott und seine Wunder in Jubel ausbrechen. Amen.  

EG-Nr. 650,1-3 Wir haben Gottes Spuren festgestellt

EG Ausgabe für die Ev.-ref. Kirche, Ev. Kirche im Rheinland, Ev. Kirche von Westfalen und Lippische Landeskirche



Pfarrerin Dipl.Theol. Christiane Borchers
Emden
E-Mail: christiane.borchers@web.de

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