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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Rogate, 21.05.2017

Unverschämter beten!
Predigt zu Lukas 11:5-13, verfasst von Wolfgang Voegele



„Und [Jesus] sprach zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf. Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn der ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange für den Fisch biete? Oder der ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion dafür biete? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist Sonntagabend, die Familie drängt sich fläzend auf der Couch, im Fernsehen hat läuft gerade die Titelmelodie des „Tatorts“. Der starre Arm der Leiche ragt halb aus dem Wasser, und die schlecht gelaunten Kommissare motzen zuerst einmal die Spurensicherung an, weil die eine Schleifspur übersehen hat. Im Wohnzimmer knistern die Kartoffelchips. Die Kommissare fragen: Ist das Handy der Toten schon gefunden worden? Da klingelt es an der Tür. Alle Familienmitglieder denken: Ausgerechnet jetzt! Alle warten noch ein wenig, in der Hoffnung, daß sich einer der anderen einen Ruck gibt, aufsteht und die Tür öffnet.

Vater gibt als erster auf, geht zur Tür, öffnet und sieht überrascht den Nachbarn vor sich stehen. Der Nachbar entschuldigt sich für die Störung. Mein Wagen springt nicht an, können Sie mir Starthilfe geben, Sie haben doch die Kabel in der Garage im Regal liegen. Der Vater unterdrückt ein Seufzen, nimmt den Autoschlüssel und begleitet den Nachbarn zum Parkplatz. Eine Viertelstunde dauert es, bis die Kabel richtig angeschlossen sind, man macht das ja nicht jeden Tag. Bevor der Nachbar davon fährt, bedankt er sich knapp: Das nächste Mal bin ich dann dran. Der Vater geht seufzend zurück in die Wohnung. Den „Tatort“ im Fernsehen kann er sich jetzt schenken[1]. Das Bier ist schal geworden, und die Chips haben seine Töchter längst aufgegessen.

Liebe Gemeinde, wenn Sie nun mit dem Vater Mitleid haben, dann liegen Sie ganz falsch. Theologisch interessant ist nicht der Vater, der den „Tatort“ verpaßt. Hilfsbereitschaft kostet Zeit. Leichter Groll wegen eines verpaßten Krimis verweht schnell. Den Glauben fordert der bittende Freund heraus, der unbedingt zur Unzeit eine Starthilfe benötigt. Dafür nimmt er es in Kauf, bis zur Zudringlichkeit unverschämt zu werden. Darf ich dem anderen das zumuten, mir zu helfen? Darf ich ihn bitten? Darf ich ihn nötigen, mir zu helfen? Der bittende Nachbar hat sich das vielleicht gar nicht bewußt gemacht. Aber er weiß genau: Der beim Fernsehen gestörte Vater will das gute Verhältnis zu den Nachbarn nicht riskieren. Er will nicht das Gesicht verlieren, indem er die Bitte des Freundes ablehnt, selbst wenn es ihm gerade zeitlich ganz und gar nicht paßt.

Jeder weiß, die Bitte um Hilfe kann sich ja noch steigern, zum Beispiel in der Fußgängerzone: Hastema nen Euro für mich? spricht der Obdachlose den Passanten an. Und es liegt am Passanten, wie er diese Situation auflöst und der Bitte nachkommt oder einfach weitergeht.

Passant und Obdachloser kennen sich in der Regel nicht. Das Gleichnis, das Jesus erzählt, interessiert sich aber nicht für Begegnungen zwischen Unbekannten, die schnell vergessen sind. Jesus zielt mit seiner Geschichte auf die (gegenseitige) Hilfe zwischen Nachbarn und Kollegen, Vereinskumpels und besten Freundinnen, für diejenigen, denen niemand eine Bitte, mag sie auch noch lästig sein, abschlagen wird. Auch bei der lästigen Bitte wird der Kumpel aus dem Fußballverein oder die Freundin aus der Girlsgang zu sich selbst sagen: Es paßt mir zwar nicht, aber um der Beziehung, Freundschaft willen mache ich das jetzt und sage nichts. Das erträgt jeder mit der Gelassenheit des Alltags. Ich könnte selbst einmal in die Situation kommen, daß ich Hilfe von meinem besten Freund benötige.

Achtung! Nun folgt der Kopfsprung aus dem Alltag in den Glauben.

Jesus gelingt es, diese Gelassenheit des Alltags zu durchbrechen. Er sagt im Kern: Beten – das ist Unverschämtheit, in den Glauben gewendet. Wer betet, wendet sich unverfroren und aufdringlich zu Gott. Für diese ungewöhnliche Praxis der Frömmigkeit benötigen die Glaubenden eine Anleitung. Der gesunde Menschenverstand des Alltags pflegt ja eher zu erklären: Wer betet, der hat es nötig, weil er sich nicht selbst helfen kann. Deswegen eignet dem Beten etwas Verdruckstes, Heimliches, Verschwiegenes, das das Licht der Öffentlichkeit scheut, mit Ausnahme des Gottesdienstes. Aber der Glaube steht hier ausnahmsweise strikt gegen die Weisheit des Alltags. Beten heißt: in großer Zuversicht unverschämt das Wort ergreifen.

Wer das Beten üben will, findet im Neuen Testament das Vaterunser als großes Vorbild für alle anderen Gebete. Schon Kinder lernen es auswendig, im Kindergarten und in der Kinderkirche, im Religions- und Konfirmandenunterricht, wenn sie es nicht sowieso schon aus dem Gottesdienst kennen. Aber in dieser Geschichte vom bittenden Freund geht Jesus über das Vaterunser hinaus und erweitert die möglichen Inhalte des Gebets ganz erheblich, bis hin zu dem Spitzensatz: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“

Aber dieser Spitzensatz verwandelt Gott nicht in eine gute Fee, die im Märchen ihren Zauberstab zweimal im Kreis schwingt, woraufhin die erbetene Waschmaschine anschlußfertig und vom Styropor der Verpackung befreit im Badezimmer wartet. Jesu Anleitung zum Beten führt zum Gott der Bibel und seinen Verheißungen. Bittet, sucht und klopft: In diesen drei Aufforderungen Jesu höre ich zuerst einmal eine ungeheure Weite des Betens. Sie greifen sehr viel weiter als das konzentrierte gemeinsame Sprechen des Vaterunsers im Gottesdienst. Das Beten kann sehr unterschiedliche Tonlagen annehmen: Betende schreien vor Zorn, stammeln vor Aufregung, stottern vor Peinlichkeit, schnauben vor Wut. Betende schweigen auch, weil ihnen die Worte fehlen, weil ihnen ihr Elend oder das Elend der Welt die Sprache verschlagen hat.

Wer danach wieder Worte findet, der fängt an: Lieber Gott! Barmherziger Gott! Vater unser! Mit den ersten Worten des Gebets treten die Betenden einen Schritt neben sich selbst und die Welt. Sie haben Gespräche mit anderen und Handlungen in ihrer Lebenswelt beendet. Denn sie haben eingesehen, daß sie durch Denken, Sprechen und Handeln zwar vieles, aber nicht alles erreichen können. Die erste Einsicht der Betenden lautet darum: Ich wende mich Gott zu, egal ob aus Gewohnheit oder aus Not. Ich nehme mir Zeit und Konzentration, schenke meine Worte und Gedanken. Ich trete einen kleinen Schritt aus der Welt heraus.

Wer betet, erkennt die Existenz Gottes an. Suchet Gott, so werdet ihr finden, heißt es. Das Gebet ist eine Tür, die über die alltägliche Wirklichkeit hinaus zu Gott führt. Daß es diese Tür gibt, darauf könnt ihr euch verlassen, sagt Jesus. Wer betet, nimmt eine Suchbewegung hin zu Gott auf.

Das Beten ist zweitens keine Einbahnstraße. Kein Gebet verhallt unerhört in den Weiten des Universums. Sondern alle Betenden erhalten eine Antwort. Die Bittenden bekommen etwas. Die Suchenden finden. Den Klopfenden öffnet sich eine Tür. Wer betet, erhält eine Antwort, in jedem Fall. Das gilt auch für diejenigen, die schweigend beten, für die Sprachlosen, denen die Worte fehlen, für die völlig Verzweifelten, denen nicht einmal Worte der Klage einfallen. Trotzdem! Beten ist keine Einbahnstraße. Auf der Straße des Gebets herrscht Verkehr. Gebet ist Kommunikation. Der Bittende, der anklopft, steht vor der Tür. Und es ist jemand zuhause. Die Tür öffnet sich.

Was ist das für ein Gott, der die Türen „öffnet“? Wie ist das zu verstehen? Jesus ermuntert seine Jünger und alle Glaubenden zum Beten. So eröffnet er ein Gespräch zwischen Gott und den Glaubenden. Gott antwortet. Diese Zusage steht wie eine Überschrift über Jesu Geschichte vom bittenden Freund.

Nun ist aber deutlich zu sagen: Daß Gott antwortet, das gilt für den Gott, von dem Jesus von Nazareth erzählt. Viele Menschen haben von Gott eine sehr formale Vorstellung. Er ist das Wesen, das alles vermag. Er kann den Zufall steuern wie die Kugeln in der Lostrommel der Lotterie. Er ist die Fee, die die Waschmaschine herbeizaubert und den Tumor verschwinden läßt, der Marionettenspieler, welcher an den Fäden unseres Lebens zieht und sie irgendwann, hoffentlich erst im hohen Alter, abschneidet. Er ist der Generalfeldmarschall, der strategisch und streng über die Geschicke des Lebens und der Wirklichkeit wacht. Bei vielen Menschen mischen sich, wenn sie an Gott denken, vieles an Wunschvorstellungen und weniger an biblischer Erkenntnis.

Liebe Schwestern und Brüder, Jesus von Nazareth spricht von seinem, einem ganz anderen Gott. Er ist keine blonde Fee im rosa Rüschenkleid, kein Zauberer im Frack, kein schwarzgekleideter Marionettenspieler, kein ordensbehängter Generalfeldmarschall. Jesus spricht in seinen Reden und Predigten von einem anderen Gott. Er wirbt für Gott den Vater, für den, der seine Sonne aufgehen läßt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45), für den, der – bildlich gesprochen – an der Tür steht und auf die Betenden wartet. Jesus spricht von dem Gott, den er „Unser Vater im Himmel“ nennt. Sein Reich verkündet er, die Botschaft seiner Liebe gibt er weiter.

Und wenn die Betenden Gott suchen, schweigend oder seufzend oder klagend oder schreiend, dann gibt kein anderer Gott Antwort. Und er antwortet mit den Verheißungen, die sich bereits in der Bibel finden: Gottes Reich, das himmlische Jerusalem, wo sich Gerechtigkeit und Liebe küssen, Vergebung, Versöhnung, Liebe.

Im Angesicht dieser Antworten mag sich manche Bitte eigensinnig, ja sogar egoistisch ausnehmen. Aber ich bin mir sicher: Wer sich auf die Suche nach Gott begibt, der wird mit diesen Wünschen anders umgehen, wenn er Bekanntschaft gemacht hat mit den großen Verheißungen Gottes. Auch das ist eine Erkenntnis aus Jesu Geschichte: Das Klopfen, Bitten, Suchen hört nach dem ersten Gebet nicht auf, es setzt sich fort in einem lebenslangen Prozeß. Es geht eher um ein dauerndes Wachstum als um eine plötzliche Veränderung. Und das Ergebnis kann man nicht vorhersagen.

Das Gebet, habe ich am Anfang gesagt, versetzt den Beter einen Schritt aus dem Alltag heraus. Im Sprechen mit Gott fällt auf die Welt ein neues, barmherziges Licht. Und darum wirkt sich das Gebet, das Suchen, Klopfen, Bitten auf den Alltag aus. Ich bin überzeugt, daß sich das so verhält. Denn die Selbstverständlichkeit und Unveränderlichkeit des Alltags erhält einen kleinen Riß. Das Kontinuum des Alltags wird durchbrochen, und im Gebet erhält die Beziehung des Glaubens einen kleinen Raum, nein, eine Tür, die einen wesentlichen Unterschied ausmacht. Jesus erzählt im Evangelium die Geschichte des Gottes, der den Menschen barmherzig entgegenkommt und sie an- und aufnimmt. Wer seine Welt in dieser Perspektive sieht, der erblickt seinen Alltag in einem neuen Blickwinkel. Er sieht die Welt von den Erfahrungen her, die er im Gebet mit Gott gemacht hat. Die Glaubenden sehen mehr als die Gesetze von Geben und Nehmen, von Treten und Getretenwerden, vom Jagen nach Vorteilen und von der Ohnmacht der Kleinen und Benachteiligten. Und wer mehr sieht, der kann auch – nämlich liebender und barmherziger – handeln.

Ich will das gar nicht verschweigen: Wer diese im Gebet erlernte neue Sichtweise in seinen Alltag einbringt, der merkt genauso schnell, daß er sich in einem Kampf befindet, denn die Gewohnheiten des Alltags lassen sich nicht so ohne weiteres überwinden. Menschen sind nicht in der Lage, Gottes Reich aus eigener Kraft herzustellen. Das ist allein Gottes Sache. Aber wer klopft, bittet und sucht, der weiß auch, daß er eine Antwort bekommt. Wer betet und glaubt, kann sich der Hilfe Gottes gewiß sein.

Und der Friede Gottes, der alle Betenden erhört und ihnen eine Tür zum Glauben öffnet, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

[1] Über den Zusammenhang von Krimis und Theologie informiert: Wolfgang Vögele, Kriminaldauerdienst Eine Spurensicherung zu Erzähltheorie und Theologie des Krimis in sechsundvierzig Indizien, tà katoptrizómena, Heft 104, Dezember 2016, https://www.theomag.de/104/wv27.htm.



Pfarrer Dr. Wolfgang Voegele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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