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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 01.01.2008

Predigt zu Matthäus 6:5-13, verfasst von Inger Hjuler Bergeon

Mein Thema heute, am ersten Tag des Jahres, ist das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Situationen: wenn man an den Straßenecken steht, sich also im öffentlichen Raum befindet, und auf der andern Seite, wenn man in sein Kämmerlein geht, sich also in seinem privaten Raum befindet.

             In dem kurzen Evangelium von heute hören wir, was man nicht tun soll an den Straßenecken, also im öffentlichen Raum, sondern  was man stattdessen im Verborgenen tun soll. Zuhause. Privat. Für sich selbst.

             Aber das Paradoxe ist nun, dass das Gebet, das wir im Verborgenen, im Kämmerlein bei uns selbst beten sollen, ohne dass das jemand zu sehen oder zu hören bräuchte, dass dies Gebet sicherlich das öffentlichste von allen Gebeten ist.

             Denn das Vaterunser handelt von der Gemeinschaft. Es ist das Gebet der Gemeinschaft zu Gott. Es handelt auch von jedem Einzelnen von uns. Aber das Phantastischste am Vaterunser ist, dass wir WIR und UNS sagen. Wir wenden uns an Gott, beten zu Gott, bitten Gott. Und wir sagen DU zu Gott. Aber wir tun es nicht von einem ICH aus. "Ich bitte dich. Ich danke dir. Ich hoffe. Ich wünsche. Ich befürchte." Nein, wir beten im Plural. "Gib uns heute. Vergib uns unsere Schuld. Führe uns nicht." Die Sätze also, die mit dem Betenden zu tun haben, stehen im Plural. Aber die Sätze über Gott, die von demjenigen handeln, zu dem wir beten, ja, die stehen im Singular: wir sagen DU. Und diese Sätze sind weitaus in der Überzahl. Denn das Gebet handelt vor allem von Vertrauen. Und von Hoffnung. Von Zuversicht. Denn Gott ist einer, den wir heilig halten, und auch seinen Namen halten wir heilig, denn was Gott will, ist so gut und wahr, dass es im Himmel und auf Erden gelten muss. Deshalb geben wir Gott die Ehre. Und wir haben das Vertrauen, dass all das, was wir für uns selbst und für einander wünschen könnten, möglich ist, denn das Reich, und die Macht und die Herrlichkeit ist Gottes.

             Das Vaterunser ist ein Gebet, das das Vertrauen in Gott setzt. Das mit einfachen Worten alles Vertrauen und Zutrauen in Gott setzt.

             Aber das geschieht nicht in erster Linie in dem Einzelnen, oder für den Einzelnen, der in den dunklen Tunneln seines Herzens dahin findet, dass Gott mich in meiner Anfechtung tröstet. Es ist vielmehr so, dass wir in unsrer Angst und Verzweiflung, oder in unsrem Dank und unsrer Fürbitte, Worte in den Mund nehmen und sie zu den unsrigen machen können, die andre Menschen in Jahrtausenden gebraucht haben. Und wenn wir dieses Gebet sprechen, das UNS gilt, wenn wir es als die eigenen Worte in den Mund nehmen, vielleicht zuhause und privat, im Kämmerlein unsres Herzens, ja, dann werden wir in einen Zusammenhang gestellt. Wieder in die Gemeinschaft mit andern Menschen. Und wieder hinaus in das Leben. Unter andere. Mit Gott.

             Es ist uns nicht gestattet, im Vaterunser in unsrem eigenen Kämmerlein zu bleiben. Denn die ganze Hinwendung handelt von einem Gott, der UNS etwas will. Jedem Einzelnen auch, gewiss, aber nur als ein Teil von andern. In Verantwortung und Fürsorge. Also, kurz gesagt, in Liebe.

             Das Gebet ist also ein Gemeinschaftsgebet, weil wir als WIR beten.

             Vielleicht ist es auch eines der wenigen Gebete, die wir öffentlich und gemeinsam beten können, ohne dass das allzu privat und schamhaft wird. Zugleich ist es ein konkretes Gebet. Es löst sich nicht auf in fromme, unhandgreifliche und unverständliche schöne Worte. Es hält uns in der Gegenwart fest. In dem, was nahe ist: Gib uns heute, führe uns nicht. Aber nicht als eine Moral, nicht als eine Belehrung, sondern als Gebet. Eine Bitte. Ein Anflehen: Du, der du im Himmel und auf Erden bist, du, dessen Wille mit uns im Himmel und auf Erden gilt, dein ist die Herrlichkeit und du hast die Macht, Leben, Mut und Lebenslust in uns zu pusten.

             Und dein Wille, deine Herrlichkeit, dein Reich gilt uns allen. Es gibt keine betenden Menschen, die diese Worte nicht in den Mund nehmen können.

             Denn das Vaterunser kann von jedem gebetet werden, Jude, Christ, Moslem oder anderen. Denn es ist auf wunderbare Weise so konkret und so fromm im besten Sinne des Wortes, ohne zugleich Grenzen zu errichten.

             Gewiss ist es unser Gebet, in der christlichen Kirche auf der ganzen Welt, wie verschieden wir auch sein mögen, sollte aber jemand das Gebet zum ersten Mal in seinem Leben hören, ohne seinen Ursprung zu kennen, so ist nichts darin, was andre davon ausschlösse, es zu beten.

             Und das ist wundervoll: ein Gebet, so voller großer Hoffnung und zugleich so konkret und gegenwärtig, ein Gebet, das keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt davon ausschließt, Hoffnung und Vertrauen auszudrücken. Gemeinsam mit andern.

             Wir werden also aufgefordert, im Geheimen zu beten, aber das Gebet, zu dem wir aufgefordert werden, ist ein Gemeinschaftsgebet, denn wir sagen WIR und es gilt allen. Es schließt niemanden aus.

            

Das Zweite, was ich über das Verhältnis von Kämmerlein und Straßenecke sagen möchte, ist dies: sich bewegen können zwischen diesen beiden.

             Wir hören von dem Heuchler, dem wir nicht gleichen sollen, der dasteht und in aller Öffentlichkeit an einer Straßenecke betet, so dass andre ihn sehen und hören können. Und dann werden wir aufgefordert in unser Kämmerlein zu gehen, die Tür zuzuschließen und zu unserm Vater zu beten, der im Verborgenen ist.

             Wir sind also aufgefordert, uns zu verbergen oder zu verstecken oder uns zurückzuziehen, wenn wir beten wollen. Und der, zu dem wir beten, ist als einer gekennzeichnet, der im Verborgenen ist. Und das Gegenteil ist dann, an einer Straßenecke zu stehen und das Mundwerk gehen zu lassen, so dass andre es sehen und bewundern können.

             Für mich ist das ein Bild für den öffentlichen Raum und den eigenen Raum, aber auch ein Bild für das Verhältnis zwischen der öffentlichen Meinung und dem eigenen Stellungnehmen und der eigenen Verantwortung.

             Es liegt eine tiefe Wahrheit darin, dass wir uns in unser Kämmerlein zurückziehen sollen. In Gebet, in Hinwendung, in Gespräch mit dem Heiligsten von allem: mit Jesu Vater, den wir auch Vater nennen dürfen.

             Denn dort drinnen - mag es konkret in einer Kammer sein, auf einem Betschemel, mit einem Kerzenlicht und gefalteten Händen - oder auf einem Fahrrad, in einem Auto, an einem Meeresstrand, im eigenen Bett, am Schreibtisch, das ist ganz einerlei. Jeder findet seinen eigenen Weg und seine eigene Art und Weise des Betens.

             Aber das, was das Kämmerlein bietet - wie es sich auch gestalten mag - das ist ein Mut zu leben. Ja, ich möchte das Wort Freiheit gebrauchen.

             Die Freiheit, die wir in der Begegnung mit Gott spüren können, ist wie ein Funke von Gnade. Er schenkt eine Freiheit, wo man vielleicht Lust hat, auszurufen: "Kommt nur alle Mann her!" Es schenkt eine Stärke. Einen Funken.

             Von dem man lange leben kann. Wenn Angst in allen ihren kleinen und großen Schattierungen bei uns anklopft.

             Ich behaupte nicht, dass wir als Betende mehr Qualitäten und Fähigkeiten und andere Vorteile bekämen, die uns einen privilegierten Platz im Dasein verschafften, so dass uns nichts mehr rühren oder Angst machen oder uns mutlos oder egozentrisch machen könnte. Aber ich glaube, dass wir im Gebet Funken einer Stärke erhalten. Einer Stärke und einer Macht, die absolut und unantastbar ist. Und indem wir Funken davon bekommen und Anteil daran erhalten, wird im Innern eine Freiheit geboren. Eine Freiheit, durch die die Macht, von der man umgeben ist und an der man selbst Teil hat, als relativ und veränderbar und nicht-ewig entlarvt wird. Im Vertrauen zu Gott als ewig liegt eine Möglichkeit der Freiheit gegenüber allen irdischen Mächten. Wir sahen es an Gandhi, wir sehen es bei Tutu. - Ja, jeder von uns hat seine Vorbilder.

             Aber, die Möglichkeit der Freiheit, die in der Vertiefung im Kämmerlein liegt, ergibt sich nicht automatisch. Das Beten hat keine automatischen Vorteile. Niemand von uns besitzt ein Idealkämmerlein in diesem Leben. Das Kämmerlein kann genauso gut ein Ort der Idiotie sein.

             Und mit dem Wort Idiotie meine ich einen Ort, an dem man nur sich selbst als Maßstab, als Mittel und als Ziel hat. Denn das Wort Idiot bedeutet, wie ihr vielleicht wisst, einer, der nur sich selbst hat. Das griechische Wort "idios" bedeutet "eigen, für sich allein". Und als man nach einem Wort für eine Person suchte, die in ihrer eigenen Welt lebt und nur sich selbst und ihre eigene Auffassung der Wirklichkeit als Wirklichkeit hat, da nannte man eine solche Person einen Idioten. Ein phantastisches Wort. Es gilt nicht nur von kranken Menschen, sondern ein jeder von uns wird etwas davon an sich wiedererkennen.

             Das Kämmerlein kann ohne weiteres zu einer Idiotenanstalt werden, wenn man nicht wieder auf die Straßenecke hinauskommt.

             Denn es geschieht im öffentlichen Raum, gemeinsam mit andern, an den Straßenecken, dass wir das Leben miteinander schaffen.

             Im Kämmerlein können wir uns vertiefen, so dass wir in der öffentlichen Meinung nicht zu willenlosen Spielbällen werden. Aber wir haben keine Garantie. Wir leben im öffentlichen Raum, wie alle andern, mit allen andern, unter denselben Bedingungen wie andre. Es gibt also keine Freistatt, für überhaupt irgend jemanden, wo wir nicht der Heuchelei angeklagt werden könnten.

             Welch eine Freude muss es also für uns sein, in das Kämmerlein gehen zu können, und welch eine Freiheit, von der wir einen Zipfel erlangen können. Und wie gut ist es, dass wir Straßenecken haben, ein öffentliches Leben, wo wir mit andern leben, so dass wir nicht uns selbst überlassen sind.

             Ehre sei Gott in der Höhe! Dem Schöpfer des Himmels und der Erde!

Amen

 



Pastor Inger Hjuler Bergeon
Finsens Allé 25
DK-5230 Odense
tel..: ++ 45 – 66 12 57 05

E-Mail: ihb@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier
Matthäus 6,5-13 (dänische Perikopenordnung)


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