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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 02.07.2017

Predigt zu Lukas 15:1-7, verfasst von Erika Reischle-Schedler

Liebe Gemeinde! Marlene Haushofers Roman "Die Wand" ist ein Buch,

das bei ganz unterschiedlichen Menschen Resonanz hervorruft.

Eine Frau gerät durch einen Unglücksfall in völlige Isolation -

In einem Jagdhaus im Gebirge bei Freunden eingeladen, bleibt sie

für ihr restliches Leben dort zurück, weil die Straße, die ins

Dorf und in die Zivilisation zurückführen würde, durchschnitten

wurde von einer unsichtbaren, aber metallisch harten Wand, an der

weder Mensch noch tier vorbei kommt. Die Namenlose, die nun in

ihrem Stück Natur in den Bergen hinter der Wand lebt, verfügt

über ein paar wenige Vorräte, die sie z. T. als Saatgut verwenden

kann - ein Hund, zwei Katzen, eine Kuh und ein Stierkalb laufen

ihr zu - und so lebt sie, die Städterin, nun das karge Leben der

einsamen Bergbewohnerin, muss, ob sie will oder nicht, auf allen

Komfort der Zivilisation verzichten lernen, vor allem aber auf

jegliche menschliche Ansprache und jeglichen menschlichen

Kontakt. Es ist unmöglich, die ganze Handlung hier zu erzählen,

es ist auch nicht sinnvoll. Warum ich sie andeutungsweise

erzähle, das ist eine Szene, die mich bei der Lektüre besonders

beeindruckt hat und die uns auf ihre Weise hinfährt zum heutigen

Evangelium. Da sieht, nach mehr als zwei Jahren des einsamen

Lebens, die Namenlose eines schönen, warmen, sonnigen Tages, wie

sich ihr Gesicht im Wasser des Baches spiegelt. Und sie

erschrickt maßlos - wie sieht nach all den harten Monaten ihr

Gesicht aus! Sie erkennt sich selber in diesem Spiegel nicht mehr

wieder. Aber dann rafft sie sich zusammen und sagt sich: Es wird

nach menschlichem Ermessen nie wieder einen Menschen geben, der

dieses mein Gesicht lieben wird. Was soll ich mir Sorgen machen

um die Farbe meiner Haut, um die Ausstrahlung meiner Augen, um

mein attraktives Erscheinungsbild. Ich lebe hinter der harten

metallenen Wand - und die Chance, dass jenseits dieser Wand noch

Leben, Leben, das den Namen verdient, zu finden wäre, ist über

alle Maßen gering. - Soweit die kleine Szene aus Marlene

Haushofers Roman.

 

 

Ein Mensch, der sein Leben anschaut, im Spiegel seiner

Erinnerungen - ein Mensch, der sich alles vorstellen kann, nur

das nicht mehr, dass da noch einer sein soll, der sein Gesicht

lieben könnte. Unser Gesicht, unsere Persönlichkeit, unsere

Ausstrahlung, das, was von uns nach außen dringen kann, das ist

die Außenseite unserer Seele, die der Liebe bedarf wie unser Leib

der Nahrung und der Kleidung. Und es ist die furchtbarste

Aussicht, mit der ein Mensch zu leben hat, dass es da niemanden

mehr gibt, der ihn nach allem, was gewesen, je noch oder je

wieder lieben könnte. Es ist die Hülle - und es spiegelt sich in

dieser kleinen Szene die Gewalt solcher menschlicher Erfahrung.

Die Gewalt der ungezählten verzweifelten Stunden, die Menschen zu

durchleiden haben. Ich bin nicht liebenswert, ich bin nicht mehr

liebenswert, ich bin es noch nie gewesen, habe nie erfahren, was

Urvertrauen heißt, habe nie die gute Hand einer Mutter oder eines

Vaters erlebt. Oder: Am Anfang ging alles so gut. Aber das Leben.

Es hat einen Scherbenhaufen in meiner Seele zurückgelassen. Was

soll nun noch daraus werden. Ich kann mich selbst nicht mehr

lieben, nciht mehr achten, nicht mehr wertschätzen, wie sollen es

da je andere können. Da bleibt dann allerdings nur, hinter der

metallisch harten Wand zu leben, hinter der aus künstlicher

Härte, Gleichgültigkeit und Abstumpfung. Hinter der Wand aus

Resignation, Trauer, ohnmächtiger Wut - hinter der Wand des

Todes. Und das ist ja das Schlimmste dabei, dass uns diese Wand

des Todes womöglich noch als die Wand des Lebens vorkommt. Dass

wir meinen, hinter unserer Wand der Trauer und Enttäuschung

allein liege das einzig wahre und wirkliche Leben. Marlene

Haushofers Romanheldin überlegt sich, ob sie sich mitsamt ihren

Tieren unter der Wand durchgraben und damit ihren Weg in die Welt

zurückerobern kann. Der Roman lässt offen, ob sie es tun wird.

 

 

Aber haben wir die Kräfte, uns hindurchzugraben ins Leben? Haben

wir die Gesichtskosmetik der Seele zur Hand, die aus unseren

erloschenen, verzweifelten, ratlosen, verängstigten,

enttäuschten, matten Gesichtern eine strahlende, lebensvolle

Erscheinung zaubern kann. Nein, liebe Gemeinde, machen wir uns

doch nichts vor: Wir haben diese Kosmetik nicht zur Hand. Uns

fehlt die Kraft, uns aus eigener Anstrengung heraus selbst wieder

ins sprudelnde Leben hineinzuhelfen, wenn wir uns denn von seinen

Quellen getrennt haben. Der Strom trägt Dich, sofern Du schwimmen

kannst, sofern Du es nicht kannst, wirst Du untergehen. Und was

dann?

 

 

Ich denke, dass wir uns nun schon ein Stück Weg gebahnt haben hin

zu unserem heutigen Evangelium, Luk. 15,1-7 (Textlesung):

 

 

Nein, es ist nicht wahr, dass es niemanden mehr gibt, der mein und

Dein Gesicht je noch oder wieder lieben könnte. Nein, das ist

nicht wahr. Denn niemand anders als die Gestalt Gottes, des

Gütigen selbst, verbirgt sich hinter der Person des Schafhirten,

von dem Jesu Gleichnis erzählt. Jedes Leben, das er geschaffen

hat, hat er geschaffen, um es zu lieben, um es in Ewigkeit zu

lieben. Der Abweg, der Irrweg, sieht oft genug viel verlockender

aus als der gerade, vorgeschriebene Weg: Saftigeres Gras, kein

Gedränge neben den anderen, neues Terrain, das zu erkunden so

lohnend scheint. Ein noch anspruchsvollerer Beruf, der auf jeden

Fall mehr Geld bringt - andere, interessantere Freunde - endlich

sich lösen aus starren Familienbindungen - traditionelles

Christentum ade, Kirche brauche ich nicht mehr - Leben ist

Arbeiten und Arbeiten ist Leben - und auf einmal fällt das

Kartenhaus zusammen. Der Arbeitsplatz geht verloren, die Ehe

bricht auseinander, die neuen Freundschaften tragen noch nicht,

die alten nicht mehr - zur Kirche kann ich doch nicht zurück, was

denken die Leute von mir - und zu Gott kann ich erst recht nicht

zurück. Ich muss selber sehen, wie ich fertig werde. Oder, noch

einmal anders: Ich habe mich überfordert mein ganzes Leben lang -

nun lässt mich die Gesundheit im Stich - nun bin ich nur noch ein

Wrack, ein Schatten meiner selbst - ich werde nie wieder können,

was ich einst gekonnt habe - was bin ich also noch wert in den

Augen der Menschen? Altes Eisen, verrostetes Eisen, Schrott für

die Müllhalde - Nein, aus eigener Kraft, aus eigenem Entschluss

bin ich nicht fähig, neu anzufangen. Es ist ja nicht damit getan,

Gewesenes rückgängig zu machen. das geht sowieso nicht. Gelebt

ist gelebt. Es müsste schon ein ganz neuer, ein ganz anderer, ein

sinnvollerer Anfang sein. Und je älter ein Mensch wird, umso

weniger kann er sich das vorstellen. Aber gerade das beschreibt

Jesus in seiner Gleichniserzählung. Das Schaf bleibt nicht

blutend in den Dornen hängen. Sondern der, dem es rechtmäßig

gehört, der hat ein Gespür für seine Not, und er hat das Gespür,

dass diese Not schwerer wiegt als das Geschick all der anderen 99

in diesem Moment. Er lässt die 99 zurück, denen geht es gut, die

haben alles, was sie brauchen. Und er geht zu dem Einen, dem

Verletzten, dem irre Gelaufenen, Gestrandeten. Bringt es zurück

in die Gemeinschaft der anderen. Und damit schon in die Heilung

seines Lebens. So tritt uns Menschen Gott entgegen: Ja, Du,

enttäuschter, verzweifelter Mensch, das, genau das, darfst Du,

sollst Du glauben: Dass es immer, egal, wer und wo du bist, dass es

immer mindestens einen geben wird, der Dein Gesicht lieben will.

Und zwar, ganz egal, wie Dein Gesicht gerade aussieht. Er liebt

es immer. Und nicht etwa nur, wenn es strahlt und leuchtet,

sondern gerade dann, wenn es matt und gequält aussieht, kommt er

auf Dich zu, weil er viel besser weiß als Du selbst, daß Du Deine

verfahrene Situation nicht alleine zu ändern vermagst. Das ist

die Freude, von der das Gleichnis zu berichten weiß: Eltern

erleben es bei ihren Kindern, zu deren Lebenserfahrung es gehören

muss, dass sie auf Abwege geraten. Aber wenn sie zurückkommen,

bemerken, dass das ein wenig verheißungsvoller Weg war, den sie da

eingeschlagen haben, dann freuen sich die Eltern mit ihrem Kind

wie kaum jemand sonst - hoffentlich doch! So freut sich Gott über

uns Menschen, wenn wir die Verbundenheit mit ihm, den Glauben und

die Liebe zu ihm wiedergefunden haben. Gott freut sich über den

Menschen. Gott freut sich über uns. Und alles, was wir an Freude

zum Ausdruck bringen können gegenüber Gott, kann nur ein

schwacher Abglanz der unbbeschreibbaren freude sein, die bei Gott

selber herrscht "im Himmel" wie das Gleichnis sagt.

 

 

Nun bleibt eine letzte Frage, die wir, wenn wir das möchten, in

die kommende Woche mit hineinnehmen können: Und wie steht es mit

den 99? Freuen die sich auch, wie Gott sich freut? Freuen sich

die, bei denen das Leben viel glatter verläuft, über einen

Menschen, der aus der Verzweiflung und Verfehlung zurückgefunden

hat ins Leben? Freut sich ein Ehepaar, das viele Jahre glücklich

zusammenlebt, wenn eine geschiedene Frau wieder einen Partner

findet? Oder rümpft dieses gutbürgerliche Ehepaar die Nase und

sagt: So viel Glück hat die nicht verdient, wenn sie gut gegen

ihren Mann gewesen wäre, dann wäre es nicht zur Scheidung

gekommen!" Es ist dies nur ein Beispiel für viele andere. Und es

soll nur noch einmal die dringliche Frage unterstreichen: Können

wir uns mit freuen mit dem, dessen Wunden zu heilen beginnen,

dessen Leben einen neuen Anfang genommen hat? Oder können wir das

nicht, sind wir so neidisch, dass wir dem anderen nichts Gutes

gönnen, sondern allenfalls uns selber? Die Zeitgenossen Jesu, vor

allem die gelehrten Theologen, waren Menschen, die Gutes nur

denen gönnten, die sich strikt nach den anerkannten gesetzlichen

Vorschriften verhielten. "Wer gerecht lebt, gegen den ist auch

Gott gerecht", hieß der Satz der Schultheologie, und der stand da

wie die eherne Wand in Marlene Haushofers Roman. Jesus aber

predigt Gott als den Liebenden und nicht als den auf kleinliche

Gesetzlichkeit bedachten Gott. Wenn wir es fertigbringen, uns

immer wieder einzuschwingen in die Freude Gottes - wenn wir es

fertigbringen, aktiven Anteil zu nehmen an seiner Grundgesinnung

der Liebe, der Güte und des Erbarmens, dann wird auch unser Leben

reich werden.

 

 

Ein Gebet des längst vergessenen Dichters Fritz Woike passt

hierher: "Du hast mir alle Schuld vergeben, Du machst von aller

Last mich frei. Nun gib mir, Herr, dass auch mein Leben ein

Abglanz Deiner Liebe sei. O lass mich ganz von mir genesen und

stell mich ganz in Deinen schein und lass von Dir mein ganzes

Wesen durchleuchtet und durchstrahlet sein." Amen.

 

 

Lieder 446, 183, 410, 289

 



Pfarrerin Erika Reischle-Schedler

E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

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