Liebe Gemeinde! Marlene Haushofers Roman "Die Wand" ist ein Buch,
das bei ganz unterschiedlichen Menschen Resonanz hervorruft.
Eine Frau gerät durch einen Unglücksfall in völlige Isolation -
In einem Jagdhaus im Gebirge bei Freunden eingeladen, bleibt sie
für ihr restliches Leben dort zurück, weil die Straße, die ins
Dorf und in die Zivilisation zurückführen würde, durchschnitten
wurde von einer unsichtbaren, aber metallisch harten Wand, an der
weder Mensch noch tier vorbei kommt. Die Namenlose, die nun in
ihrem Stück Natur in den Bergen hinter der Wand lebt, verfügt
über ein paar wenige Vorräte, die sie z. T. als Saatgut verwenden
kann - ein Hund, zwei Katzen, eine Kuh und ein Stierkalb laufen
ihr zu - und so lebt sie, die Städterin, nun das karge Leben der
einsamen Bergbewohnerin, muss, ob sie will oder nicht, auf allen
Komfort der Zivilisation verzichten lernen, vor allem aber auf
jegliche menschliche Ansprache und jeglichen menschlichen
Kontakt. Es ist unmöglich, die ganze Handlung hier zu erzählen,
es ist auch nicht sinnvoll. Warum ich sie andeutungsweise
erzähle, das ist eine Szene, die mich bei der Lektüre besonders
beeindruckt hat und die uns auf ihre Weise hinfährt zum heutigen
Evangelium. Da sieht, nach mehr als zwei Jahren des einsamen
Lebens, die Namenlose eines schönen, warmen, sonnigen Tages, wie
sich ihr Gesicht im Wasser des Baches spiegelt. Und sie
erschrickt maßlos - wie sieht nach all den harten Monaten ihr
Gesicht aus! Sie erkennt sich selber in diesem Spiegel nicht mehr
wieder. Aber dann rafft sie sich zusammen und sagt sich: Es wird
nach menschlichem Ermessen nie wieder einen Menschen geben, der
dieses mein Gesicht lieben wird. Was soll ich mir Sorgen machen
um die Farbe meiner Haut, um die Ausstrahlung meiner Augen, um
mein attraktives Erscheinungsbild. Ich lebe hinter der harten
metallenen Wand - und die Chance, dass jenseits dieser Wand noch
Leben, Leben, das den Namen verdient, zu finden wäre, ist über
alle Maßen gering. - Soweit die kleine Szene aus Marlene
Haushofers Roman.
Ein Mensch, der sein Leben anschaut, im Spiegel seiner
Erinnerungen - ein Mensch, der sich alles vorstellen kann, nur
das nicht mehr, dass da noch einer sein soll, der sein Gesicht
lieben könnte. Unser Gesicht, unsere Persönlichkeit, unsere
Ausstrahlung, das, was von uns nach außen dringen kann, das ist
die Außenseite unserer Seele, die der Liebe bedarf wie unser Leib
der Nahrung und der Kleidung. Und es ist die furchtbarste
Aussicht, mit der ein Mensch zu leben hat, dass es da niemanden
mehr gibt, der ihn nach allem, was gewesen, je noch oder je
wieder lieben könnte. Es ist die Hülle - und es spiegelt sich in
dieser kleinen Szene die Gewalt solcher menschlicher Erfahrung.
Die Gewalt der ungezählten verzweifelten Stunden, die Menschen zu
durchleiden haben. Ich bin nicht liebenswert, ich bin nicht mehr
liebenswert, ich bin es noch nie gewesen, habe nie erfahren, was
Urvertrauen heißt, habe nie die gute Hand einer Mutter oder eines
Vaters erlebt. Oder: Am Anfang ging alles so gut. Aber das Leben.
Es hat einen Scherbenhaufen in meiner Seele zurückgelassen. Was
soll nun noch daraus werden. Ich kann mich selbst nicht mehr
lieben, nciht mehr achten, nicht mehr wertschätzen, wie sollen es
da je andere können. Da bleibt dann allerdings nur, hinter der
metallisch harten Wand zu leben, hinter der aus künstlicher
Härte, Gleichgültigkeit und Abstumpfung. Hinter der Wand aus
Resignation, Trauer, ohnmächtiger Wut - hinter der Wand des
Todes. Und das ist ja das Schlimmste dabei, dass uns diese Wand
des Todes womöglich noch als die Wand des Lebens vorkommt. Dass
wir meinen, hinter unserer Wand der Trauer und Enttäuschung
allein liege das einzig wahre und wirkliche Leben. Marlene
Haushofers Romanheldin überlegt sich, ob sie sich mitsamt ihren
Tieren unter der Wand durchgraben und damit ihren Weg in die Welt
zurückerobern kann. Der Roman lässt offen, ob sie es tun wird.
Aber haben wir die Kräfte, uns hindurchzugraben ins Leben? Haben
wir die Gesichtskosmetik der Seele zur Hand, die aus unseren
erloschenen, verzweifelten, ratlosen, verängstigten,
enttäuschten, matten Gesichtern eine strahlende, lebensvolle
Erscheinung zaubern kann. Nein, liebe Gemeinde, machen wir uns
doch nichts vor: Wir haben diese Kosmetik nicht zur Hand. Uns
fehlt die Kraft, uns aus eigener Anstrengung heraus selbst wieder
ins sprudelnde Leben hineinzuhelfen, wenn wir uns denn von seinen
Quellen getrennt haben. Der Strom trägt Dich, sofern Du schwimmen
kannst, sofern Du es nicht kannst, wirst Du untergehen. Und was
dann?
Ich denke, dass wir uns nun schon ein Stück Weg gebahnt haben hin
zu unserem heutigen Evangelium, Luk. 15,1-7 (Textlesung):
Nein, es ist nicht wahr, dass es niemanden mehr gibt, der mein und
Dein Gesicht je noch oder wieder lieben könnte. Nein, das ist
nicht wahr. Denn niemand anders als die Gestalt Gottes, des
Gütigen selbst, verbirgt sich hinter der Person des Schafhirten,
von dem Jesu Gleichnis erzählt. Jedes Leben, das er geschaffen
hat, hat er geschaffen, um es zu lieben, um es in Ewigkeit zu
lieben. Der Abweg, der Irrweg, sieht oft genug viel verlockender
aus als der gerade, vorgeschriebene Weg: Saftigeres Gras, kein
Gedränge neben den anderen, neues Terrain, das zu erkunden so
lohnend scheint. Ein noch anspruchsvollerer Beruf, der auf jeden
Fall mehr Geld bringt - andere, interessantere Freunde - endlich
sich lösen aus starren Familienbindungen - traditionelles
Christentum ade, Kirche brauche ich nicht mehr - Leben ist
Arbeiten und Arbeiten ist Leben - und auf einmal fällt das
Kartenhaus zusammen. Der Arbeitsplatz geht verloren, die Ehe
bricht auseinander, die neuen Freundschaften tragen noch nicht,
die alten nicht mehr - zur Kirche kann ich doch nicht zurück, was
denken die Leute von mir - und zu Gott kann ich erst recht nicht
zurück. Ich muss selber sehen, wie ich fertig werde. Oder, noch
einmal anders: Ich habe mich überfordert mein ganzes Leben lang -
nun lässt mich die Gesundheit im Stich - nun bin ich nur noch ein
Wrack, ein Schatten meiner selbst - ich werde nie wieder können,
was ich einst gekonnt habe - was bin ich also noch wert in den
Augen der Menschen? Altes Eisen, verrostetes Eisen, Schrott für
die Müllhalde - Nein, aus eigener Kraft, aus eigenem Entschluss
bin ich nicht fähig, neu anzufangen. Es ist ja nicht damit getan,
Gewesenes rückgängig zu machen. das geht sowieso nicht. Gelebt
ist gelebt. Es müsste schon ein ganz neuer, ein ganz anderer, ein
sinnvollerer Anfang sein. Und je älter ein Mensch wird, umso
weniger kann er sich das vorstellen. Aber gerade das beschreibt
Jesus in seiner Gleichniserzählung. Das Schaf bleibt nicht
blutend in den Dornen hängen. Sondern der, dem es rechtmäßig
gehört, der hat ein Gespür für seine Not, und er hat das Gespür,
dass diese Not schwerer wiegt als das Geschick all der anderen 99
in diesem Moment. Er lässt die 99 zurück, denen geht es gut, die
haben alles, was sie brauchen. Und er geht zu dem Einen, dem
Verletzten, dem irre Gelaufenen, Gestrandeten. Bringt es zurück
in die Gemeinschaft der anderen. Und damit schon in die Heilung
seines Lebens. So tritt uns Menschen Gott entgegen: Ja, Du,
enttäuschter, verzweifelter Mensch, das, genau das, darfst Du,
sollst Du glauben: Dass es immer, egal, wer und wo du bist, dass es
immer mindestens einen geben wird, der Dein Gesicht lieben will.
Und zwar, ganz egal, wie Dein Gesicht gerade aussieht. Er liebt
es immer. Und nicht etwa nur, wenn es strahlt und leuchtet,
sondern gerade dann, wenn es matt und gequält aussieht, kommt er
auf Dich zu, weil er viel besser weiß als Du selbst, daß Du Deine
verfahrene Situation nicht alleine zu ändern vermagst. Das ist
die Freude, von der das Gleichnis zu berichten weiß: Eltern
erleben es bei ihren Kindern, zu deren Lebenserfahrung es gehören
muss, dass sie auf Abwege geraten. Aber wenn sie zurückkommen,
bemerken, dass das ein wenig verheißungsvoller Weg war, den sie da
eingeschlagen haben, dann freuen sich die Eltern mit ihrem Kind
wie kaum jemand sonst - hoffentlich doch! So freut sich Gott über
uns Menschen, wenn wir die Verbundenheit mit ihm, den Glauben und
die Liebe zu ihm wiedergefunden haben. Gott freut sich über den
Menschen. Gott freut sich über uns. Und alles, was wir an Freude
zum Ausdruck bringen können gegenüber Gott, kann nur ein
schwacher Abglanz der unbbeschreibbaren freude sein, die bei Gott
selber herrscht "im Himmel" wie das Gleichnis sagt.
Nun bleibt eine letzte Frage, die wir, wenn wir das möchten, in
die kommende Woche mit hineinnehmen können: Und wie steht es mit
den 99? Freuen die sich auch, wie Gott sich freut? Freuen sich
die, bei denen das Leben viel glatter verläuft, über einen
Menschen, der aus der Verzweiflung und Verfehlung zurückgefunden
hat ins Leben? Freut sich ein Ehepaar, das viele Jahre glücklich
zusammenlebt, wenn eine geschiedene Frau wieder einen Partner
findet? Oder rümpft dieses gutbürgerliche Ehepaar die Nase und
sagt: So viel Glück hat die nicht verdient, wenn sie gut gegen
ihren Mann gewesen wäre, dann wäre es nicht zur Scheidung
gekommen!" Es ist dies nur ein Beispiel für viele andere. Und es
soll nur noch einmal die dringliche Frage unterstreichen: Können
wir uns mit freuen mit dem, dessen Wunden zu heilen beginnen,
dessen Leben einen neuen Anfang genommen hat? Oder können wir das
nicht, sind wir so neidisch, dass wir dem anderen nichts Gutes
gönnen, sondern allenfalls uns selber? Die Zeitgenossen Jesu, vor
allem die gelehrten Theologen, waren Menschen, die Gutes nur
denen gönnten, die sich strikt nach den anerkannten gesetzlichen
Vorschriften verhielten. "Wer gerecht lebt, gegen den ist auch
Gott gerecht", hieß der Satz der Schultheologie, und der stand da
wie die eherne Wand in Marlene Haushofers Roman. Jesus aber
predigt Gott als den Liebenden und nicht als den auf kleinliche
Gesetzlichkeit bedachten Gott. Wenn wir es fertigbringen, uns
immer wieder einzuschwingen in die Freude Gottes - wenn wir es
fertigbringen, aktiven Anteil zu nehmen an seiner Grundgesinnung
der Liebe, der Güte und des Erbarmens, dann wird auch unser Leben
reich werden.
Ein Gebet des längst vergessenen Dichters Fritz Woike passt
hierher: "Du hast mir alle Schuld vergeben, Du machst von aller
Last mich frei. Nun gib mir, Herr, dass auch mein Leben ein
Abglanz Deiner Liebe sei. O lass mich ganz von mir genesen und
stell mich ganz in Deinen schein und lass von Dir mein ganzes
Wesen durchleuchtet und durchstrahlet sein." Amen.
Lieder 446, 183, 410, 289