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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 23.07.2017

Predigt zu Matthäus 5:20-26(dänische Perikopenordnung), verfasst von Anders Kjærsig

Wer ist mein Bruder?

Wer ist mein Nächster? Ist mein Nächster der, der mir am nächsten steht? Sind die meine Nächsten, die am anderen Ende der Welt leben? Ist mein Nachbar mein Nächster? Kann ich selbst bestimmen, wer mein Nächster sein soll? Ist mein Nächster durch Gott bestimmt? Oder ist Gott durch meinen Nächsten bestimmt?

C.V. Jørgensen schreibt in einem seiner Lieder:

Ich ging hinaus

auf die Terrasse mit einer Zigarette

ganz viel näher bei Gott

in meinem besten Sonntagsanzug.

 

Ich grüßte meinen Nachbarn

der höflich wieder grüßte

und sie ist mein bester Freund

 

Bei Jørgensen ist mein Nächster, der mir am nächsten steht. Man soll gut sein zu denen, die einem am nächsten sind. Aber wie wird man ein guter Mensch?

 

Benny Andersen hat einmal ein Gedicht geschrieben über das Gute. Es lautet so:

 

„Ich habe versucht, gut zu sein. Das ist sehr anstrengend. Aber durch tägliche Übungen habe ich es nun schon auf eine Stunde gebracht, wenn ich nicht gestört werde. Ich sitze ganz allein mit der Uhr vor mir, breite immer wieder die Arme aus. Da ist alles in Ordnung. Ich bin eigentlich am besten, wenn ich allein bin“.

 

Wenn Benny Andersen witzig ist, so deshalb, weil er sich natürlich darüber im Klaren ist, dass das Gute nicht etwas ist, dass man allein tun kann, sondern dass sich das Gute zwischen Menschen entfalten muss und nicht in dem einzelnen Menschen. Mein Brudermist kein Abstraktum.

Die dänische Showgruppe Wüstensöhne behauptet, dass die drei grundlegenden Fragen der Dänen dieses sind: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Und was bekomme ich dafür? Besonders die letzte Frage kann man ja hier stellen. Was habe ich davon, ein guter Mensch zu sein? Oder war habe ich davon, meinen Nächsten zu lieben? Oder wer ist mein Bruder?

 

Vor einigen Jahren nahm der damalige Bischof Jan Lindhardt an einem Radioprogramm teil, in dem es um Untreue ging. In dem Programm meinte eine Frau, die einer anderen Frau den Mann weggenommen hatte, es sei für sie irrelevant, an die Situation der anderen Frau zu denken: „Man kann ja nur von seiner eigenen Situation ausgehen“, sagte sie. Vergeblich versuchte Lindhardt zu erklären, dass man vielleicht auch anders denken könnte – nämlich nicht vorherein andere Menschen weg denken soll.

 

Der Kulturkritiker Henning Jensen hat ein Buch geschrieben mit dem treffenden Titel: Der ordentliche Mensch. Hier zeigt er in überzeugender Weise, dass seinen Nächsten statt sich selbst zu lieben in der Tat einen größeren Bekanntenkreis ergibt und einen Menschen anständiger macht. Es gibt mit anderen Worten keine Entschuldigung dafür, nicht seinen Nächsten mit zu bedenken, wenn man etwas tut. Bruder – ich sollte mit dir sein.

 

Aber wer ist mein Nächster? Die Erzählung dieses Sonntags ist eigenartig, weil der Bruder immer der Fremde ist. Das andere ist er, was nicht selbstverständlich ist. Das ist in der Tat bedenkenswert. Ich glaube, es liegt eine Pointe darin, dass da etwas Fremdes und Unkenntliches in der Figur ist. Wir werden von etwas getragen, das wir nicht kennen. Heimliche Kräfte tragen uns durch das Leben. Eine freundliche Großmutter oder ein Kindermädchen haben uns einmal getragen, als wir klein waren. Ein Bruder half uns – oder eine Schwester.

 

Das bedeutet, dass wir jederzeit davon abhängig sind, dass da ein Nächster ist, der sich unser annimmt. Und das kann man ja mit ganz verschiedenem Ergebnis tun. Søren Kierkegaard reflektierte einmal über dieses Problem der Verschiedenheit der Hilfe. Er schreibt – ich zitiere nach meinem Gedächtnis:

 

In Dänemark kümmern sich die Familien und das Wohl und Wehe der Alten, schreibt er, aber er hat auch von einem fremden Volk gehört, wo man den Männern und Frauen den Kopf abschlug, wenn sie das Rentenalter erreichten – dann starben sie nämlich nicht am Alter. Ironisch – nicht interessant? Beides geschah in bester Absicht, auch wenn das Vorgehen sehr verschieden ist. Wir sterben daran, dass wir leben – keiner kommt da lebendig heraus. Gott sei mit uns. In der christlichen Kirche ist glücklicherweise der „Andere“, der Bruder zum Leitstern geworden. Deshalb hatte das Reichskrankenhaus in Kopenhagen viele Jahre auch ein Bild des barmherzigen Samariters über dem Haupteingang hängen.

 

Und nun zum Schluss:

 

Wenn wir einmal vor dem Thron Gottes stehen werden, glaube ich nicht, dass unsere eigene Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit am schwersten wiegt. Ob wir unser Vermögen dem Roten Kreuz, politischen Parteien oder der diakonischen Arbeit gegeben haben, das ist ja schön und gut, aber das ist nicht Nächstenliebe. Wenn man der Bibel glauben soll, legt Gott größeres Gewicht darauf, ob wir treu waren zu den konkreten Menschen, mit denen uns das Schicksal und das Leben zusammengebracht hat: dem Nachbarn, der Ehefrau, der Partnerin, den Kindern, Kollegen, dem Bruder und dem Freund. Oder auch nur dem Menschen, mit dem man zufällig ein Zugabteil teilte.

 

Es gibt eine Anekdote von einem Alkoholiker, der wankend auf der Straße einem Pastoren begegnet, der sagt: „Was soll der liebe Gott denn am Jüngsten Gericht zu so einem sag en?“ Der Mann brummt: „Naja, er wird sich schon etwas einfallen lassen“. Und das tut er ja auch – glücklicherweise. Amen.



Pastor Anders Kjærsig
DK- 5000 Odense C
E-Mail: anderskjærsig(at)hotmail.com

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