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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Tag des Jakobus des Älteren, 25.07.2017

Glaube und Gemeinde
Predigt zu Matthäus 20:20-23, verfasst von Matthias Wolfes

Glaube und Gemeinde

 

„Da trat zu ihm die Mutter der Kinder des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und bat etwas von ihm. Und er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sprach zu ihm: Laß diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken. Aber Jesus antwortete und sprach: Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Jawohl. Und er sprach zu ihnen: Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, sollt ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben steht mir nicht zu, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

 

unser Text ist die klassische neutestamentliche Passage zum Thema „Herrschen und Dienen in der Gemeinde“. Von vornherein muß klar sein, daß die Gemeinde kein herrschaftsfreier Raum ist. Will sie Bestand haben, bedarf sie einer Ordnung, und die Bestandteile der Ordnung erstrecken sich auch auf die wechselseitige Zuordnung der einzelnen Mitglieder. Wer sich einer christlichen Gemeinde anschließen möchte und das in der Erwartung tut, daß er hier Verhältnisse vorfindet, die frei sind von allen Momenten des Bestimmens und des Bestimmtwerdens, der geht fehl und wird wahrscheinlich eine Enttäuschung erleben.

Nun steht allerdings die Sache zum anderen so, daß in der Gemeinde bestimmte Vorgaben oder auch Prinzipien wirksam sind, die sämtliche Herrschafts- und Unterordnungsmotive in ein eigenartiges Licht rücken. Wie die Gemeinde um ihres dauerhaften Bestandes willen organisiert ist, ist keine Angelegenheit mit Selbstzweckcharakter. In der protestantischen Welt existiert die Gemeinde, ebenso wie die Kirche im ganzen, nicht um ihrer selbst willen. Nicht sie ist der Zielpunkt aller Maßnahmen zur Gewährleistung von Dauer. Die gemeindliche Ordnung ist immer nur Mittel zum Zweck. Der Zweck aber ist es, die Botschaft des gütigen Gottes auszurichten. Diese Ausrichtung erfolgt gemeinschaftlich, in der Darstellung des christlichen Lebens, so wie es der Einzelne lebt, so wie es aber auch die Versammlung der Einzelnen lebt, und zwar über die Generationen, das heißt über die Zeiten hinweg.

 

 

I.

 

Unser Text gibt uns Anlaß genug, einmal über die Rolle von Gemeinde und Kirche im Glaubensleben nachzudenken.

Das evangelische Christentum geht von der Vorstellung aus, daß niemand sich selbst finden kann, ohne sich in sich zu suchen. Das macht auch seinen Gegensatz zu allen Versionen der mystischen Selbst- und Gottessuche aus. Jede Form der Selbstpreisgabe etwa an eine religiöse Organisation kann nur zum geraden Gegenteil von Freiheit führen. Sie führen zu Unfreiheit und sklavischer Abhängigkeit.

Die Kirche ist nach evangelischer Auffassung keine Protektoratsmacht. Sie ist die Gemeinschaft der Freien, der als Freie „Herausgerufenen“, und deshalb gehört jener Appell zu Eigenständigkeit und Selbstverantwortung auch in den Kern ihrer Glaubensdarstellung. „Verantwortung“ ist hier das entscheidende Stichwort. Die Zeiten eingeschränkter Verantwortung des Glaubenden für seinen Glauben sind in der evangelischen Kirche vorbei, und wo sich entsprechende Bestrebungen wieder regen, ist das nichts anderes als ein Zuwiderhandeln gegen das eigene Prinzip.

Es ist das protestantische Prinzip selbst, die Einsicht in der grundlegende Bedeutung der Glaubensgewißheit für alles Sprechen und Darstellen des Glaubens, das sich hierin durchgesetzt hat, nicht aber eine Schwächung des protestantischen Kirchengedankens. Kirche ist die evangelische Kirche gerade als eine Arbeitsgemeinschaft zur Stärkung dieser Gewißheit. Sie aber ist stets die Gewißheit des einzelnen Glaubenden.

Die Arbeit der Kirche wie auch des Glaubenden ist darauf gerichtet, alles Protektive abzubauen, und das kann dann eben auch heißen, der Phantasie, der Einbildungskraft, der ganzen individuellen Eigenprägung des Glaubenslebens zu mehr Mut und Kraft zu verhelfen. Wer von hier aus „eigene Wege“ geht, entfernt sich nicht von der Gemeinschaft. Er handelt aus dem ihm eigenen Glaubensbewußtsein heraus und realisiert sich als derjenige, der er aus und in der Beziehung zu Gott ist.

Das Gemeinsame ist eben dann gerade das Bewußtsein, in diesem je eigenen Erleben der Wirklichkeit Gottes aneinander gewiesen zu sein als an die, die ihrerseits sich der Treue Gottes gewiß sind. Das bedeutet es, wenn von „Stärkung“ des Glaubens die Rede ist, der vornehmlichsten Aufgabe jeder gemeinschaftlichen Verehrung Gottes und Bezeugung des Glaubens an ihn.

 

 

II.

 

Nun reicht aber die Kraft kirchlicher Glaubensprägungen noch darüber hinaus, indem etwa die ganze Gestaltung des Gottesdienstes wiederum eine Art Rahmen aufspannt. Die Teilnahme an der Feier weckt oder stärkt daher nicht so sehr das religiöse Empfinden, sondern lenkt es in bestimmte Bahnen und gibt die Richtung vor.

Dies ist der Ort, an dem von der richtungsweisenden Kraft die Rede sein soll, die innerhalb der Glaubensgemeinschaft von der Gemeinschaft auf den Einzelnen ausgeht. So vielschichtig und in gewisser Hinsicht auch problematisch das ist, so sehr gehört es aber doch zur Realität des Glaubenslebens, und man kann dem nur gerecht werden, indem man (etwa als Geistlicher) um so verantwortungsvoller die Gestaltung vornimmt. Vor allem aber soll man sich des Umstandes selbst bewußt sein.

Wie die Darstellung des Glaubens im kirchlichen Horizont erfolgt, ist von außerordentlicher Bedeutung für die Wirklichkeit des Glaubens. Dies ist die Sachwalterschaft der Kirche und der einzelnen Gemeinde, zugleich aber auch die eigene Verantwortung, die sie tragen muß. Zum anderen hängt die Reichweite des Interaktions- und Kommunikationsraumes, den Gemeinde und Kirche bieten, an der Wahrnehmung dieser Verantwortung. „Gemeinde“ und „Gemeinschaft“ sind sie im eigentlichen Sinne nur, wenn sie ihre Aufgabe in der Achtung der Erfahrungswelt des einzelnen Glaubenden wahrnehmen und für diese eben Orte sind, an denen sie mit dem Eigenen in eine Beziehung zu den Glaubenswelten der anderen treten können.

Mit nicht geringerem Gewicht in Rechnung zu stellen sind die individuellen biographischen und lebenswirklichen Faktoren. Ihr Einwirken auf die Art und Weise des religiösen Erlebens macht es wiederum äußerst dringlich, daß der bewußt Einwirkende sich seine Grenzen vor Augen stellt. Die Integrität des Glaubenden muß auch für ihn unantastbar sein. Es sind eben seine Erfahrungen, die der einzelne macht; er selbst ist es, der sich in ihnen in seiner Beziehung zu und mit Gott realisiert.

 

 

III.

 

Insofern sind alle „Regeln“, nach denen sich das Erfahrungshafte, Spontane des Glaubens in ein Ganzes fügt, nicht Vorgaben, anhand derer sie bemessen und dann gleichsam akzeptiert oder als Irrläufer der Phantasie zurückgewiesen werden würden. Hier ist nicht der Ort für jenes richtungsweisende Moment; es ist ein Mißverständnis, wenn man von einer solchen Regelhaftigkeit Grund und Notwendigkeit einer „kirchlichen Dogmatik“ herleiten wollte.

Die „Regeln“ sind vielmehr Repräsentanten eines bestehenden Rahmens. Auf ihn kommt es an; in ihm schlägt sich die ganze Lebenswelt der Einzelnen nieder. In diesen Regeln kommt zur Geltung, wer ich bin und was es ist, das mir als diesem eigenen gerade diese Erfahrung hat widerfahren lassen. Innerhalb des Rahmens oder Horizontes, dieser jeder Erfahrung vorhergehenden Sichtweise, aus der heraus mein Glaube lebt und die er selbst ist, fügen sich dann die Einzelmomente des Glaubens, seine besonderen Momente und das bestehende Ganze der Wahrnehmung von Gottes Wirklichkeit ineinander. Sie fügen sich zusammen oder ordnen sich aneinander, so daß eben jenes Ganze einerseits besteht, andererseits aber immer auch sich bewegt und lebt.

Der freie Austausch religiöser Vorstellungen und Überzeugungen ist der wesentliche Prozeß, in dem das religiöse Leben stattfindet. Aber daß es nicht dabei bleiben kann, wenn jeder bloß seine Meinungen vorbringt und was er sich für sich selbst, und sei es in einzelnen Momenten, vorstellt, ist offenkundig. Es bedarf der einigermaßen festen Form, in der solche Vorbringungen auf Anerkennung rechnen dürfen, eines Rahmens, in dem und aus dem sie gesprochen werden, und eines Ortes, wo diejenigen sind, an die wir uns richten können. Dieser Raum ist für uns die Gemeinde, die Kirche.

Diese beiden Stichworte „Gemeinde“ und „feste Form“ sind wichtig. Nun darf man sich allerdings, wenn es um die Gemeinde geht, keiner Täuschung hingeben. Die Gefahr, das zu tun, ja sogar eine gewisse Neigung dazu ist im Protestantismus stark ausgeprägt. Besonders in seinen modernen Versionen, die vielfach auf ganz selbstverständliche Weise einen kirchen- und institutionenkritischen Zug aufweisen, genießt „die Gemeinde“ einen Sympathievorschuß. Das ist verständlich, ist doch die Gemeinde der Ort, an dem das gemeinsame religiöse Leben sich ereignet, in dem die Überlieferung und Weiterentwicklung der Glaubenssprache und seiner verschiedenen Formen geschieht und an den der Glaube daher tatsächlich in hohem Maße gebunden bleibt.

Der Glaube ereignet sich in einem kommunikativen Kontext. Aus ihm ist er hervorgegangen, und in ihm besteht er. Insofern ist der Gemeindehintergrund nicht nur eine Möglichkeitsbedingung des Glaubens, sondern auch der lebenspraktische Boden, auf dem er stattfindet.

Man weiß, daß es dem Glaubenden nützt, sich mit seinem Glauben nicht zu vereinzeln. Wenn es sich nicht nur um ein Kreisen in sich selbst handeln soll, dann ist der Glaube aus sich selbst heraus angewiesen auf das Zusammensein mit Anderen. Solches Zusammensein macht ihn lebendig, es führt ihn weiter und so auch zu sich. Zu sich selbst gelangt man nur im Ungang mit Anderen.

 

Amen.



Pfarrer Dr.Dr. Matthias Wolfes
Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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